Adolf Kehrer

Als könnten Menschenrechte krank werden

Hermann-Wißmann-Straße 19

Adolf Kehrer wurde am 17. März 1883 im damals noch selbstständigen Eglosheim geboren. Er arbeitete bei der Eisenbahn als Zugführer. Kehrer war mit der Neckarweihingerin Emma, geborene Hirsch, verheiratet. Das Ehepaar hatte drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter.

In den 1930er-Jahren erkrankte Adolf Kehrer, und seit Dezember 1933 lebte er in der Heilanstalt Weinsberg. Bei der Aufnahme war er 50 Jahre alt. Im Rahmen der «Euthanasie»-Aktion «T4» wurde Adolf Kehrer am 16. Juli 1940 mit weiteren Weinsberger Patienten auf die Schwäbische Alb gebracht und am selben Tag in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet. Er war verdienstvoller Erster-Weltkrieg-Soldat, aber auch das rettete ihn nicht. Adolf Kehrer wurde nur 57 Jahre alt.

Damit der Sterbeort Grafeneck bei Münsingen in den Heimatortschaften der Opfer nicht ins Gerede kam, wurden viele Sterbeurkunden gefälscht. Bei Adolf Kehrer stand: Anstalt Sonnenstein in Pirna bei Dresden. Das Sterbedatum war auf den 29. Juli 1940 datiert.

Danach bekamen die Angehörigen einen sogenannten «Trostbrief», der völlig verlogen war. Es stimmte nicht der Ort, das Datum, die Todesursache und ganz gewiss nicht das Bedauern über die plötzliche Krankheit des Verstorbenen. So wurde der Mord vertuscht.

In Weinsberg gibt es keine Krankenakte über Adolf Kehrer, auch nicht in Grafeneck. Sie wurde nach dem Tod des Patienten vernichtet. Im Staatsarchiv Ludwigsburg befindet sich sein Aufnahmeblatt von 1933, auf dem am 16. Juli 1940 vermerkt ist: ungeheilt verlegt nach unbekannt. Dass es sich um keine reguläre Verlegung handelt, ist daran zu erkennen, dass kein neuer Aufnahmeort angegeben wurde. Alle Euthanasieopfer in Württemberg wurden nach dem gleichen Schema eingetragen – und alle im Jahr 1940.

Die Planer dieser Tötungsbürokratie saßen in Berlin, in der Tiergartenstraße 4, daher die Bezeichnung «T4». Dort entschieden über 300 Beamte und Angestellte am Schreibtisch über Leben und Tod der Patienten, ohne sie je gesehen zu haben. Die Leiter der Heilanstalten hatten kein Mitspracherecht und kein Vetorecht.

Angekündigt wurden die «Verlegungen» jeweils durch einen Erlass des Württembergischen Innenministeriums, der folgenden Wortlaut hatte: «Unter Bezugnahme auf meinen Runderlass vom 23. November 1939 ordne ich die Verlegung der aufgeführten Kranken aus Ihrer Anstalt an. Die Abholung der Kranken erfolgt durch die Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH. Der Transport ist von der Abgabeanstalt vorzubereiten; unruhige Kranke sind mit entsprechenden Mitteln für einen mehrstündigen Transport vorzubehandeln. Die Kranken sind soweit möglich, in eigener Kleidung zu übergeben. Privateigentum kann bis zum Gewicht von 10 KG mitgegeben werden. Die Krankenakten sind dem Transportleiter auszuhändigen. gez. Dr. Stähle.» – Kein Wort über den neuen Aufenthaltsort und den Grund der Verlegung stand in diesem Schreiben.

Möglichst unauffällig sollte alles vor sich gehen. Denn was auf der Höhe über dem Lautertal hinter Bretterzaun und Stacheldraht geschah, von Hunden bewacht, war so grausam, dass es zur «Geheimen Reichssache» erklärt wurde.

Schloss Grafeneck – bislang ein Heim für «krüppelhafte Männer» – war im Herbst 1939 beschlagnahmt und in Windeseile umgebaut worden. Im Januar 1940 traf bereits der erste Transport ein. Dort, wo bislang Behinderte Pflege bekamen, ermordete man sie. Nicht im Schloss – da wohnte das Personal. Ein Schuppen daneben war zur Gaskammer umgebaut worden. Nur wenige Meter vom Vergasungsort entfernt richtete man ein Krematorium ein.

