Julius, Paula und Werner Dreyfus

Ermordet in Riga

Friedrichstraße 94

Familie

Der Kaufmann Julius Dreyfus (geboren wurde er als Isidor, die Änderung des Vornamens ist 1927 beurkundet) lebte mit seiner Familie unter verschiedenen Adressen in der Stadt. Bereits 1894 war er nach dem Tod des Vaters zusammen mit seiner Mutter und Geschwistern nach Ludwigsburg gekommen. 1920 heiratete er seine Frau Paula, der ältere Sohn Herbert wurde 1922 geboren. Unter anderem besuchte dieser die Oberrealschule, die Vorläuferschule des heutigen Mörike-Gymnasiums. 1935 kam Werner zur Welt. Beurkundete Wohnadressen sind die Mathildenstraße, die Kurfürstenstraße, das Trompetergässle und seit 1937 die damalige Hermann-Göring-Straße (heute: Friedrichstraße). Von dort, Hausnummer 54, zog die Familie im November 1939 nach Stuttgart-West in die Hermannstraße 11. Julius Dreyfus verlor 1938 im Zuge der Arisierung seine Arbeitsstelle, die Bedrohung nahm zu.

Wachsender Druck

Die Familie bemühte sich um Auswanderung, auch der Wegzug aus Ludwigsburg scheint dem stetig wachsenden Druck der Nazis geschuldet. Stuttgart wurde offensichtlich als bessere Ausgangsbasis eingeschätzt. Aus Akten des Landesamts für Wiedergutmachung Stuttgart geht hervor, dass der letzte Wohnsitz dann ab Ende Mai 1940 in der Reinsburgstr. 107 war, von wo auch später die Deportation erfolgte.
Bei dieser Adresse handelte es sich um ein sog. „Judenhaus“, der Vorstufe der Gettoisierung. Nach der Einweisung war der anfangs noch vierköpfigen Familie nur noch ein Zimmer verblieben, so wie es bei diesen Zwangseinweisungen gang und gäbe war. Frau Marie Falkson beschreibt als Zeugin im späteren Verfahren die extrem beengten und bedrückenden Verhältnisse.

Letzter Ausweg – Emigration

Familie Dreyfus hatte schon nach der Pogromnacht im November 1938 die Absicht bekundet auf jeden Fall auszuwandern. Noch zu Ludwigsburger Zeiten belegt der Schriftverkehr mit der Spedition Barr, Moehring & Co in Stuttgart, dass Julius Dreyfus mehrere Anträge parallel laufen hatte. Die Ausreise nach Bolivien scheiterte am Bescheid vom Mai 1939, dass „ganz Südamerika gesperrt sei“ und sich die Auswanderung „nunmehr nach Palästina vollziehen“ würde. Am 22. August 1939 schreibt Julius Dreyfus aber an die Spedition, dass seine „Auswanderer-Angelegenheit vollständig geklärt“ sei und er die Einreisegenehmigung für Chile habe. Allerdings seien seine „Mittel eingeschränkt“ und der Umzug „so billig wie nur möglich“ zu kalkulieren. Die Tatsache, dass Umzugsgut bereits 1939 über Genua nach Valparaiso verschifft und die Kosten für die „Auswanderung“ gezahlt worden waren zeigt die Ernsthaftigkeit und empfundene Dringlichkeit dieser Pläne. Möbel und andere Gebrauchsgegenstände sind für die Passage sorgfältig aufgelistet, in Kisten (Lifts) sortiert und die Kosten berechnet. Der amtliche, öffentliche und psychische Druck wuchs stetig an, aber offenkundig gelang es nicht, die bürokratischen Hürden der Naziverwaltung, die Restriktionen der möglichen Aufnahmeländer und weitere Hemmnisse zu überwinden. Die Eltern und der kleine Werner mussten bleiben und warten. Die genauen Hintergründe liegen im Dunkeln.

Lediglich der 19-jährige Herbert schaffte im April 1941 die Auswanderung, zu der er sich bereits nach seiner Inhaftierung in Welzheim 1939 verpflichten musste.

