Rolf Reichert – ein Junge, der nicht einmal zehn werden durfte
Rolf Reichert wurde am 16. Januar 1931 in Ludwigsburg geboren. Elsa Reichert, Rolfs Mutter, wohnte mit dem kleinen Sohn bei ihrem verwitweten Vater in Neckarweihingen, in der Charlottenstrasse 24, heute Brückenstrasse. Wo die Reicherts lebten, steht heute kein Haus mehr – hier verläuft nun die Zubringerstraße aus Neckarweihungen zur Landesstraße 1100 nach Ludwigsburg beziehungsweise nach Marbach.
Rolf war anderthalb Jahre alt, als er unter Krampfanfällen zu leiden begann. Seine Mutter vermutete eine Impfung als Ursache dafür. In der Folge blieb Rolf in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung zurück. Häufig übernahm Elsas Grossmutter die Versorgung des behinderten Kindes, bis es vorübergehend in den Werner’schen Anstalten in Ludwigsburg untergebracht wurde. Im Juli 1936 konnte Rolf in das Gottlob-Weisser-Haus, das Pflegehaus der Evangelischen Diakonissenanstalt in Schwäbisch Hall, aufgenommen werden – mit dem Vermerk „nicht lernfähig“, „schwachsinnig“.
Als das Gottlob-Weisser-Haus im November 1940 durch NS-Behörden beschlagnahmt wurde, musste die Einrichtung innerhalb einer Woche geräumt werden. Zusammen mit über 200 Patienten wurde Rolf in die Heilanstalt Weinsberg eingewiesen, die zu diesem Zeitpunkt für viele Patienten nur „Durchgangsstation“ war. Im Rahmen des Euthanasieprogramms „Aktion T4“ waren seit Januar 1940 Bewohner aus der Heilanstalt in Weinsberg nach Grafeneck verlegt und ermordet worden.
Mit der Angabe: „ungeheilt entlassen“ im Abgangsbuch der Heilanstalt, wurde Rolf Reichert mit weiteren Patienten am 4. Dezember 1940 nach Grafeneck gebracht und dort durch Gas ermordet.
Jenny Elsas, geb. Nathan, wurde am 22. April 1885 in Stuttgart geboren. Sie war das jüngste von vier Kindern des Stuttgarter Kaufmanns Albert Nathan und seiner Frau Karoline Nathan, geb. Mainzer.
Jenny Elsas heiratete am 25. März 1909 als „gute Partie“ den 31-jährigen Beno Elsas aus Ludwigsburg. Beno Elsas war Teilhaber im Betrieb der „Mechanischen Buntweberei Elsas & Söhne“ der angesehenen Familie Elsas in Ludwigsburg, Marstallstrasse 4. Das junge Ehepaar wohnte im 2. Stock des stattlichen Hauses Solitudestrasse 5 in Ludwigsburg.
Jenny und Beno Elsas hatten drei Söhne. Richard wurde am 12. Februar 1910 und Martin am 12. November 1912 in Ludwigsburg geboren. Der jüngste Sohn Ludwig kam am 11. September 1914 in Stuttgart auf die Welt.
Beno Elsas war seit Anfang August 1914 Soldat im Ersten Weltkrieg und starb als Unteroffizier der Landwehr bereits am 05. September 1914 in St. Dié in den Vogesen.
Fünf Tage nach seinem Tod hat Jenny Elsas den jüngsten Sohn Ludwig in Stuttgart zur Welt gebracht. Der frühe Tod ihres Mannes muss für Jenny Elsas ein lebenslanges Trauma bedeutet haben. Sie litt sehr unter dem Verlust ihres Ehemannes und erkrankte in der Folge psychisch, so dass sie Anfang der 1920er Jahren mehrfach verschiedene Kliniken aufsuchen musste.
Nach dem Tod ihres Mannes blieb Jenny Elsas als Witwe mit den drei kleinen Söhnen allein zurück. Sie wohnte mit den Kindern weiterhin in der Solitudestrasse 5 in Ludwigsburg.
