Hans Alfred Groß

Mit Lebensfreude und Mitgefühl

Wilhelm-Blos-Straße 25

Aus dem Buch «Jüdisches Leben in Ludwigsburg» von Joachim Hahn, aus den Erzählungen der Halbgeschwister, aus vorhandenen Schriftstücken über und von Hans Alfred Groß selbst entsteht das Bild eines humorvollen, lebensdurstigen und aufgeschlossenen jungen Mannes, dessen Lebensraum planvoll eingeengt und schließlich zerstört wurde.

Am 22. Dezember 1921 wurde Hans Alfred in Mannheim geboren. Seine Eltern stammten beide aus jüdischen Familien. Als der Vater starb, war Hans etwa vier Jahre alt. Die Mutter wurde vom Vormundschaftsgericht als Vormund eingesetzt. Sie verheiratete sich nach sechs Jahren wieder. Der im Bankfach tätige Stiefvater von Hans Alfred, Franz Philipp Brucker, war katholisch. In Mannheim wurden die Halbgeschwister Dieter 1932 und Lore 1933 geboren. 1935 erfolgte dann der Umzug der Familie nach Ludwigsburg in die Franz-Seldte-Straße 25 1Franz Seldte, Begründer und Bundesführer des Wehrverbands Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, von 1933 – 45 Reichsarbeitsminister. Nach dem Krieg wurde die Straße in Wilhelm-Blos-Str. umbenannt. Wilhelm Blos war ein Journalist, Historiker und Schriftsteller. Er war Mitglied des Reichstags für die SPD und von 1918  bis 1920 erster Staatspräsident des Volksstaats Württemberg.. Zwei weitere hier geborene Halbgeschwister sind bereits im Säuglings- beziehungsweise im jugendlichen Alter gestorben.

Im Frühjahr 1936  begann Hans in Ludwigsburg eine Flaschner- («Drahtler-»)lehre bei der Firma Carl Weiss und Cie., Draht- und Metallwarenfabrik in der Alleenstr. 46, die in Adolf-Hitler-Straße umbenannt worden war. Im November 1938 musste er seine Lehre trotz guter Leistungen in Schule und Betrieb abbrechen, da er als Jude keine Lehre mehr machen durfte. Fortan durfte er nur noch als Hilfsarbeiter beschäftigt werden.1940 entschloss er sich, den Haushalt seiner jüdischen Mutter und des nicht-jüdischen Stiefvaters (in der Sprechweise der Nationalsozialisten entsprach dies einer «privilegierten Mischehe»2Die jüdischen Ehepartner aus privilegierten Ehen waren von der Pflicht zum Tragen des gelben Judenstern ausgenommen. Sie wurden auch vorerst von den Deportationen zurückgestellt) zu verlassen, um seine Familie als «Voll-Jude» nicht zu gefährden. Er ging nach Cannstatt und bekam Arbeit als Hilfsarbeiter bei einer Gärtnerei und einer Metallfabrik. In Stuttgart – Bad Cannstatt wohnte er zuletzt in der Zieglergasse 1 bei den Geschwistern Buxbaum, die eine koschere Metzgerei betrieben. Über den Zwang zum Tragen des «Judensternes» ab Juli 1941 und die ersten Erfahrungen mit dieser einschneidenden Diskriminierungsmaßnahme berichtet er aus der Sicht eines aufgeweckten jungen Mannes sehr anschaulich und durchaus auch humorvoll in einem Brief an die Eltern vom 19. Juli 1941:

«Liebe Eltern! Soeben bin ich vom Geschäft heimgekommen und will Euch gleich meinen ersten Tag mit dem Orden schildern. (…) Ich habe Glück gehabt, da gleich eine Tram kam. (…) Mit dem Besteigen meiner Wenigkeit in den Wagen wurden sämtliche Gespräche wie auf Kommando abgebrochen und alle Blicke fielen auf meine Heldenbrust. Ich garantiere, dass Elefantenzwillinge (falls es welche gibt) nicht ärger bestaunt worden sind als ich. (…) Von der Haltestelle zum Geschäft traf ich ein paar Schulkinder. Wie die an mir vorbei waren, hörte ich sie sagen: ‹etzet muescht mir doch die 10 Pfennig gäbe, des ischt doch en Jud gwä!›

Besuche zu Haus konnten nur noch selten unternommen werden – weil die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel für Juden immer stärker erschwert wurde, war zumeist ein langer Fußmarsch notwendig.

Im November 1941 wurde Hans im Zuge der großen Juden-Verhaftungsaktion in Württemberg auf dem Killesberg in Stuttgart mit dem Ziel der Deportation nach Osten inhaftiert. Am 1. Dezember 1941 erfolgte die Deportation über Glogau, Posen nach Riga. Von dort aus kam er zur Zwangsarbeit auf ein SS-Gut, später dann ins Ghetto in Riga zu einem Arbeitskommando; schließlich erfolgte Inhaftierung im Konzentrationslager Stutthof, dann Buchenwald.

Von dort aus wurde er auch eingesetzt in einem Arbeitskommando im Braunkohlen-Benzinwerk BRABAG in Tröglitz. Vom KZ Buchenwald aus erfolgte im April 1945 die Evakuierung der Häftlinge in Richtung Tschechoslowakei (Theresienstadt). An der tschechischen Grenze in der Nähe des Bahnhofs Reitzenhain wurde die Lokomotive  des Zugs den Berichten zufolge durch amerikanische Tiefflieger unter Beschuss genommen. Als Hans mit den anderen Häftlingen aus dem Waggon sprang, sei er von einem SS-Mann erschossen worden. Der Todeszeitpunkt wurde später amtlich auf den 15. April 1945 festgelegt.

Über diese letzte Lebensphase legt ein eindrücklicher Bericht von Mithäftling Harry Kahn Zeugnis ab. Weitere kleine schriftliche Lebenszeichen von Hans existieren noch: Karten oder Kurzmitteilungen, geschrieben vor dem Abtransport aus Stuttgart, aus Glogau, aus Buchenwald, in denen er versucht, seinen Eltern die Sorgen um ihn zu mindern Die Familie überlebte in Ludwigsburg unter entsprechenden Erschwernissen. Der Stiefvater starb 1959, die Mutter  1964. Die Halbgeschwister Lore und Dieter sind noch am Leben. Auch ihnen verdanke ich diese Informationen.

Nachtrag: Dieter starb 2021

Recherche und Bericht von Friedhelm Buschbeck, 2009, ergänzt von Regina Boger 2023

 

Gedenkfeier 2022 mit den heutigen Besitzern des Hauses und Nachbarn

Fotomontage oben: Gebäude Wilhelm-Blos-Straße 25 im Jahr 2009, Portrait Hans Alfred Groß aus Familienbesitz