In 100 Tagen von der Straße in den Tod
Gartenstraße 17
Ernst Gottlob Scheufler wurde am 21. Dezember 1938 in der damaligen Ernst-Weinsteinstraße 17 (heute Gartenstr.17) verhaftet und ins KZ Dachau mit dem Eingangsvermerk AZR eingeliefert.
Die Abkürzung AZR hieß im Klartext „Arbeitszwang Reich“ und bezeichnet eigentlich die März-Aktion der Gestapo und die Juni-Aktion der Kripo, um sog. „Asoziale“ oder sog. „Gemeinschaftsfremde“ zu verhaften. Darunter fielen neben Wohnsitzlose, Bettler, Landstreicher (damals „Wanderer“ genannt), mittellose Alkoholkranke, in geringerer Zahl auch Zuhälter und Personen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren. Unter den Eingelieferten waren außerdem viele Roma und Sinti.
Es handelte sich also um sehr unterschiedliche Menschen, die man unter dem Sammelbegriff „asozial“ in die Konzentrationslager verschleppte. Gemeinsam war ihnen allenfalls, dass ihre Verfolger sie als arbeitsscheu ansahen. Im öffentlichen Bewusstsein waren die „Asozialen“ gewissermaßen der harte Kern der Fürsorgeempfänger.
In der Gartenstraße 17 befanden sich bis vor einigen Jahren das evangelische Gemeindehaus und die Diakonische Bezirksstelle. Am 1. Oktober 1909 war hier in der „Herberge zur Heimat“ eine sog. „Wanderarbeitsstätte“ eröffnet worden. Sie diente mittellosen Wanderern als Übernachtungsmöglichkeit. Wer damals nicht arbeiten konnte oder wollte, musste diese Wanderherberge nach 2 Übernachtungen wieder verlassen. 1925 wurde ein Neubau des Hintergebäudes beschlossen und im 1. Stock desselben ein Christliches Hospiz (Hotel mit Gaststätte) mit 10 Zimmern und 18 Betten eingerichtet. Außerdem wurde ein „Kosttisch“ für 60-70 Menschen und in der Herberge zur Heimat 40 Betten bereitgehalten, was vom Evangelischen Verein Ludwigsburg betrieben wurde. Dem Verein wurde der Vertrag zur Wanderarbeitsstätte vom Oberamt Ludwigsburg 1938 gekündigt und es war vorgesehen, die Wanderarbeitsstätte ins Obdachlosenheim zu verlegten. Hier hatten im April 1938 noch 92 Wanderer mit 145 Verpflegungstagen übernachtet. Die Schließung erfolgte schließlich 1940.
Wir wissen in der Regel wenig über das Leben der Wohnungslosen und Menschen, die auf der Wanderschaft waren und die Opfer der Verfolgung wurden. Bei Ernst Scheufler ist das anders: Wir wissen einerseits viel, aber andererseits wenig über seine letzten Jahre. Viel wissen wir über die Zeiten, in der er aktenkundig wurde.
Ernst Scheufler wurde als 4. Kind des Eisenbahners Jakob und seiner Frau Margarethe Scheufler, geborene Ehrhardt, am 20. August 1893 in Stuttgart geboren. Als Ernst geboren wurde, wohnte die Familie in der Forststraße 43 im Hinterhaus. Aufgewachsen ist Ernst dann aber mit seinem älteren Bruder Wilhelm und der 1896 geborenen Schwester Bertha im neuen Stuttgarter Stadtteil Ostheim in der Teckstrasse 30.
Der Stadtteil Stuttgart Ostheim entstand auf Initiative von Eduard Pfeiffer. Der jüdische Kaufmann, den man nach heutigen Maßstäben als erfolgreichen Banker und Multimillionär bezeichnen würde, war auch als Politiker aktiv und war ein Philanthrop. Er war u.a. an der Gründung des „Verein(s) für das Wohl der arbeitenden Klassen“ beteilig, der den Bau von Wohnungen durchführte. Die Arbeiterfamilien sollten günstig wohnen, außerhalb der Stadt, aber doch nicht zu weit von der Arbeitsstelle liegen, um keine unnötigen Fahrtkosten zu erzeugen. Im Juli 1892 zog der erste Bewohner in Ostheim ein und am Jahresende wohnten bereits 700 Menschen aus 134 Familien dort. Die Berufe der Haushaltsvorstände waren Maschinenbauer, Handwerker wie Schuhmancher, Tagelöhner, aber auch kleine Beamte oder Angestellte.
