Margarete Michelfelder

Ein Kind auf der Liste der Mörder

Benzengasse 10

Die Verlegung dieses Stolpersteins erhielt durch die begleitende Musik von Mitgliedern der Brenz-Band unter ihrem Leiter Horst Tögel einen besonderen Rahmen. Man spürte, dass die behinderten Musiker der Band von dem Schicksal der Margarete Michelfelder tief ergriffen waren. Auch die Anwesenheit zweier Cousinen und einer Nachbarin Margaretes aus der Benzengasse, die in ihrer Kindheit mit ihr eng befreundet waren und mit ihr gespielt haben, trugen zu der außergewöhnlichen Atmosphäre der Veranstaltung bei.

Margarete Michelfelder wurde am 28. Oktober 1934 in Ludwigsburg in der Gneisenaustraße 14 nahe der Talallee geboren.
Sie erkrankte früh an einer Hirnhautentzündung, die bald zu einer geistigen Behinderung führte. Wie die noch lebenden Verwandten berichteten, war sie ein ganz liebes, nettes und umgängliches kleines Mädchen. Und auch eine noch lebende Nachbarin und Freundin aus Kindertagen bestätigte mit allem Nachdruck: Die kleine Margarete war ein ganz, ganz liebes und herzensgutes Kind.

Der Besuch einer Schule war ihr allerdings verwehrt, weil ihre Behinderung zur Folge hatte, dass sie nicht sprechen konnte. Hingegen war ihr Gehör nicht beeinträchtigt, so dass sie am Geschehen des Alltags durchaus teilnahm.
Hätte es die Brenz Band schon damals gegeben, dann hätte sie sicher mit Begeisterung zugehört und sich gewünscht, auch bald ein Instrument, vielleicht eine Mundharmonika, spielen zu lernen, um dann all das, was sie mit Worten nicht sagen konnte, mit Musik auszudrücken.

Ihre Kindheit verlebte Margarete im Kreis ihrer Familie, die 1940 in das eigene Haus in der Benzengasse 10 zog (der Vater wurde während des Krieges Soldat und kam erst nach 1945 aus der Kriegsgefangenschaft wieder nach Hause). Von Pflugfelden aus erfolgten mit Mutter und Schwester häufig Besuche der Verwandtschaft in Höpfigheim.

Nach vorliegenden Unterlagen wurde Margarete Michelfelder am 16. Juni 1943 in die Landesanstalt Eichberg bei Wiesbaden eingeliefert, wobei davon auszugehen ist, dass sie direkt von Pflugfelden zwangsweise nach dort verbracht wurde. Damals sagte man dazu: Sie ist «abgeholt» worden.

Sie wurde also aus dem vertrauten Umfeld ihrer Eltern und ihrer Schwester, in dem sie wohlbehütet lebte, jäh herausgerissen. Was dieser Schock für ein Kind bedeutet, das ohnehin durch seine Behinderung ohne Unterstützung im Alltag völlig hilflos ist, kann man bestenfalls erahnen.

Die Anstalt Eichberg war im großen Umfang am so genannten Euthanasieprogramm der Nazis beteiligt. Sie unterhielt unter anderem eine «Kinderfachabteilung» – dort wurden in Wahrheit viele Kinder getötet.

Am 14. Juli 1943, also bereits einen Monat nach ihrer Einlieferung musste auch Margarete mit gut achteinhalb Lebensjahren in der Anstalt Eichberg ihr Leben lassen, weil sie den Anforderungen des verbrecherischen Naziregimes nach lebenstüchtigen und leistungsfähigen Menschen nicht genügte. Mit anderen Worten: Sie war aus der damaligen menschenverachtenden Sicht ein überflüssiger Schmarotzer, der für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft lediglich eine Belastung war und nur Geld und Nahrungsmittel kostete.

Der Mord an ihrem Kind brachte den Eheleute Michelfelder großes Herzeleid. Nur so ist es zu erklären, dass sie es erreichen konnten, dass ihnen der Leichnam des Kindes zur Bestattung herausgegeben wurde. Wie namhafte Erforscher des NS-Euthanasie-Programmes bestätigen, waren die Verantwortlichen der betreffenden Anstalten immer dann bereit, dieses Zugeständnis zu machen, wenn die Angehören hartnäckig genug die Herausgabe ihres Kindes verlangten. Der Grund war, dass man alles vermeiden wollte, was in der Öffentlichkeit zu einer Diskussion über die Tötungspraktiken hätte führen können.

So wurde es möglich, dass Margarete Michelfelder am 21. Juli 1943 nachmittags 3 Uhr im Friedhof Pflugfelden bestattet werden konnte. Die Grabrede hielt der Pflugfelder Stadtpfarrer Haug, der dafür Markus 10,14 («Lasset die Kindlein zu mir kommen») gewählt hatte.

Die offizielle Todesursache, die von der Anstaltsleitung Eichberg angegeben und von Pfarrer Haug in das Kirchenregister eingetragen werden musste, lautet: «schwachsinnig infolge Gehirnhautentzündung, Tod durch Lungenentzündung und Herzlähmung».

Diese Begriffe dürften aus den zynischen auch in den KZ üblichen Listen stammen, die von den Naziverbrechern willkürlich für die Angabe von Todesursachen verwendet wurden, wenn es darum ging, die wahre Todesursache Mord zu verschleiern.

Im gleichen Zusammenhang muss die Tatsache gesehen werden, dass nach mündlicher Überlieferung der Sarg des Mädchens nicht geöffnet werden durfte.

Dieser Stolperstein soll jeden, der an diesem Haus vorbeigeht, an das Schicksal und an den Tod des behinderten Kindes Margarete Michelfelder erinnern, das ein Opfer der verbrecherischen Nazidiktatur wurde. Und er soll zugleich Mahnung für uns alle sein, wachsam zu bleiben, damit es sich nicht wiederholen kann, dass Menschen wegen ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Behinderung verfolgt und getötet werden.

Gottfried Pampel

Fotomontage oben: Gebäude Benzengasse 10 im Jahr 2008

 

Bisher nicht bekannte Einzelheiten zum Schicksal von Margarete Michelfelder zeichnet Christian Hofmann in seiner Veröffentlichung auf:

Kinder – „Euthanasie“ und das Gesundheitsamt Ludwigsburg  

Opferschicksale aus Ludwigsburg geben Einblicke in die Bürokratie der Vernichtung im Nationalsozialismus

Ludwigsburger Geschichtsblätter Band 75/2021

Seite 140-173

Darin enthalten:  Einzelschicksale aus Ludwigsburg

Erna Wolf – Hans Mayer – Anita Henk

Margarete Michelfelder – Charlotte Schörg

 

Christian Hofmann stellt fest, dass Margarete Michelfelder, bevor sie am 16. März 1943 auf Anordnung des Reichsausschusses in Berlin in die Heilanstalt Eichberg gebracht werden musste, ab 6. März 1943 in der kirchlichen Anstalt Heggbach gelebt hat. Gegen den Willen ihrer Mutter musste sie von dort abgeholt werden.