Die Kranken wurden aus ihren Heimen mit den berüchtigten grauen Autobussen abtransportiert. Die Fenster der Fahrzeuge waren bis oben grau gestrichen, damit niemand hinaus und keiner hinein sehen konnte. Meistens täuschte man den Patienten einen Ausflug vor. Vor der Abfahrt wurde mit Tintenstift eine Zahl auf den Rücken oder Arm der Reisenden geschrieben. Diese Ziffern standen auch auf der Krankenakte und später auf der Urne.

Kam ein Transport in Grafeneck an, wurden die Kranken in einer Baracke ausgezogen, gemessen und begutachtet. Danach führte der Weg in die Gaskammer – angeblich ein Duschraum, der 75 Personen fassen konnte. War die Tür verriegelt, strömte Kohlenmonoxid-Gas herein. Nach 20 Minuten war alles Leben in der Kammer erloschen. Danach wurden die Toten verbrannt. Tag und Nacht rauchten die Schornsteine.

Das blieb der Bevölkerung nicht verborgen. Die Leute drohten mit Sätzen: «Halt den Mund, sonst gehst auch den Kamin hoch!» oder «Du kommst noch mit den grauen Wagen fort!» Wenn im Eisenbahnzug, der nach Münsingen fuhr, das Schloss Grafeneck ins Blickfeld kam, verstummten die Gespräche und die Leute schauten wie gebannt hinauf zum Schloss.

Von Januar bis Dezember 1940 wurden in Grafeneck laut neuester Forschung 10.824 Menschen getötet. Danach wurde die Vernichtungsanstalt geschlossen und das Personal nach Hadamar in Hessen versetzt. Dort gingen die Krankenmorde unvermindert weiter. Später kamen weitere Tötungsanstalten dazu, insgesamt waren es sechs.

Als «Anstalt A» war Grafeneck Modell für den systematischen Mord an Behinderten. Im gesamtem war die später so genannte «Aktion T4» die Generalprobe dafür, unerwünschte Menschengruppen zu vernichten. Das selbe Personal baute später die großen Vernichtungslager in Polen.

Die Krankenmorde zeigen die menschenverachtende Politik und Ideologie des NS-Regimes und seiner Verantwortlichen. Sie töteten, weil sie Nahrungsmittel sparen wollten, Platz für Lazarette benötigten und weil sie sich von der Ermordung der Kranken eine Gesundung des «Volkskörpers» versprachen. Die Opfer bezeichneten sie als «unwertes Leben», «seelenlose Menschenhülsen» oder «unnütze Esser».

Im August 1941 endeten diese Gas-Morde; der Russlandfeldzug hatte begonnen und es musste die Loyalität von Bevölkerung und Wehrmacht sichergestellt werden. Nach der zentral gelenkten «Euthanasie»-Aktion folgte eine dezentrale, in der bis 1945 in einer Vielzahl von Anstalten weiter gemordet wurde, die «wilde Euthanasie». Insgesamt starben in Deutschland mehr als 100.000 kranke Menschen.

Heute ist Grafeneck für geistig Behinderte und psychisch Kranke wieder ein Ort des Lebens. Auf dem Rasen vor dem Eingang und auf den Wegen herrscht ein vielfältiges Treiben, denn nach dem Krieg wurde Grafeneck wieder zum Pflegeheim.

Lange Zeit wurden die Gräuel der NS-Zeit verdrängt. Erst in den 1960er-Jahren entstand beim Grafenecker Friedhof eine kleine Gedenkstätte. Bis 1982 sollte es dauern, ehe auch eine Tafel an die Opfer erinnerte.

Heute gibt es in Grafeneck, wie auch in den anderen Todesanstalten, ein sehenswertes Dokumentationszentrum und auf dem kleinen Friedhof eine eindrucksvolle Gedenkstätte mit einem Namensbuch. Tausende Namen sind dort bereits registriert und viele Schicksale aufgearbeitet.

Dieser Stolperstein würdigt Adolf Kehrer. Nur 10 x 10 cm misst der Stein, aber es geht eine große Wirkung von ihm aus. Sie sollen – natürlich nur symbolisch – über ihn stolpern, innehalten, lesen, nachdenken – und vielleicht wird dann aus dieser kleinen Aktion auch mehr.

Karin Kohler

Fotomontage oben: Gebäude Hermann-Wißmann-Straße 2009,
Portrait Adolf Kehrer aus Privatbesitz