Ein Sohn des Hutmachers überlebte
Hospitalstraße 37
Die vier Familienmitglieder verschwanden – weil sie Juden waren. Nur einer sollte den Nazi-Terror durch Glück überleben.
Der Vater Samuel Szylit wurde am 13. Oktober 1888 in Brzeznical/Nowo Radomsk in Polen geboren als Sohn von Isaak Maier Szylit und Rebekka geb. Koul.
Anna wurde am 26. April 1899 in Podgorze geboren und war Tochter des Markus Säbel und der Marie geb. Rosenzweig. Sie wohnte bereits ab 1915 mit ihren Eltern und ihren Brüdern Heinz, Jakob und Arnold in Ludwigsburg in der Kirchstraße 23. In das dahinter liegende Gartenhaus zog das junge jüdische Paar, das seine polnische Staatsbürgerschaft behielt, nachdem es am 19. Oktober 1923 geheiratet hatte.
Anna Szylit war in Kornwestheim in einem Büro angestellt. Der überlebende Sohn Alfred Szylit schrieb 2008 über diese Zeit: «Ich weiß, dass mein Vater Probleme hatte, eine Beschäftigung im Hutmacher-Gewerbe zu finden, welches zu dieser Zeit nicht sehr gut lief. Er lernte die Familie Säbel im Jahr 1923 kennen. Meine Eltern heirateten kurze Zeit später. Mein Vater war gezwungen, sich eine andere Arbeit zu suchen. Ich glaube, mein Großvater Markus Säbel schlug vor, dass er ein eigenes Geschäft aufmachen und ein ‹Wägerle› kaufen sollte, um alle Schneider in Ludwigsburg und den umliegenden Städten aufzusuchen, um ihnen übrig gebliebenes Material und Restposten an Kleidung und ähnlichem abzukaufen. So hatte er wenigstens ein Einkommen. Die Schneider freuten sich darüber, da sie in der Vergangenheit alle Reste weggeworfen hatten.»
Schon am 1. April 1933 wurde in einer halbseitigen Anzeige in der Ludwigsburger Zeitung zum Boykott gegen ihn und andere jüdische Geschäftsleute, Pferdehändler, Ärzte und Anwälte aufgerufen. Doch dieser und auch nachfolgende Boykottaufrufe hatten in Ludwigsburg nicht den von den Nationalsozialisten gewünschten Erfolg.
Am 24. Mai 1925 kam der erste Sohn der Familie in Stuttgart zur Welt: Alfred Szylit. Um 1927 fand die Familie eine bezahlbare Wohnung in der Hospitalstraße 37, in der später auch die Großmutter Marie und der Onkel Jakob mütterlicherseits wohnten. Im gleichen Haus wohnte der drei Jahre jüngere Rolf Rein, mit dem sich Alfred anfreundete und der später trotz Ausgrenzung zu ihm hielt.
1931 meldete Anna ihren Sohn Alfred in der Volksschule an der Asperger Straße an. «Bis 1933 war ich dort sehr glücklich», erinnert er sich heute. Die Stimmung änderte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten:
Lehrer wurden ausgetauscht, Schulkameraden wandten sich wegen ihrer Mitgliedschaft bei den Pimpfen oder der Hitler-Jugend (HJ) von ihm ab. In der Schule wurde er als Jude von immer mehr Veranstaltungen ausgeschlossen, ebenso von Schullandheimen und vom Unterricht zur Weltanschauung und Staatsgesinnung.
Im Jahr 1935 wurde im Gemeinderat angeregt, eine eigene Judenschule einzurichten, jedoch gab es an der Volksschule nur zwölf «nichtarische» Kinder. Der Plan, die Kinder an einer jüdischen Schule in Stuttgart unterzubringen, wurde per Bescheid vom 9. September 1937 in die Tat umgesetzt.
Die Ludwigsburger Zeitung schrieb am 11. September 1935 darüber: «Es steht zu hoffen, […], dass zu Ostern 1936 auf dem Gebiet des öffentlichen Volksschulwesens eine möglichst vollständige Trennung zwischen deutschen und jüdischen Kindern durchgeführt ist.»
Im gleichen Jahr wurde Jakob, der Bruder der Mutter, als «Rassenschänder» verhaftet, weil er mit einem deutschen Mädchen verlobt war. Er wurde zu zwei Jahren Zwangsarbeit im Konzentrationslager Dachau verurteilt. Dort musste er jeden Tag im Steinbruch arbeiten. Nach seiner Entlassung gelang es ihm, nach Dänemark zu flüchten und von dort 1937 in die USA auszuwandern.