Finanziell konnte Jenny Elsas durch die Unterstützung der Familie Elsas sowie durch eine staatliche Kriegshinterbliebenenrente (bis 1933) ohne Sorgen und in guten Verhältnissen leben. Sie führte in dem geschmackvoll eingerichteten Heim in der Solitudestrasse 5 einen gepflegten Haushalt mit Personal, u.a. Kindermädchen, Köchin, Wasch- und Bügelfrau. Die Wohnung war mit Biedermeier-Möbeln, wertvollen Teppichen, Porzellangeschirr und Kristallgläsern, einer Bibliothek und Kunstgegenständen ausgestattet.
Ihr Sohn Richard hat in einem Brief aus den 1950er Jahren geschrieben, dass seine Mutter nach dem Tod des Vaters ein sehr zurückgezogenes Leben geführt habe. Für die Mutter sei die eingerahmte Urkunde sehr wichtig gewesen, die besagte, dass der Dank des Vaterlandes der Kriegerwitwe Jenny Elsas und ihrer Familie für immer sicher sei. Diese Urkunde habe einen Ehrenplatz an der Wand in der Wohnung der Solitudestrasse 5 gehabt.
Als Kriegerwitwe fühlte sich Jenny Elsas daher unter der nationalsozialistischen Herrschaft und der ständig zunehmenden Judenfeindlichkeit in den 1930er Jahren zunächst relativ sicher. An Auswanderung hat Jenny Elsas erst viel später gedacht.
Die drei Söhne haben die Gefahren des Nationalsozialismus viel früher erkannt und konnten rechtzeitig aus Ludwigsburg und Deutschland fliehen. So ist der jüngste Sohn Ludwig bereits 1931 mit 17 Jahren aus Ludwigsburg geflohen, da er wegen seines Engagements in einer jüdischen „Anti-Nazi“-Jugendgruppe in Lebensgefahr war. 1936 ist er nach Südafrika ausgewandert. Der mittlere Sohn Martin wanderte ebenfalls 1936 nach Südafrika aus. Beide waren Soldaten in der südafrikanischen Armee. Richard, der alsältesterSohn früh die Rolle des „Mannes im Haus“ übernommen hatte, wohnte bis zu seiner Auswanderung in die USA im Jahr 1938 bei seiner Mutter in der Solitudestrasse 5. Warum Jenny Elsas nicht direkt mit ihm Deutschland verlassen hat, ist nicht bekannt.
Die Repressionen der Nationalsozialisten gegenüber den jüdischen Bürgern nahmen auch im familiären Ludwigsburger Umfeld von Jenny Elsas immer weiter zu: so wurde der Betrieb „Mechan. Buntweberei Elsas & Söhne“ 1938 „zwangsarisiert“, das heißt enteignet, wodurch die Familie kein Einkommen mehr hatte. Der Seniorchef des Betriebes, Max Elsas (Onkel von Jenny Elsas‘ Ehemann Beno), ein vor der nationalsozialistischen Herrschaft hoch angesehener und geehrter Bürger der Ludwigsburger Stadtgesellschaft, blieb wegen seines hohen Alters in Ludwigsburg, wo er immer weiter ausgegrenzt, geächtet und isoliert wurde. Noch im Alter von 83 Jahren wurde Max Elsas 1942 (nach Zwangsaufenthalt im Jüdischen Altenheim Eschenau bei Heilbronn) in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo er im gleichen Jahr an Entkräftung und Krankheit verstarb.
Jenny Elsas stand mit ihren ausgewanderten Söhnen in engem Briefkontakt. So schrieb sie z.B. in einem Brief an Richard nach New York im August 1938, dass sie Englisch-Stunden habe und im Winter fleißig lernen möchte. Richard solle ihr auch bald ein bestimmtes Englisch-Buch schicken. Sie hat sich also auf ihre eigene Auswanderung vorbereitet.