1. Dezember 1941: Auftakt der Deportationen aus Württemberg und Hohenzollern

Am 1. Dezember 1941, verließ der erste Deportationszug den Stuttgarter Nordbahnhof. An jenem Tag begann für die Juden in Württemberg und Hohenzollern der Holocaust. Zielort des ersten Transports war Riga in Lettland. Dem Transport folgten elf weitere. Im Februar 1945 fuhr der letzte Deportationszug vom Stuttgarter Hauptbahnhof ab. Insgesamt wurden etwa 2500 Männer, Frauen und Kinder aus Württemberg und Hohenzollern verschleppt. Nur die wenigsten von ihnen überlebten die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. 180 Personen kehrten zurück.
Aus über fünfzig Orten in Württemberg und Hohenzollern wurden die jüdischen Bürger deportiert – und dafür zunächst zum Sammelplatz auf dem Stuttgarter Killesberg verbracht. Die ersten „Zuführungen“ aus diesen Orten begannen bereits in den letzten Novembertagen 1941. Die Deportationen der badischen Juden in das Internierungslager Gurs in den Pyrenäen hatten bereits im Jahr zuvor, im Oktober 1940 begonnen.
Auf den Transportlisten finden sich auch die Namen von Julius, Paula und Werner Dreyfus.
»Killesberg! Diese Nacht des Wahnsinns und des Grauens bleibt mir unvergessen.« So beschreibt eine Frau aus Ulm den Aufenthalt im Durchgangslager auf dem Stuttgarter Killesberg. Dorthin werden am 27. November 1941 ungefähr eintausend Menschen jüdischer Abstammung aus ganz Württemberg und Hohenzollern gebracht. In der so genannten »Ehrenhalle des Reichsnährstandes«, die für die Reichsgartenschau 1939 errichtet worden ist, werden sie untergebracht. Sie werden die ersten Opfer von insgesamt mehr als 2500 jüdischen Mitbürgern, die über das Durchgangslager auf dem Killesberg in die Sammel- und Konzentrationslager Riga, Iżbica, Auschwitz, Buchenwald, ins Ghetto Theresienstadt und in ein Lager bei Wolfenbüttel deportiert werden. Die meisten von ihnen kehren nie zurück.
Grundlage der ersten Deportation aus Stuttgart am 1. Dezember 1941 nach Riga ist der Erlass der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Stuttgart an die Landräte und Polizeiinspektoren vom 18. November 1941. »Im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung«, die mit ähnlichen Erfassungen in Mähren, Böhmen, der Ostmark und anderen Gebieten des Altreichs bereits eingesetzt hatte, werden rund tausend jüdische Mitbürger aus Württemberg für einen Deportationszug ausgewählt und auf dem Killesberg »konzentriert«.


Vorbereitung, Auswahl und Zusammenstellung des Transports werden der »Jüdischen Kultusvereinigung Württemberg« aufgeladen. Die Kultusvereinigung hat die Teilnehmer des Transports zu benachrichtigen und einzuberufen. Der Erlass bestimmt detailliert, wie viel und welches Gepäck mitgenommen werden darf: Es ist nicht viel mehr als das Nötigste an Decken und Kleidern sowie ein »Mundvorrat« und fünfzig Reichsmark. Die Mitnahme von Schmuck und Wertgegenständen ist verboten, lediglich Eheringe sind ausgenommen. Die Betroffenen müssen die Kosten für den Transport selbst tragen und zu diesem Zweck insgesamt 57,65 Reichsmark pro Person bezahlen. Am 26. November wird mit der Sammlung der Angeschriebenen auf dem Killesberg begonnen, wo sie unter völlig unzulänglichen Bedingungen einige Tage verbringen müssen. »Von überallher kamen württembergische Juden in dieses Sammellager, und es herrschte ein unbeschreibliches Elend« (Victor Marx).Die Stuttgarter Stadtverwaltung lässt einen Film über das Sammellager drehen, in dem die drangvolle Enge in der Halle auf dem Killesberg unübersehbar ist. Doch um den Eindruck einer wohlgeordneten Auswanderung zu erwecken, werden Verpflegungspakete ins Bild gerückt und Gepäckstücke gezeigt, die ihre Besitzer jedoch nie wieder sehen sollten. Diese erste Deportation ist noch als »Umsiedlung« getarnt, daher sind Bau- und Küchengeräte sowie Sanitätszeug zur Mitnahme vorgesehen. Auch sind in deutsch-jüdischen Mischehen lebende, über Fünfundsechzigjährige und Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit vom Transport ausgenommen.

