Jeanette Kahn

Mord an der verzweifelten Damenschneiderin

Eberhardstraße 27

Jeanette Kahn wurde am 17. November 1870 als erstes von neun Kindern des jüdischen Ehepaares Fanny und Daniel Kahn geboren. Sie ist begabt und kann, da die Familie zunächst wohlhabend ist, die höhere Töchterschule besuchen.
Dass die finanzielle Situation der Familie sich dann drastisch verschlechtert, belastet Jeanette sehr, auch weil sie nun zum Lebensunterhalt der Familie beitragen muss: In der Wohnung ihrer Eltern in der Eberhardstraße 27 eröffenet sie 1894 ein Atelier als Damenschneiderin.
Ihr psychischer Zustand ändert sich wesentlich. Sie wird den damaligen Angaben zufolge trübsinnig und leidet unter Schlaflosigkeit. Ihre häufigen und heftigen Tobsuchtsanfälle veranlassen ihren Arzt, sie im Oktober 1889 in die Heil- und Pflegeanstalt Esslingen-Kennenburg einzuweisen.
Im Aufnahmeprotokoll wird sie als zierlich gebaute junge Frau von mittlerer Größe beschrieben. Sie sei manisch erregt, in permanenter psychischer und motorischer Unruhe und rede wirr daher. In ihrer Zerstörungssucht zerreiße sie Betten und Kleider.
Ihre depressiven, manischen Zustände bestimmen von nun an ihr Leben. In immer kürzeren Abständen lebt sie zeitweise in Heil- und Pflegeanstalten: zunächst in Winnental und dann in Göppingen, wo sie den Unterlagen zufolge fürsorglich und einfühlsam betreut wird.
Auf Wunsch der Angehörigen wird sie 1917 in die Staatliche Heilanstalt Schussenried aufgenommen, wo sie die nächsten 23 Jahre verbringt. Am 9. Juli 1940 wird die Siebzigjährige Opfer der nationalsozialistischen Krankenmord-Aktion. Sie wird mit einem der berüchtigten grauen Busse mit 45 weiteren Patienten in die Tötungsanstalt Grafeneck transportiert, wo sie noch am selben Tag in der Gaskammer ermordet wird.

andreas nothardt