Die Briefe von Jenny Elsas an ihre Söhne aus dieser Zeit (bis 1941) waren sehr familiär, zugewandt, ja, auch humorvoll. Sie berichtete in diesen Briefen über Bekannte und Verwandte im Raum Stuttgart, über deren Alltag und Neuigkeiten. Über ihre Situation unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft berichtete sie nicht direkt, nur indirekt schrieb sie manchmal von „geänderten Verhältnissen“ im Bekanntenkreis. Wie es ihr selbst in diesen Zeiten ging, darüber schrieb sie nicht. Sie klagte nicht und wirkte immer zuversichtlich.
Nach kurzem Aufenthalt in der Marstallstrasse 4 wohnte Jenny Elsas ab März 1939 in Bad Cannstatt in der Daimlerstrasse 40, in einer Wohnung von Isidor Gerstle, einem wohlsituierten Fabrikanten und Schwiegervater ihres Schwagers Theodor Elsas. Dort wohnte Jenny Elsas zusammen mit drei anderen Damen in möblierten Zimmern, in Vorbereitung und Hoffnung auf ihre baldige Auswanderung.
Ende der 1930er Jahre wurde auch Jenny Elsas das Bankguthaben bei einer Ludwigsburger Bank entzogen. Darüber hinaus musste sie Wertgegenstände wie Schmuck in der Städtischen Pfandleihanstalt, Stuttgart, zwangsabliefern.
Im Jahr 1940 gelang es Jenny Elsas noch, ihren umfangreichen und wertvollen Hausrat aus der Solitudestrassse 5 bei der Speditionsfirma „Gustav von Maur und Bodenhöfer“ in Stuttgart als Umzugsgut zur späteren Verschiffung nach Amerika einzulagern. Das Umzugsgut umfasste einen sog. Lift und 9 Kisten. Nur das für die Auswanderung vorgesehene Handgepäck hatte Jenny Elsas danach vermutlich noch bei sich.
Isidor Gerstle wurde – wie viele andere Juden aus dem Stuttgarter Raum – nach Haigerloch zwangsumgesiedelt, was zur Zentraliserung von Juden vor der Deportation in die Konzentrationslager diente.
Jenny Elsas musste daher die Daimlerstrasse verlasssen und kam bei einer anderen Familie in Stuttgart in der Kasernenstrasse 11 unter. Sie schrieb im Oktober 1941an ihren Sohn, dass sie in Stuttgart bleiben dürfe, da sie in Auswanderung stehe. Sie fühle sich bei der Familie gut aufgehoben und habe nun Zeit, alles vorzubereiten. In einem weiteren Brief von Ende Oktober 1941 drückte sie ihre Hoffnung und Freude aus, bald in New York mit ihrem Sohn sowie dem Schwager Theo Elsas und dessen Frau (Tochter von Isidor Gerstle) vereint zu sein. Vor ihrer Reise wolle sie noch die Gräber besuchen und auch nach Haigerloch fahren. Sie beendete den Brief mit den Worten: „Also macht Euch keine Sorgen, es gelingt mir alles und ich habe ja auch Hilfe.“
Zu dieser Zeit musste Jenny Elsas immer den „Judenstern“ tragen und als Absender ihrer Briefe „Jenny Sara Elsas“ schreiben.
Die Versuche der Söhne Martin und Ludwig im Jahr 1941, ein Visum für ihre Mutter zur Einreise nach Südafrika zu erhalten, sind gescheitert. Im gleichen Jahr hat ihr Sohn Richard noch versucht, die Auswanderung von Jenny Elsas nach Amerika zu erwirken, was infolge der Kriegsereignisse nicht mehr gelang. Nur noch über den Umweg Kuba war eine Auswanderung möglich. Ihr Sohn Richard, wohnhaft in New York, hat von dort aus ein Visum über Kuba für Jenny Elsas beschafft. Ihm wurde mitgeteilt, dass dieses Visum ab dem 17.Oktober 1941 in der Berliner Legation (Gesandtschaft) zur Abholung bereit läge. Ob Jenny Elsas überhaupt wußte, dass in Berlin das Visum bereit lag und falls ja, ob sie nach Berlin hätte reisen können, ist nicht bekannt.