KZ Jungfernhof

Das Konzentrationslager Jungfernhof war ein temporäres, behelfsmäßiges Konzentrationslager im Dorf Jumpravmuiža, etwa drei bis vier Kilometer von Riga entfernt, nahe der Bahnstation Šķirotava. Das Lager bestand vom 3. Dezember 1941 bis März 1942 und diente zur vorübergehenden Unterbringung von Juden aus Deutschland und Österreich, deren Transportzüge ursprünglich Minsk zum Ziel hatten. Es wird teilweise auch Vernichtungsstätte oder Vernichtungslager Jungfernhof genannt.
Ein Überlebender schrieb über die Unterkunft: „Es gab keine Türen und keinen Ofen, die Fenster waren offen, das Dach war auch nicht in Ordnung. Es waren 45 Grad Kälte und der Schnee fegte durch die Scheune.“
Rund 800 der Gefangenen starben im Winter 1941/42 an Hunger, Kälte, Typhus und anderen Krankheiten. Die täglich anfallenden 20 bis 30 Leichen konnten wegen des gefrorenen Bodens nicht beerdigt werden. Dies war nach einiger Zeit erst möglich, als ein SS-Mann zwei Löcher in den Boden auf dem Feld sprengte. Die Behauptung einer Zeitzeugin, dort seien auch Gaswagen zum Einsatz gekommen, ist nicht weiter belegt und gilt als unwahrscheinlich.
Im März 1942 wurde das Lager aufgelöst. Unter einem Vorwand, sie kämen in ein – tatsächlich nicht existierendes – Lager in Dünamünde, wo es bessere Unterkünfte und eine Arbeitsmöglichkeit in einer Konservenfabrik gebe, wurden zwischen 1600 und 1700 Insassen während der Aktion Dünamünde mit Lastwagen in den nahe gelegenen Wald von Biķernieki gebracht. Dort wurden sie (wie zuvor schon Juden aus dem Ghetto von Riga) am 26. März 1942 erschossen und in Massengräbern verscharrt. Viktor Marx aus Württemberg, dessen Frau Marga und Tochter Ruth erschossen wurden, berichtete: „Im Lager wurde uns gesagt, dass alle Frauen und Kinder vom Jungfernhof wegkämen, und zwar nach Dünamünde. Dort seien Krankenhäuser, Schulen und massiv gebaute Steinhäuser, wo sie wohnen könnten. Ich bat den Kommandanten, auch mich nach Dünamünde zu verschicken, was er jedoch ablehnte, weil ich ein zu guter Arbeiter sei.“
450 Insassen wurden zurückbehalten und einem Arbeitskommando zugeteilt. Sie sollten die Spuren des Lagers verwischen und es wieder als Bauernhof tarnen. Dieses Arbeitskommando bestand noch ein Jahr. Wer überlebte, wurde dem Rigaer Ghetto zugeführt, das bis November 1943 bestand.

Herbert Dreyfus – ein Überlebender

Herbert erreicht im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern die Auswanderung. Er gelangt ab April 1941 über Spanien und Kuba in die USA und lebt später seit Beginn der 50-er-Jahre mit Frau und zwei Kindern als US-Bürger in Mexiko. 1968 gelingt es Beate Maria Schüßler im Rahmen ihrer Recherchen zu „Das Schicksal der jüdischen Bürger von Ludwigsburg…“ mit ihm in Briefkontakt zu treten. Einzelheiten zum Familienschicksal möchte Herbert Dreyfus aber offenkundig nicht preisgeben, „…denn sonst müsste ich ein Buch schreiben.“ In seinem Brief spricht er von Auschwitz als Todesort von Eltern und Bruder, obwohl die Deportation nach Riga bereits aktenkundig war. Herbert Dreyfus verdrängte wohl. Er kam nie wieder nach Deutschland zurück. Seine Interessen in den folgenden Verfahren werden ausschließlich von einer Anwaltskanzlei vertreten.

Wiedergutmachung/Entschädigung:

Herbert Dreyfus hatte Ende 1948 Rückerstattungsansprüche angemeldet.
1950 – 1956 erste Akten wegen Rückerstattung.
Im Mai 1962 ergeht ein Bescheid der OFD Stuttgart wegen Entziehung von Bankguthaben, Wertpapieren und Hausrat bzw. Wertsachen.
Im weiteren Verlauf des Jahres 1962 werden Bescheide erlassen für Entschädigungen zu Abgaben, Vermögenswerte, Transportkosten u.ä., das gesamte Verfahren wird erst 1972 abgeschlossen.
Otto Lechner

Quellen:
Joachim Hahn, Jüdisches Leben in Ludwigsburg, Karlsruhe 1998
Stadtarchiv Ludwigsburg
Staatsarchiv Ludwigsburg
Dokumentation „Zeichen der Erinnerung“ der Stiftung „GEISSTRASSESIEBEN“ Stuttgart
Portrait-Fotos: Stadtarchiv Ludwigsburg