Ermordet wegen einer Erkrankung
Friedrichstraße 35
Karl Essig wurde am 16. September 1887 in Ludwigsburg geboren. Sein Vater (geboren 1855) hieß ebenfalls Karl Essig und war Notariatsdiener mit Geburtsort Benningen, die Mutter Margarete Essig, geborene Scharpf, war 1860 in Eybach im Oberamt Geislingen zur Welt gekommen. Das evangelische Ehepaar hatte noch einen weiteren Sohn, den vier Jahre jüngeren Friedrich Wilhelm.
Seit 1909 wohnte die im Jahr zuvor verwitwete Mutter als Eigentümerin in der Friedrichstr. 35 – dies war somit auch der Wohnsitz des Sohnes Karl, bevor er in die Anstalt kam.
Karl erkrankte mit sechs Jahren an Scharlach, mit 14 Jahren sei er „schnell hochgeschossen“, später wird in der Anstalt seine Größe mit 187 Zentimeter und das Gewicht mit 65 Kilogramm angegeben.
Er besucht die Realschule, wo er „immer still für sich“ war. Mit 22 Jahren besteht er die Prüfung zum Notariatsassistenten. Das ärztliche Zeugnis vermerkt, dass er sich viel mit Hypnose beschäftigt und wenig Umgang gehabt habe.
Im November 1911 erkrankt er, man stellt bei dem 24jährigen Erregungszustände, Verfolgungsideen und Sinnestäuschungen fest. Er versucht zweimal, aus dem Fenster zu springen. Vom Dezember 1911 bis Juli 1912 ist er zweimal für einige Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt Weinsberg. Die Diagnose aus dieser Zeit lautet „Demenzparanoiker“.
Am 18. August 1913 kommt er von der Krankenanstalt Ludwigsburg in die Heilanstalt Christophbad bei Göppingen, von da wird er am 16. August 1920 auf Wunsch der Angehörigen nach Winnental verlegt.
Vier Tage nach seiner Einweisung schreibt er an die Mutter: „Bin von Christophbad Göppingen hieher gekommen (…) Ich habe immer den schrecklichen Gesundheitszustand zu Beginn meiner Krankheit Oktober 1911. Gesund werden ist ausgeschlossen.“
Der Austritt erfolgt am 30. Juni 1921 als „gebessert“. Zur vorherigen Diagnose kommt Katatonie hinzu (also Schizophrenie mit Krampfzuständen).
Zehn Jahre später, am 9. Oktober 1931 wird Karl Essig auf Ansuchen der Angehörigen erneut in Weinsberg aufgenommen. Fast neun Jahre lang bleibt er dort. Am 21. Juni 1940 wird er mit dem Eintrag „ungeheilt“ und dem Vermerk „verlegt“ aus der Patientenliste gestrichen. Am gleichen Tag werden 65 Menschen ohne Angabe des Zielortes „verlegt“.
Die Einwohnerkarte in Ludwigsburg endet mit dem Eintrag: Gestorben am 18. Juli 1940 in „Sonnenstein“ – in Schloss Sonnenstein in Pirna nahe Dresden war eine der Ermordungsanstalten der Nazis. Doch dieses bis heute offiziell vermerkte Datum ist mit großer Sicherheit ebenso wie der angegebene Ort falsch. Fachleute für Krankenmorde aus der Stuttgarter Stolperstein-Initiative wiesen uns darauf hin, dass der Transport, der am 21. Juni Weinsberg verließ, nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb führte und dass die dorthin gezwungenen Menschen noch am selben Tag dort ermordet wurden.
Um ihre Morde zu verschleiern, verschickten die NS-Täter und ihre Handlanger/innen die gefälschten Sterbedaten und -orte sowie falsche Todesursachen. Dass in den Akten der Einwohnermeldeämter beziehungsweise der örtlichen Archive die von Kriminellen manipulierten Daten immer noch offiziell zu sehen sind, könnte nur auf zwei Weisen behoben werden: Für jede Person müsste ein einzelner richterlicher Beschluss vorliegen – oder der Bundestag müsste die Korrektur durch ein Gesetz veranlassen. Da die Opfer von Krankenmorden nach wie vor keine große politische Lobby haben, ist dies bisher nicht geschehen. Und so passieren Fehler wie auf dem Stolperstein für Karl Essig: Hier stehen falsche Daten zu seinem Tod aus einer offiziellen Quelle. Zumindest an dieser Stelle berichtigen wir sie mit diesem Bericht.
Zahlungspflichtig für die Unterbringung von Karl Essig in Weinsberg war übrigens seine Mutter. Margarete Essig wurden beispielsweise für die letzten 81 Tage des Lebens ihres Sohnes in der Anstalt Weinsberg 234,09 Reichsmark berechnet. Im März 1943 starb sie in Ludwigsburg.
Christian Rehmenklau, Jochen Faber