Am 16. Februar 1942 wurde Jenny Elsas (vermutlich von der Kasernenstrasse in Stuttgart) in das Wohnheim für jüdische Menschen aus Württemberg Schloss Weißenstein in der Nähe von Göppingen zwangsumgesiedelt. Dieses von den nationalsozialistischen Regierungsstellen beschlagnahmte Schloss war in der NS-Zeit ein Durchgangslager auf dem Weg in die Deportation und den Tod.
In der folgenden Woche schrieb Jenny Elsas in einem Brief an ihren Cousin Ernst Hilb in der Schweiz, dass sie nun in Weißenstein in einer Gemeinschaft lebe und sich gut eingelebt habe. Sie schrieb über das landschaftlich schön gelegene Schloss mit viel Schnee.
Aus einem Brief von Ernst Hilb an Richard Elsas vom 20. April 1942, in dem er eine Nachricht von Jenny Elsas an ihn wortwörtlich wiedergab, ist folgendes zu entnehmen: Ihre Umsiedlung von Weißenstein in das General Gouvernement (Anm.: damit ist die Deportation nach Polen gemeint) stehe nun an, der Abschied vom Schloss täte ihr leid. Sie habe sich so gut eingewöhnt und hätte gerne den Frühling in dieser „einzig schönen“ Gegend erlebt. Sie sei nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit 9 Genossinnen. Vermutlich war diese Mitteilung an den Cousin Ernst Hilb das letzte Lebenszeichen von Jenny Elsas.
Vier Tage später, am 26. April 1942, wurde Jenny Elsas von Schloss Weißenstein nach Izbica deportiert. Es liegen keine Dokumente zum Todeszeitpunkt von Jenny Elsas vor.
Nachwort
Izbica war ein Transit-Ghetto, von dem aus die deportierten jüdischen Menschen in die reinen Vernichtungslager Chelmo oder Sobibor transportiert wurden. Die dort An kommenden wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Jenny Elsas hat daher mit hoher Wahrscheinlichkeit den Mai 1942 nicht überlebt.
Aus amtlichen Unterlagen ist zu entnehmen, dass keine tatsächlichen Ermittlungen bzgl. des Todeszeitpunktes von Jenny Elsas durchgeführt wurden. Das Amtsgericht Ludwigsburg hat aufgrund einer Zeugenvernehmung (Dr. Ludwig Elsas, 1946) den 30. November 1942 als Todesdatum festgesetzt.
Das bei der Speditionsfirma „Gustav von Maur und Bodenhöfer“ in Stuttgart eingelagerte Umzugsgut von Jenny Elsas wurde von der Gestapo beschlagnahmt und in das Alte Schloß, Stuttgart, gebracht. Dort wurde es bei einer Versteigerung im Juli 1942 verschleudert.
Dr.Barbara Pietsch
Quellen:
Joachim Hahn: Jüdisches Leben in Ludwigsburg. Geschichte, Quellen und Dokumentation, hrsg. Von der Stadt Ludwigsburg – Stadtarchiv und vom Historischen Verein für Stadt und Kreis Ludwigsburg. Karlsruhe 1998
Staatsarchiv Ludwigsburg, Amtsgericht Stuttgart: Akten des Schlichters für Wiedergutmachung Stuttgart 1947 – 1975, FL 300/33 I
Stadtarchiv Ludwigsburg
Briefwechsel aus dem Nachlass von Jenny Elsas, private Mitteilungen einer Angehörigen
Hans Walter wurde als Kleinkind von Ärzten ermordet
Vorhofstraße 28
Hans Walter wurde am 06.02.1939 geboren. Seine Mutter war Martha Walter geborene Kurz, geboren am 17.12.1910 in Ludwigsburg-Ossweil. Der Vater von Hans ist Gottlob Walter, geboren am 16.05.1912. Er verstarb bereits vierzigjährig am 21.7.1952. Das Ehepaar hatte zudem noch eine Tochter, lebte in der Vorhofstraße 28 in Ludwigsburg-Ossweil und war evangelisch.