In seinem 1893 angefertigten Bericht beschrieb Pfarrer Lempp eingehend die Ostheimer Verhältnisse: „Wenn irgendetwas den Charakter des Ostheimer Lebens bezeichnet, so ist‘s eben das, daß ein Gefühl des Fremdseins die Leute beherrscht. Es ist nur das äußerliche Nebeneinander, das die Leute verbindet, noch kein inneres Band.“
Aktenkundig wird Ernst Scheufler mit 18 Jahren zum ersten Mal 1911 als er zu 12 Tagen Gefängnis wegen Sachbeschädigung und wegen Beamtenbeleidigung und ruhestörenden Lärm verurteilt wird. Ernst war von Beruf Schmid und arbeitete als Zuschläger, d.h. als Gehilfe. Bis zu seiner Einberufung im September 1914 im 1. Weltkrieg finden sich weitere 6 Verurteilungen in den Akten. Im Juli 1915 wird er mit einem Durchschuß des linken Fußes verwundet. Sein Militärakte beschreibt ihn 1,76m groß, schlank und schwarzhaarig und „mit Tätowierung am rechten Goldfinger sowie am ganzen Leib“.
Offensichtlich hatte er mit Normen und Regeln Probleme: er kehrte vom Urlaub nach dem Zechen mit Freunden nicht in die Kaserne zurück und wurde wegen mehrmaligen Fernbleibens von der Truppe, aber auch Diebstahl vom Kriegsgericht zu einer Gesamtstrafe von 4 Jahren und 1 Monat verurteilt, die er in Ulm und Heilbronn zu verbüßen begann. Die Strafe wurde am 23.5.1918 ausgesetzt, damit Ernst wieder mit der Truppe ins Feld ziehen konnte. Er zog aber lieber mit Freunden in Cannstatt durch die Gaststätten, wurde im August von der Polizei wieder geschnappt und erneut verurteilt und musste im Festungsgefängnis Ulm einsitzen. Laut gerichtsärztlichem Gutachten sei Scheufler „leicht erregbar“ gewesen. Das Ende des 1. Weltkrieges brachte auch für ihn die Freiheit: am 19.November 1918 wurde aufgrund der allgemeinen Amnestie entlassen.
Im Februar 1920 heiratete er Thekla Helena geb. Zwicker, aber die Ehe hielt nicht lange: 6 Jahre später wurde sie wieder geschieden. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wird als Beruf von Ernst Scheufler Tagelöhner in den Akten angegeben. Er geriet immer wieder wegen kleinkriminellen Delikten mit dem Gesetz in Konflikt: illegaler Vogelfang, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Hehlerei, Beamtenbeleidigung, grober Unfug. Schließlich wurde er 1928 wegen Zuhälterei zu 5 Monaten und 15 Tagen Gefängnis verurteilt, die er ab 3. Juli 1928 in der Haftanstalt Schwäbisch Hall und im Landesgefängnis Ulm bis zum 15. November 1928 verbüßte.
In den Strafakten ist auch eine Charakterisierung eines Zeugen zu finden: „Wenn die Mutter bei der Nachricht von der Verhaftung des Sohnes nur sagen kann: ‚Gott sei Dank, dann kann ich doch wieder ruhig schlafen‘ …Er hat in seinen Räuschen schon das ganze Haus in Atem gehalten, sodass die Leute zum Fenster hinaus nach Hilfe rufen mussten…
Ab 1933 ist Ernst Scheufler er nicht mehr in der Teckstraße gemeldet. Wir wissen nicht, ob ihn seine Eltern aus der Wohnung geworfen haben oder was der Auslöser war. Seine Mutter ist am 29. Dezember 1934 gestorben, sein Vater am 8. Januar 1937.