Der Sohn der Szylits besuchte noch bis 1936 die Volksschule in Ludwigsburg, dann blieben die Plätze von ihm und seinen wenigen jüdischen Mitschülern von einem Tag auf den anderen leer. Die Schule äußerte sich in keinem Wort darüber, Fragen wurden nicht geduldet.
Alfred feierte am 11. Juni 1938 noch seine Bar-Mizwah in der Ludwigsburger Synagoge. Im gleichen Sommer wurde am 31. Juli Max geboren, der zweite Sohn der Familie Szylit.
Verhaftet und ausgewiesen
Als Auftakt für die nachfolgenden Pogrome wurde der Befehl gegeben, die Juden polnischer Staatsangehörigkeit Ende Oktober 1938 auszuweisen. Dies traf auch die Familie Szylit.
Am Abend des 28. Oktober wurde Vater Samuel von der Gestapo verhaftet und nach Stuttgart gebracht. Am nächsten Tag musste der Rest der Familie sich auch auf der Polizeiwache in der Stuttgarter Königstraße melden. Dort sah Alfred seinen Vater zum letzten Mal – in einer Zelle. Samuel Szylit wurde von Stuttgart nach Polen geschafft, wo er schließlich von seiner Schwester abgeholt und nach Tschenstochau gebracht wurde.
Die Mutter Anna und ihre Söhne bekamen eine sechsmonatige Frist bis zu ihrer Ausweisung. Anna hatte große Mühe, sich und den Säugling Max mit dem Nötigsten zu versorgen und das kleine Haus zu verkaufen. Daraufhin wurden die beiden mit einem Transport in ein Auffanglager in Bonzine in Polen gebracht und folgten zur Familie nach Tschenstochau.
Mit dem Datum 22. April 1940 ist Samuel dort noch unter der Adresse Wielunska 4 aktenkundig. Alle drei starben im September 1942 entweder im Ghetto oder in den Konzentrationslagern Auschwitz oder Treblinka.
Alfred Szylit hatte großes Glück: Er konnte am 5. Januar 1939 mit dem Kindertransport über Holland nach England ausreisen, weil sich dort eine jüdische Familie gefunden hatte, die bereit war, einen polnischen Juden aus dem faschistischen Deutschland aufzunehmen. Es war einer der letzten Kindertransporte überhaupt, denn am 1. September begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg, und alle Kindertransporte wurden eingestellt.
Alfred, der in der Nähe von London angekommen war, verlor kurz darauf auch seine Pflegefamilie: Die britische Führung ließ die jüdische Familie wegen Spionageverdacht im Lager festhalten. Nach Aufenthalten in verschiedenen Waisenhäusern nahm schließlich doch noch eine Familie aus Redhill, Grafschaft Surrey, Alfred auf, obwohl sie sich das finanziell überhaupt nicht leisten konnte. Sie waren so arm, dass sie selbst für eine weitere Wolldecke für Alfred einen Antrag stellen mussten. Trotzdem konnte er die Redhill Junior Technic School von Januar 1940 bis Dezember 1941 besuchen. Danach ging er zur britischen Armee und diente dort dreieinhalb Jahre bis zum Kriegsende. Er war bei der Kriegsflotte und trainierte auch für die Invasion mit den Amerikanern.
Alfred Szylit kam erst zur Lebensmittelversorgung und später nach Afrika, wo die Soldaten deutsche Kriegsgefangene abtransportierten und Munition aus der Wüste einsammelten. Dort wurde Alfred als Übersetzer gebraucht, da er der einzige war, der die Deutschen verstand.
Er erfuhr erst kurz nach Kriegsende vom Schicksal seiner Familie. Am Suezkanal überbrachte ihm sein Cousin, ein Überlebender aus Buchenwald, die Nachricht vom Tod seiner Eltern und seines kleinen Bruders.
Alfred wanderte dann 1949 nach Amerika aus und heiratete ein Jahr später seine Frau Alice. Er wohnt heute in Delray Beach/Florida und hat zwei Kinder und drei Enkelkinder.
Im Mai 2001 besuchten Alfred Szylit mit seiner Frau und vielen anderen jüdischen Überlebenden aus der ganzen Welt Ludwigsburg.
Er sagte, er empfinde keinen Hass auf Deutschland.
Moritz Mugler
Fotozusammenstellung oben: Anna und Samuel Szylit mit ihrem Sohn Alfred, Bild aus Privatbestand. Gebäude Hospitalstraße 37 im Jahr 2010.