Bei Hans Walter wurde „Schwachsinn nach Gehirnblutung (Geburtstrauma)“ diagnostiziert. Die Entbindungsanstalt in Stuttgart protokollierte eine komplikationslose Geburt nach ca. 36 Stunden. Die Mutter berichtete, dass ihr von ärztlicher Seite erklärt wurde, dass drei Tage nach Hans’ Geburt eine Ader in seinem Gehirn gesprungen sei. Als Folge wurde dann Idiotie diagnostiziert. Hans Walter hatte eine frühkindliche Hirnschädigung.
Er war deshalb ab seinem dritten Lebenstag für fünf Wochen in der Kinderklinik Stuttgart. Die Eltern taten sich schwer mit einem schwerbehinderten Baby, dass viel schrie. Nach einem Jahr gaben sie Hans deshalb erneut in die Kinderklinik. Die Ärzte erklärten den Eltern, dass Hans’ Hirnschädigung mit geistiger Beeinträchtigung dauerhaft sei. Ebenso die wiederkehrenden epileptischen Anfälle und dass sie es aus der Klinik wieder entlassen müssten.
Hans war nun wieder zu Hause und die Mutter entsprechend ihren Aussagen immer wieder hilflos mit Hans Anfällen. Immer wieder brachte sie Hans nun in die Kinderheilanstalt in Ludwigsburg. Mit eineinhalb Jahren war Hans auch in der Werner´schen Kinderheilanstalt wegen Rachitis (Knochenerkrankung bei Kindern mit Fehlstellungen oder Verkrümmungen als Folge) und dann auch wegen einer Gehirnerschütterung. Der dort behandelnde Arzt Dr. Dieter erklärte ihr, dass sie damit rechnen müsse, dass Hans an einem seine Anfälle auch sterben könne. Offensichtlich hatte Hans Walter Grand-mal- / tonisch-klonische Anfälle. Die Symptome Schreien, gefolgt von krampfartiger Anspannung der Körpermuskulatur mit anschließenden Zuckungen, passen zu damaligen Diagnosen und den Schilderungen der Mutter.
Kliniken und Ärzte hatten die Vorgabe, Befundberichte von Kindern mit Behinderungen dem Reichsausschuss zu melden. Der Reichsausschuss mit dem tarnenden zusätzlichem Decknamen „zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ war in der „Kanzlei des Führers“ angesiedelt. Dieser Reichsausschuss war für die Organisation der Morde an Kindern mit Behinderungen zuständig.
Auch wenn es für vielerlei Mord und Unrecht im Nationalsozialismus Gesetze gab – für die Ermordung von Menschen mit Behinderungen gab es keine. Deren massenhafte Durchführung sollte heimlich geschehen. Nachdem Hans im November 1942 erneut in der Kinderklinik Stuttgart war, erstellte diese einen entsprechenden Meldebogen an den Reichsausschuss am 14.11.1941. Gemeldet wurde unter anderem, dass Hans seit Frühjahr 1941 täglich Krampfanfälle hatte. Ebenso, dass seine Entwicklung nicht altersgemäß sei. Einjährig konnte Hans mit Unterstützung sitzen, zweieinhalbjährig sei er geistig und körperlich zurückgeblieben. Zudem würde er nicht sprechen und laufen und sei noch inkontinent. Allerdings ist es auch heute noch normal, dass Kinder mit zweieinhalb Jahren Windeln tragen. Gemeldet wurde auch, dass Hans zeitweilig einen starken Bewegungsdrang mit Gebrüll habe. Von Bedeutung für den Reichsausschuss und dessen grauenhafter Nazi-Ideologie war sicherlich die Mitteilung, dass man bei Hans nicht davon ausgehe, dass Heilung oder Besserung eintreten könne. Im Mittelpunkt stand den Nazis nicht individuelles medizinisches Handeln, sondern die Gesundung eines übergeordneten „Volkskörpers“.
