Die grausame Geschichte einer (uns) unbekannten Frau
Seestraße 60
Elisabeth Schweizer wurde als viertes von acht Kindern des Ehepaares Adolf Schweizer (*7.6.1862) und Friederike Schweizer (*7.6.1866) am 5. Juni 1894 in Ludwigsburg geboren. Der Vater war Bahnassistent. Die Familie wohnte in der Seestrasse 60. Von den acht Kindern starben vier im Säuglingsalter, nur ein Bruder und zwei Schwestern überlebten. Über Kindheit und Jugend Elisabeth Schweizers ist nichts bekannt. Sie erkrankte im Alter von 35 Jahren und wurde seit dem 8.5.1929 in der Heilanstalt Rottenmünster betreut. Am 21.11.1935 wurde sie von dort in die Heilanstalt Liebenau (Meckenbeuren) überführt. Die Diagnose lautete: Paranoide Schizophrenie (90 %). Die Erblichkeit der Erkrankung wurde mit dem Hinweis begründet, dass eine Schwester der Mutter im Alter schwachsinnig geworden sei und die Patientin, der Vater, die Mutter und eine Schwester der Mutter schwerhörig seien; als Degenerationszeichen wurden ausserdem die angewachsenen Ohrläppchen angeführt.
Liebenau war eine Einrichtung mit kirchlich-katholischem Charakter, die Bezeichnung und rechtliche Organisation einer kirchlichen Stiftung wurde erst 1970 eingeführt. Die Einrichtung bestand aus drei Häusern in Liebenau und in der Gemeinde Bodnegg. Sie wurde seit 1910 von dem Priester Josef Wilhelm (1875-1953) geleitet. Die Wahl dieser Anstalt hängt vermutlich mit der Bindung der Familie an die Katholische Kirche zusammen, der Vater war zeitweise Kirchenpfleger bei der katholischen Kirchengemeinde in Ludwigsburg.
Für die Bezahlung der monatlichen Pflegekosten in Rottenmünster und später in Liebenau war das Städtische Fürsorgeamt in Ludwigsburg zuständig, nachdem der Vater Adolf Schweizer schon im Mai 1931 verstorben war. Die Mutter versuchte aber trotz der geringen Witwenrente einen Beitrag von 50 Reichsmark monatlich an den Kosten zu übernehmen. Später war sie dazu nicht mehr in der Lage, da sie zusätzlich noch den arbeitslosen Sohn, bei dem sie wohnte, unterstützen musste. Sie zog mit der Familie des Sohnes zunächst nach Offenbach, dann nach Saarbrücken und dann wieder zurück nach Ludwigsburg in die Seestrass 60, wo sie am 15.12.1940 starb.
Über Elisabeth Schweizers Zeit in Liebenau ist uns nichts bekannt. Kriegsbedingt, wie es hiess, sollte 1940 in der Heilanstalt Liebenau, wie auch in anderen Heilanstalten Württembergs und Badens, Platz für andere Verwendungszwecke gemacht werden. 500 Betten für zivilinternierte Frauen mussten in Liebenau bereitgestellt werden. Auf Anweisung des Innenministeriums musste die entsprechende Anzahl an Patienten verlegt werden. Die Heilanstalt in Zwiefalten war als sogenanntes „Zwischenlager“ vorgesehen. Elisabeth Schweizer kam mit anderen Patienten aus Liebenau am 13. August 1940 in die völlig überfüllte Heilanstalt in Zwiefalten. Vielen Kranken blieb nur ein Strohlager als Bett, die Nahrung war mangelhaft und unzureichend. Der Aufenthalt Elisabeth Schweizers dort und damit auch ihr Leben, endete am 30. August 1940 mit ihrer, und der „Verlegung“ anderer Patienten, nach Grafeneck, wo sie noch am gleichen Tag durch Giftgas ermordet wurden.
Es ist nicht bekannt, wie Elisabeth Schweizers Mutter vom Tod ihrer Tochter erfahren hat. Zur Verschleierung des organisierten Krankenmords wurde den Angehörigen eine „angebliche“ Todesursache, in den meisten Fällen ein falsches Todesdatum und auch ein falscher Todesort mitgeteilt.
Mit dem Stolperstein vor dem Haus, in welchem Elisabeth Schweizer ihre Kindheit und Jugend erlebt hat, möchten wir die Erinnerung an sie und ihr Schicksal festhalten.
Gisela Scharlau / Gudrun Karstedt