Danach findet sich nichts mehr von Ernst Scheufler in den Akten. Vermutlich war er wohnsitzlos und hat er sich auf Wanderschaft begeben, denn die nächste Spur, die wir gefunden haben, ist die Übernachtung hier in der Wanderherberge in Ludwigsburg in der heutigen Gartenstraße 17 – damals Ernst-Weinstein-Straße 17. Am 21.12.1938 wurde er in einer Razzia aufgegriffen und ins KZ Dachau mit dem Vermerk AZR (= „Arbeitszwang Reich“) eingeliefert. Von dort wurde Ernst Scheufler am 21.3.1939 ins KZ Mauthausen als Nr. 164 in den Block 10 gebracht. Das KZ Mauthausen gehörte zur Kategorie 3, das hieß. in der Nazisprache „Vernichtung durch Arbeit“. Bereits am 8.4.1939 wird der Totenschein mit der Todesursache Herzschlag ausgestellt. Als Alter wird fälschlicherweise 40 Jahr und 4 Monate eingetragen – tatsächlich ist Ernst Gottlob Scheufler da 45 Jahre und 8 Monate alt.
Verwendete Quellen:
Adressbücher mehrere Jahrgänge, Stadtarchiv Stuttgart
Familienregister Scheufler/Zwicker, Standesamt Stadt Stuttgart
Geburtsregister 1893, Stadtarchiv Stuttgart, Nr. 2811
Familienregister Scheufler/Erhardt, Standesamt Stadt Stuttgart, Bd. 65, Nr. 780
Sterberegister 1937, Stadtarchiv Stuttgart
Evangelische Kirchenbücher Württemberg, 1500-1985, Taufregister, Abruf bei Ancestry.com
Militärstrafverfahren des XIII. Armeekorps – Einzelfälle, HStA Stgt, M78 Bü 174 und M 80 Bü 12/98
Gefangenen-Index 1928 Strafanstalt Schwäbisch Hall, StALB E 356 a I, Nr. 64
Gefangenenhauptbuch Strafanstalt Schwäbisch Hall, StALB E 356a I, Nr. 71
Landesgefängnis Ulm, StALB E 356 g, Bü.1339
Personalien der evang. Gefangenen, StALB E 356a I, Nr. 76
Bekämpfung von Bettel und Landstreicherei, 1913-1937, StALB PL 413, Bü 294
Bekämpfung des Wanderbettels HStA Stgt PL 413 Bü 80
Regelung des Wandererwesens 1936 -1944, HStA Stgt E 151(09, Bü 481
Innenministerium, Abteilung III: Polizeiwesen, HStA Stgt E 151/03, Bü 590
Belegung der Wanderarbeitsstätten im April 1938, StALB PL 413 Bü 130
Datenbank Auszug, KZ-Gedenkstätte Dachau
Schreibstubenkarte KZ Dachau, Sign.01010607 oS / ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Listenmaterial KZ Dachau/Zugangsbuch,.Sign. 8056129 / ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Veränderungsmeldung KZ Dachau 17.01.1939 – 5.3.1940, Sign. 8056129 Dokk. 9909703 – 712/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen / ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Listenmaterial KZ Dachau/Überstellung nach KZ Mauthausen, Sign. 8057600 ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Mauthausen. Sign.01012603 oS, Listenmaterial KZ Mauthausen Sign. 01012603 oS ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Leichenschauschein Individuelle Unterlagen KZ Mauthausen, Sign. 01012603 oS / ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Verwendete Literatur:
Ayas, Wolfgang: „Asozial“ und „gemeinschaftsfremd“. Wohnungslose in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in: Wohnungslos 3/04
Ayas, Wolfgang: „ Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933 -1945, Koblenz 1998
Ayas, Wolfgang: „Asoziale“ – die verachteten Verfolgten in: Dachauer Hefte 14. „Verfolgung als Gruppenschicksal“, 14. Jg. 1998, Heft 14
Ayas, Wolfgang: Wohnungslose im Nationalsozialismus. Begleitheft zur Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Bielefeld 2007
Blessing, Elmar: Ostheim und seine Schulen, 1903-2003, hrg. von MUSE-O im Auftrag der GHS Ostheim, Stuttgart 2003
https://www.die-siedlung-ostheim.de – Abruf 20.10.21
Hörath, Julia: “Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938,
Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen: Kurzgeschichte der Konzentrationslager Mauthausen und seiner drei größten Nebenlager Gusen, Ebensee und Melk, Wien o.J.
Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016 , S. 166 – 187
Weinmann, Martin (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem (CCP), Frankfurt 1990, S. 375
Walter Mugler