Sicherlich war es für die Familie nicht einfach mit Hans zuhause. Gute frühkindliche Beratungsstellen und therapeutische Angebote gab es nicht. Die Versorgung eines Kindes mit Behinderung war deshalb oftmals schwieriger als heute. Im Frühjahr 1942 bekam die Mutter dann eine Vorladung vom Gesundheitsamt Ludwigsburg. Am 30. Mai 1942 wurde ihr dort nahegelegt, Hans in einer Anstalt unterzubringen. Allerdings lehnte die Mutter ab und erklärte mit Unterschrift, dass sie in der Lage sei, Hans zu versorgen und zu verköstigen. Der Aufwand sei für sie nicht zu hoch. Sollte sich das ändern, werde sie sich melden. Das Gesundheitsamt meldete dies dem Reichsausschuss.
Leider wurde es für Martha und Gottlob zuhause schwieriger mit der Betreuung ihres Sohnes. Der kleinkindliche Hans verstand sicherlich eigene körperliche Abläufe nicht und Unwohlsein aufgrund der Epilepsie führte gelegentlich zu Aggressionen. Für die Eltern war dies nicht einfach und das Gesundheitsamt hatte doch nur Gutes über die Kinderheilanstalt in Eichberg bei Wiesbaden berichtet. Das Personal des Gesundheitsamtes handelte dabei wohl in bester Absicht.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass die wahre Bestimmung der sogenannten „Kinderfachabteilung“ in Eichberg bekannt war. „Kinderfachabteilungen“ waren aber reine Tötungsabteilungen. Dort wurden zwischen April 1941 und März 1945 mindestens 430, nach Schätzungen aber eher sogar mehr als 500 Kinder ermordet. Eichberg unterhielt auch eine Kooperation mit der psychiatrischen Uniklinik Heidelberg. In Heidelberg zuerst untersuchte Kinder wurden dann nach Eichberg zur Ermordung gesandt, um anschließend ihre Gehirne zu Forschungszwecken in Verbindung mit der „Euthanasie“ wieder in Heidelberg zu haben.
Am 6. Juli 1942 gaben nun die Eltern schriftlich das Einverständnis auf dem Gesundheitsamt Ludwigsburg, dass sie eine Einweisung von Hans Walter nach Eichberg wünschen. Die Mutter schrieb dann selbst die Einrichtung an. Sie schilderte, dass sie nur Gutes über die Landesheilanstalt Eichberg erfahren habe und deshalb beruhigt war. Gemeinsam mit ihrem Mann brachte sie ihren Sohn Hans nach Eichberg. Die AOK übernahm die Kosten der Anstaltsunterbringung. Die Aufnahme erfolgte am 22. September 1942. Keine vier Monate später bekam die Familie die Nachricht von Eichberg, dass Hans an einer Lungenentzündung gestorben sei.
Die einzige Funktion von „Kinderfachabteilungen“ war das Ermorden von Kindern mit Behinderungen. In der Landesheilanstalt Eichberg war Hans Walter in einer extra für das Morden eingerichteter Kinderbaracke in Randlage der Einrichtung unterbracht. Dort wurden die unter neunjährigen gesondert ermordet. Das Morden geschah durch die Überdosierung von Medikamente (Luminal, Chloralhydrat oder Morphium) und / oder durch Nahrungsmittelentzug.
Gottlob und Martha Walter fuhren zur Beerdigung nach Eichberg. Am Leichnam ihres Sohnes konnten sie keine Auffälligkeiten entdecken. Hans Walter wurde am 16. Januar 1943, drei Wochen vor seinem 4. Geburtstag, ermordet.
