Eine Reise hinter blinden Fenstern
Tiergärten 8, Neckarweihingen
In der Obhut der Psychiatrischen Anstalt Weinsberg befanden sich im Jahre 1940 auch Neckarweihinger Bürgerinnen und Bürger. Im Frauenhaus auf dem Weißenhof lebte Marie Betz zusammen mit anderen Kranken.
Die Patientinnen arbeiteten in der hauseigenen Landwirtschaft, im Garten und in der Wäscherei; auch wurden sie zu Küchenarbeiten, zum Näh- und Bügeldienst eingeteilt.
Im Herbst halfen die «braven Leutchen» den Weingärtnern der Umgebung bei der Traubenernte gegen ein Taschengeld. Marie kam aus einem Wengerterort, vielleicht war sie auch bei der Weinlese dabei. Denn arbeiten konnte sie, das hatte der Anstaltsleiter bestätigt.
Marie Betz wurde am 26. Mai 1877 in Neckarweihingen geboren – nachts auf ¾ 11 Uhr. Die Taufe fand am 3. Juni nach der Kinderlehre statt. Die Paten kamen aus Erdmannhausen, Poppenweiler und Mühlhausen – so steht es im Kirchenbuch.
Ihre Eltern waren Gottlob Friedrich Betz und Luise geborene Zeiher von Poppenweiler. Der Vater arbeitete als Steinhauer, wahrscheinlich im Hohenecker Steinbruch. 1904 starb der Vater, 1913 die Mutter.
Marie Betz war eine ledige Arbeiterin. Wann sie krank wurde, wissen wir nicht. Am 24. März 1924 kam sie in die Weinsberger Anstalt, damals war sie 46 Jahre alt. Ihre Aufnahmedaten kennen wir: Gewicht 52,5 kg; Größe 1,58 m; Augen blau; Haarfarbe dunkelblond; Hautfarbe gesund. Die weiteren Krankenakten über ihre Anstaltszeit wurden vernichtet.
In den süddeutschen Heilanstalten ging alles – so schien es – seinen gewohnten Gang. Doch seit Januar 1940 hatte sich etwas Gravierendes verändert: In unregelmäßigen Abständen kamen große graue Busse und holten Patienten, auch in Weinsberg – zur Verlegung, hieß es.
Auf der Transportliste zum 8. Mai 1940 strich der Anstaltsleiter Dr. Jooss 17 Namen, darunter auch den von Marie Betz. Die Frauen werden dringend im Anstaltsbetrieb gebraucht, argumentierte er. Vier Wochen Aufschub bis zum nächsten Transport – vier Wochen Leben!
Am Dienstagmorgen, den 4. Juni 1940, standen wieder die grauen Busse vor der Tür. Schon am Vorabend wurden die Abzureisenden bekannt gegeben: 64 Namen, 64 Frauen wurden Nummern auf den Arm geschrieben – auch dir, Marie. Diesmal konnte kein Aufschub erwirkt werden. Als Abschiedsgeschenk gab es eine neue Zahnbürste und ein Stück Seife; das hat den Frauen bestimmt gefallen. Das Reisebündel war schnell gepackt, hier besaß niemand viel.
Vielleicht hast du dich gefreut, Marie, dass du jetzt Bus fahren darfst. Doch die Fensterscheiben des Fahrzeugs sind aus Milchglas, so kannst du nicht hinaussehen – und niemand hereinschauen. Das ist nicht so schön. Aber im Bus ist es gemütlich; sogar Liegen für die Kranken gibt es.
Die Fahrt geht über Heilbronn nach Stuttgart, die Schwäbische Alb hinauf, dann am Gestüt Marbach vorbei in Richtung Münsingen. Die Bauern auf den Feldern schauen schweigend dem Bus hinterher, manche nehmen die Kappe ab. Aber das beunruhigt euch nicht, denn ihr könnt es durch die getrübten Scheiben nicht sehen.
Das Ziel heißt Grafeneck. Grafeneck – ein hübscher Name für das Schloss aus dem 16. Jahrhundert, welches am Ende einer langen Allee liegt. Bis 1939 war hier ein «Krüppelheim» für Männer. Aber Grafeneck 1940 ist anders: auf halber Höhe der Schlosszufahrt beginnt eine Anlage mit Postenhaus, Baracken und Wachhunden, umgeben von einem hohen Bretterzaun mit Stacheldraht.
Die Busse passieren den Schlagbaum und das Tor; sie halten schließlich vor einer Baracke. Als die Frauen aussteigen, sehen sie nur Hauswände und Bretterzäune. Bei der Ankunft heißt es gleich: alle ausziehen! Jeder Neuankömmling muss zur ärztlichen Untersuchung, wird dort befragt, begutachtet, gewogen und sogar fotografiert.
Anschließend treffen alle wieder in einem großen Raum zusammen. Die nackten Frauen bekommen alte Militärmäntel, die sie sich überwerfen, denn ihre Kleider sind schon eingesammelt. Seit dem Frühstück haben die Patientinnen nichts mehr gegessen; einige klagen, sie haben Hunger. Erst muss geduscht werden, heißt es, dann gibt’s Essen. Ja, duschen ist gut – Sauberkeit muss sein!
So warten Marie aus Neckarweihingen und die vielen anderen Frauen in einem Schlafsaal neben Betten, in denen sie nicht schlafen dürfen – kaum jemand wird jemals in diesen Betten schlafen. Eine Aufsichtsperson kommt und ruft zur Reinigung. Jetzt aber hurtig hinaus! Gehorchen haben die Frauen in Weinsberg gelernt. Hat jeder die neue Seife? Warum bekommen wir kein Handtuch, werden manche gedacht haben. Aber zum Fragen bleibt keine Zeit. Marie und die anderen werden aus dem Saal ins Freie gedrängt.
Die Frauen in den langen Mänteln folgen dem Pflegepersonal. Von der Baracke geht es zu einem bretterumzäunten Hof. Dahinter sind neue Gebäude zu sehen – und hohe Schornsteine. Das große Tor wird geöffnet, die Gruppe geht hinein; und für die 63 Frauen und Marie Betz aus Neckarweihingen schließt sich das Tor – für immer …
Mindestens 10.824 Menschen wurden hier mit Gas ermordet. In Grafeneck kamen die Opfer des Euthanasieprogramms, der später so genannten «Aktion T 4», zum größten Teil aus dem süddeutschen Raum. Der Totenschein von Marie Betz lautet auf den 18. Juni 1940, tatsächlich starb sie bereits am 4. Juni, dem Tag des Weinsberger Transportes nach Grafeneck. Als Todesursache wurde Lungenentzündung und Kreislaufschwäche angegeben, eine beliebte und unverfängliche Formulierung für den geplanten Mord.
Mit der Namensnennung im Grafenecker Gedenkbuch, auf dem Neckarweihinger Mahnmal und mit dem persönlichen Stolperstein soll Marie Betz und ihr Leiden nie vergessen werden.
Karin Kohler