Verzicht auf die Rettung – aus Liebe
Friedrichstraße 22
Hannelore Wertheimer, geboren am 12. September 1926 in Stuttgart, lebte mit ihrer Mutter Ida (genannt Irma), dem Vater Josef und dem älteren Bruder Hans in Ludwigsburg.
Die Eltern hatten 1919 geheiratet und waren seit 1920 in Ludwigsburg ansässig. Der Vater war Handelsmann und betrieb – zeitweise mit seinem Schwager Josef Neuburger zusammen – in der Friedrichstraße 22 eine Viehhandlung. Dort wohnte die Familie im ersten Stock, nachdem sie 1922 in der Seestraße 22 gemeldet war und von 1928 bis 1930 am Hohenzollernplatz 5 gewohnt hatte. Die letzte Ludwigsburger Adresse der Familie Wertheimer war 1939/1940 in der Leonberger Straße 18, jedoch war sie hier schon zwangsweise eingewiesen worden.
«Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen. Soweit es noch nicht geschehen sein sollte, sind alle zur Zeit eine deutsche Schule besuchenden jüdischen Schüler und Schüler/innen sofort zu entfernen.» (Erlass zum Schulunterricht an Juden vom 15. November 1938)
Hannelore Wertheimer und ihr Bruder Hans gingen in Ludwigsburg zur Schule. Einige Ludwigsburgerinnen (darunter meine Mutter Ruth Macco) erinnern sich noch gut an Hannelore als Klassenkameradin in der Klasse 3b der evangelischen Grundschule in der Schulstraße beim Arsenalplatz. Und sie erinnern sich an Besuche bei der Familie, so beispielsweise zu einem Laubhüttenfest im Garten der Friedrichstraße, zu dem auch nicht-jüdische Kinder eingeladen waren.
Doch ab 1936 durfte die Jüdin Hannelore nicht mehr mit diesen Mädchen in die Schule gehen. Am 21. November 1935 hatte der Ludwigsburger Gemeinderat beschlossen:«Es soll der Versuch gemacht werden, die die Ludwigsburger Volksschulen besuchenden nicht-arischen Schüler einer Stuttgarter Judenschule zu überweisen…»
Wie andere Ludwigsburger Schüler und Schüler/innen, beispielsweise die noch jüngere Marie Theres Elsas, musste Hannelore nun täglich nach Stuttgart in die jüdische Volksschule fahren.
Die gnadenlose Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger aus der Gesellschaft aber ging immer weiter. «Juden werden von den Ludwigsburger Vieh- und Pferdemärkten ausgeschlossen.» (Verfügung des Ludwigsburger Oberbürgermeisters vom Februar 1937)
Das war nur der Anfang der Boykottmaßnahmen gegen jüdische Betriebe gewesen, bald wurden die noch verbliebenen jüdischen und nicht enteigneten, im Nazijargon nicht «arisierten» Geschäfte und Betriebe endgültig zur Schließung gezwungen: am 13. Dezember 1938 musste auch der Viehhändler Josef Wertheimer seine «Geschäftsaufgabe» melden.
Hannelores Bruder Hans, der, nachdem er von 1936 bis 1937 die Ludwigsburger Handelsschule besucht hatte, inzwischen in Mühlacker eine Schlosserlehre machte, war wie fast alle jüdischen Männer in Ludwigsburg nach dem Pogrom vom 9./10. November 1938 verhaftet worden und blieb zwei Monate im KZ Dachau inhaftiert. 1940 konnte er jedoch in die USA emigrieren.
Bald darauf, im Dezember 1942, wurden Hannelore und ihre Eltern von Ludwigsburg nach Baisingen zwangsumgesiedelt. Nachdem die Stadt Ludwigsburg darauf verzichtet hatte, nach Überlegungen der NSDAP-Kreisleitung, ein leerstehendes Eglosheimer Barackenlager in ein «Judendorf» umzuwandeln und die Ludwigsburger Juden dort zu konzentrieren, wurden nun die noch verbliebenen jüdischen Bürgerinnen und Bürger nach Baisingen und in andere Orte – ältere Menschen in sogenannte «Jüdische Altersheime» in ganz Süddeutschland – zwangsweise umgesiedelt, um ganze Städte wie Ludwigsburg «judenfrei» zu machen. Und sie letztendlich dort für den Abtransport in die Vernichtungslager zu sammeln.
Von Baisingen aus ging am 16. März 1942 über das Deutsche Rote Kreuz ein Brief nach New York an Siegfried Geismar, bei dem der Sohn Hans inzwischen lebte: «Wir sind alle gesund, hoffe Ihr alle auch. Warum schreibt Hans nichts? Gruß Josef, Irma.»
Die drei hatten noch versucht, wie der Sohn und Bruder auch nach den USA auszuwandern. 1941 bekamen Ida und Josef Wertheimer schließlich auch Affidavit (eine Art Bürgschaft eines amerikanischen Bürgers) und Visum, tragischerweise aber nicht ihre Tochter Hannelore. Daraufhin verzichteten die Eltern auf die ihnen mögliche Flucht und blieben bei ihrer Tochter in Deutschland.
Hannelore arbeitete und wohnte vom 12. Januar bis 31. März 1942 als Haushaltspraktikantin im «Jüdischen Altersheim» Herrlingen, danach wohnte sie wieder in Baisingen bei den Eltern. «Geliebter Hansel! Wir gesund. Reisen nächster Tage in Margots Nähe. Sei unbesorgt. Bleib gesund, auf ein Wiedersehen hoffend, grüßen und küssen Dich Eltern und Deine Lore.»
Der kurze Brief vom 4. April 1942 an den Bruder im New Yorker Exil, indem sie die bevorstehende Deportation in Richtung Osten andeuteten – die erwähnte Tante Margot war nach Riga deportiert worden –, war für Hans Wertheimer das letzte Lebenszeichen seiner Familie.
Alle drei wurden am 26. April 1942 mit dem zweiten großen Transport Richtung Osten, über das Sammellager Killesberg in Stuttgart, nach Izbica bei Lublin deportiert und dort ermordet. Izbica war eines der größten Durchgangslager im Osten Polens, ein völlig überbevölkertes jüdisches Ghetto, gleichsam ‹Vorhölle› für den Weitertransport zigtausender deutscher und europäischer Juden in Vernichtungslager wie Sobibor oder Treblinka.
Kein einziger der 278 mit diesem Transport Deportierten aus Württemberg, unter denen sich auch viele Kinder und Jugendliche wie die damals gerade 16jährige Hannelore befanden, hat überlebt. Die allerletzten Lebenszeichen der Familie sind zwei kurze, offensichtlich zensierte Briefe vom 7. und 17. Juli 1942 an Bekannte in Ludwigsburg und Stuttgart, dann verliert sich die Spur.
Die genauen Umstände der Ermordung und die Todesdaten von Hannelore, Ida und Joseph Wertheimer sind unbekannt.
Christine Macco
Hans Wertheimer
geb. 21. Dezember1921 in Stuttgart, 1940 in die USA emigriert, dort verheiratet, eine Tochter, Inhaber einer Werkzeughandlung in Riverdale, N.Y., war mehrfach in Ludwigsburg zu Gedenkfeiern, zuletzt wohnte er in Fort Lee, New Jersey. Am 23. Dezember 2007 dort laut Todesanzeige in der New York Times verstorben.
Fotos oben: Montage von Portraits von Hanna, Ida und Joseph Wertheimer aus dem Bestand des Stadtarchivs Ludwigsburg
Stolperstein-Verlegung für Familie Wertheimer im September 2008