Mein herzlicher Dank gilt Christian Hofmann. Er ist Archivar am Staatsarchiv Ludwigsburg. Seit vielen Jahren leistet er ehrenamtlich Erinnerungs- und Forschungsarbeit zu den Ermordungen von Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus. Ohne seine Beratung und Informationen hätte ich die Geschichte von Hans Walter nicht umfänglich recherchieren können.
Vielen Dank an Regina Witzmann. Sie ist stellvertretende Archivleitung im Stadtarchiv Ludwigsburg. Immer hilft, berät und unterstützt sie die Mitglieder der Stolperstein- Initiative Ludwigsburg geduldig und umfangreich.
Marc Haiber
Quellen:
Ludwigsburger Geschichtsblätter Bd. 75/2021: Kinder-„Euthanasie“ und das Gesundheitsamt Ludwigsburg von Christian Hofmann
Hie gut Württemberg – Beilage der Ludwigsburger Kreiszeitung 2.10.2021: Opfer von Kinder-„Euthanasie“ im Kreis Ludwigsburg von Christian Hofmann
HHStAW Abt. 631a Nr. 366: Vernehmung Martha Walter 20.7.1948
StAL FL30/12 III Bü1448
Stadtarchiv Ludwigsburg – Adressbücher, Meldekarte und Fürsorgeakte
Am Samstag, 8. Juli, können Interessierte per Fahrrad den Ort des künftigen MahnDenkMals im Ludwigsburger Schießtal kennenlernen. Um 14:30 Uhr ist Abfahrt beim „Brückenhaus“ (Marbacher Straße 220). Beim ersten Zwischenstopp gibt es Informationen über den Neckarweihimger Maler und Nazi-Gegner Fritz Ketz einschließlich einer improvisierten Ausstellung mit Reproduktionen einiger seiner kritischen Werke, präsentiert von Roland Schmierer vom Bürgerverein Neckarweihingen. Bei einem zweiten Halt gibt es ein Grußwort der „Deutschen Friedensgesellschaft / Vereinigte Kriegsdienstgegner“ (DFG/VK) von Wolfram Scheffbuch sowie „Die Legende vom toten Soldaten“ von Bertolt Brecht, vorgetragen von Christian Buschhaus. Gegen 16 Uhr stellt Walter Mugler von der Ludwigsburger Stolperstein-Initiative das künftige MahnDenkMal für die Männer vor, die auf Befehl der NS-Militärjustiz im Ludwigsburger Neckartal ermordet wurden. Wer nicht mit den Rad kommen kann oder möchte, kann auch ins Remsecker Industriegebiet Schießtal fahren, dort parken und die wenigen Meter zum künftigen MahnDenkMal zu Fuß gehen.
Virtuell – Online bei youtube.com – der Link zur Gedenkfeier ist demnächst zu finden unter www.habila.de
Donnerstag 27. Januar 2022 19 Uhr
Mit einer Begrüßung der Leitung Habila Markgröningen Antje Michaelis, einem Grußwort von Bürgermeister Rudolf Kürner, einem Beitrag von Marc Haiber (AK Mahnmal) zum Leben des von Markgröningen nach Grafeneck deportierten und ermordeten Heinrich Gärtner und musikalischen Beiträgen von Elena Rachelis, Horst Balzer, sowie Niels Noortwijck und Marc Haiber. Moderation von Edeltraud Balzer (AK Mahnmal)
Im Jahr 1940 wurden 120 Menschen aus der damaligen Landesfürsorgeanstalt Markgröningen (der heutigen Habila GmbH) nach Grafeneck deportiert und sofort nach Ankunft vergast.
Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit.
Seit 1996 ist der 27. Januar deshalb der nationale Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. 2005 wurde dieser Tag von den Vereinten Nationen zum internationalen Gedenktag erklärt.
Die 120 Menschen aus Markgröningen waren Opfer der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus. Immer am 27. Januar wird diesen Menschen in Markgröningen bei der Habila GmbH gedacht.
