Jenny Henle

Über Ludwigsburg in den Tod

Myliusstraße 6/1

Jenny Henle kommt am 19. April 1894 als Jenny Weil in Laupheim zur Welt. Die jüdische Gemeinde der Stadt ist groß, ihr Vater Hermann Weil ist Kaufmann und handelt mit Branntwein und Zigarren. Das Grab ihrer Mutter Fanny Weil ist noch heute auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim zu finden.
Sie heiratet Leopold Henle, Jahrgang 1877. Der kämpft im Ersten Weltkrieg für das deutsche Vaterland. Das gemeinsame Leben findet in der Heimat von Leopold Henle, in dem kleinen Ort Lehrensteinsfeld bei Heilbronn statt. Auch dort gibt es eine große und wohlhabende jüdische Gemeinde. Leopold hat in Lehrensteinsfeld eine eigene Gaststätte, er ist Viehhändler und besitzt ein großes Stück Land. Er stellt sogar eigenen Wein her. In der jüdischen Gemeinde ist er ein angesehener Mann. Das jüdische Frauenbad von Lehrensteinsfeld befindet sich auf einem Grundstück der Henles. Ihr Wohnhaus ist zweistöckig und hat sieben Zimmer. Das Leben des Ehepaars dürfte also ganz gut gewesen sein – bis zur Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933.
Spätestens ab 1936 gehen auch im kleinen Lehrensteinsfeld die Geschäfte für die Menschen jüdischen Glaubens schlechter. 1937 müssen die Henles ihren Viehhandel einstellen. 1938 die Gaststätte. Im gleichen Jahr wird Leopold Henle ins „Braune Haus“ nach Heilbronn geladen und dort von den Nazis schwer misshandelt. Die Grundstücke der Henles werden weit unter Wert verkauft und „arisiert“. Als „Judenvermögensabgabe“ muss Leopold Henle 4.000 Reichsmark bezahlen. 1939 wird die jüdische Gemeinde Lehrensteinsfeld aufgelöst.
Die Henles versuchen offenbar noch, nach Palästina auszuwandern, dort lebt seit 1938 der Sohn Leopolds aus erster Ehe, die Versuche scheitern aber. Ihre gemeinsame Tochter Flora (Jahrgang 1920) wandert 1939 nach England und von dort 1940 nach Palästina aus. In der Reichspogromnacht verwüsten SA-Mitglieder das Wohnhaus der Henles in Lehrensteinsfeld. Nur ein Zimmer bleibt unbeschadet, ausgerechnet das der christlichen Haushaltsgehilfin Maria Marian. Deren Mann kauft im Jahr 1940 das Haus der Henles in Lehrensteinsfeld. Es existiert bis heute und ist noch immer im Besitz der Familie Marian. Kurz nach der Reichspogromnacht ziehen die Henles in zwei Zimmer in einer Wohnung im ersten Stock der Myliusstraße 6/1 in Ludwigsburg. Sie haben alle wirtschaftlichen Grundlagen, fast ihren kompletten Besitz verloren. Jenny Henle lässt ein paar Überbleibsel ihrer Einrichtung aus Lehrensteinsfeld nach Ludwigsburg bringen.
Am 18. August 1940 stirbt Leopold Henle in Ludwigsburg. Sein Grab ist bis heute auf dem israelitischen Friedhof in Ludwigsburg erhalten. Am 26. November 1941 wird Jenny Henle von Ludwigsburg zunächst nach Stuttgart gebracht und vom dortigen Nordbahnhof am 1. Dezember nach Riga deportiert.
Das letzte Zeichen ihrer Existenz findet sich in den Akten des Transports. Bei der Fahrt soll sie eine von zwölf „Hilfskräften“ in der Gemeinschaftsküche des Zuges gewesen sein. Am 4. Dezember erreicht der Zug sein Ziel, vermutlich ist Jenny Henle direkt nach der Ankunft wie viele andere ermordet worden. Laut Beschluss vom 17. Dezember 1951 wird ihr Todesdatum für die Wiedergutmachungsakten auf den 31. Dezember 1945 gelegt. Ihre Tochter Flora lebt bis heute in Israel. Zur Verlegung des Stolpersteins, der an Jenny Henle erinnert, kamen ihre Enkelin Yael Rotshildramot ihre Urenkel Revival Harush und Amilhood Rotshildramot sowie Ururenkel Ori Rotshildramot nach Deutschland.

Benjamin und Christian Walf

Portraitfoto: Yael Rothshildramot