Die Erinnerung gilt an diesem Tag ebenso allen Opfern des Nationalsozialismus.
Der Arbeitskreis Mahnmal kann wie im Vorjahr pandemiebedingt leider auch, die Gedenkfeier nicht als Präsenz-Veranstaltung, sondern nur als Online-Stream durchführen. Kontinuierlich leistet der Arbeitskreis Mahnmal seit nunmehr 25 Jahren Erinnerungsarbeit für die 120 Opfer aus Markgröningen und ist Veranstalter der Gedenkfeier.
Trotz der Corona-Pandemie ist es ihm wichtig, auch 2022 mit einer Gedenkfeier an die 120 Opfer aus Markgröningen zu erinnern. Hierzu entschied man sich für ein kürzeres Format als bei den früheren Präsenz-Veranstaltungen, bei der Video-Streaming-Plattform YouTube. Ab 19 Uhr wird die Gedenkfeier am 27. Januar 2022 gesendet. Die Gedenkfeier ist demnächst zu finden im Internet unter www.habila.de – dort findet man einen entsprechenden Link. Das ca. halbstündige Video steht anschließend zum Abruf noch bis einschließlich 31. Januar 2022 zur Verfügung.
Anstatt wie sonst zu Beginn der Gedenkfeier einer Gedenkminute am Mahnmal für die 120 Opfer aus Markgröningen abzuhalten, bekommt das Gedenken einen würdigen Rahmen durch einen musikalischen Beitrag von Elena Rachelis. Die kammermusikalische Pianistin spielte in vielen bedeutenden Konzertsälen und hatte schon zahlreiche Radio- und Fernsehaufnahmen (ZDF, BR, BR 4 Klassik). Ihre Kunst wurde zudem auf mehreren Tonträgern veröffentlicht.
Die Ermordung der 120 Menschen aus der damaligen Landesfürsorgeanstalt Markgröningen ist nicht nur Teil der Geschichte der heutigen Habila GmbH, sondern auch Teil der Stadtgeschichte Markgröningen. Stellvertretend hierfür spricht deren Bürgermeister Rudolf Kürner ein Grußwort. Für die Habila GmbH bezieht bei der virtuellen Gedenkfeier die Leiterin des Bereichs Soziale Teilhabe und Pflege, Antje Michalis, Stellung bei ihrer Begrüßung.
Das Recht auf Menschenwürde und Leben wurde im Nationalsozialismus millionenfach unter anderem Menschen mit Behinderung und Menschen jüdischer Herkunft abgesprochen.
Die Nazis nahmen den Opfern ihren Namen und gaben ihnen stattdessen Nummern. Das Vergessen der Vernichtung wäre Teil der Vernichtung selbst. Auch deshalb ist es dem Arbeitskreis Mahnmal wichtig, den Opfern ihre Namen zurückzugeben und deren Geschichten sichtbar zu machen. Stellvertretend für die 120 Opfer stellt Marc Haiber vom Arbeitskreis Mahmal deshalb am Gedenktag die Lebensgeschichte von Heinrich Gärtner vor. Er wurde in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet, nachdem die sogenannten grauen Busse zum zweiten Mal am 9. September 1940 für den Massenmord nach Markgröningen kamen. Unter der Tarnbezeichnung „Aktion T 4“ wurden ab 1940 mehr als 70 000 Menschen mit Behinderungen ermordet. Die Tötungsanstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb wurde dafür als zur ersten von insgesamt sechs Tötungsanstalten umgebaut.
Auch Horst Balzer gibt der Veranstaltung einen würdevollen Rahmen mit einem musikalischen Beitrag. Niels Noortwijck und Marc Haiber haben zudem für die Veranstaltung einen Song komponiert und tragen mit diesem ebenso zur Gedenkfeier bei. Moderiert wird die Gedenkfeier 2022 von Edeltraud Balzer. Sie ist Gründungsmitglied des AK Mahnmals.