Er vergaß vieles, doch nicht, wer ihn liebte.
Gartenstraße 45
Am 18. April 1928 heiraten Wilhelm Ruth und Katharina, genannt Käthe, geborene Schmitz in Neckarsteinach. Sechs Jahre zuvor hatten sie sich kennen gelernt. Wilhelm Ruth, evangelisch, von Beruf Oberkellner, ist am 7. Februar 1900 als jüngster von sieben Söhnen des Karl Ruth, Löwenwirt in Stock bei Murrhardt und dessen Ehefrau Julie geboren.
Für die fünf Jahre ältere Käthe Ruth, katholisch, geboren am 5. April 1895 in Trier, ist es die 2. Ehe. Sie ist geschieden. In erster Ehe war sie mit Alexander Torner verheiratet gewesen, der aus dem 1. Weltkrieg als Invalide zurückgekehrt war.
Angaben darüber wo und wie Wilhelm Ruth seine Kindheit und Jugendjahre verbracht hat konnte ich nicht finden. Es ist anzunehmen, dass er in Heilbronn aufgewachsen ist, da sein Vater 1907 die Gastwirtschaft in Stock aufgegeben hat. Die Familie war im gleichen Jahr nach Heilbronn-Böckingen verzogen. Im örtlichen Einwohnerbuch ist Karl Ruth in den darauffolgenden Jahren als Telegrafen- und Hilfsarbeiter aufgeführt. Eine Gastwirtschaft betrieb er laut Einwohnerbuch der Stadt Heilbronn nochmals für kurze Zeit zu Beginn der 1920er Jahre, als Inhaber der „Wirtschaft zur Sängerlust“ in Heilbronn. Wilhelms Brüder Alfred und Gustav sind, laut Einwohnerbuch, zur gleichen Zeit Inhaber des „Gasthof zur Traube“ in Heilbronn. Möglicherweise hat Wilhelm Ruth dort gearbeitet.
Wenige Monate nach der Heirat zieht Wilhelm Ruth zu seiner Frau nach Ludwigsburg. Sie wohnt bereits seit etlichen Jahren hier in der Seestrasse 10. Nach vorübergehenden Anstellungen als Hilfskellner arbeitet Wilhelm Ruth ab 1930 im Badhotel in Bad Niedernau. Bei seiner Arbeit dort machen ihm zunehmend gesundheitliche Probleme zu schaffen. Er verliert seine Merkfähigkeit. Sprechen und Artikulieren bereiten ihm grosse Mühe und machen seine Sprechweise unverständlich. Sein Gang ist unsicher und schwankend, was zu Stürzen führt. Die Arbeit als Kellner muss er aufgeben. Seine Frau klagt darüber, dass er auf Grund seiner Einschränkungen menschenscheu und ängstlich geworden sei. Er ziehe sich immer mehr zurück.
Für kurze Zeit befindet sich Wilhelm Ruth zu Untersuchungen im Bezirkskrankenhaus in Ludwigsburg. Er wird im Mai 1931 zur Weiterbehandlung in die Nervenklinik nach Tübingen überwiesen. Die dort durchgeführten Therapien bleiben trotz bekannter Diagnose ohne Erfolg. Wilhelm Ruth ist in der Nervenklinik sehr unglücklich, leidet unter Heimweh, halluziniert. Dem Pfleger gegenüber wiederholt er mehrmals, dass er die Stimme seiner Frau vor der Tür des Krankenzimmers höre. Ende August holt Käthe Ruth auf eigenen Wunsch ihren kranken Mann nach Hause ab. Das kinderlose Ehepaar wohnt jetzt in der Gartenstrasse 45 in Ludwigsburg.
Käthe Ruth versorgt ihren Mann, laut der Aussage der Fürsorgerin: „wie ein Kind“, bis der Hausarzt seine Unterbringung in die Heilanstalt in Weinsberg veranlasst. Er begründet dies damit, dass Wilhelm Ruth unter „Verfolgungswahnsinn“ leide.
Zwischen Februar und September 1932 und zwischen Mai 1933 und Oktober 1934 ist Wilhelm Ruth Patient der Heilanstalt in Weinsberg. Nach diesen beiden Aufenthalten scheint jeweils Besserung eingetreten und die Beurlaubung nach Hause möglich zu sein. Doch Käthe Ruth ist auf Dauer mit der Versorgung und Pflege ihres kranken Mannes überfordert. Wilhelm Ruth wird im April 1935 erneut, jetzt als ständiger Patient, in die Heilanstalt in Weinsberg aufgenommen. Als Sozialrentner befindet er sich auf Rechnung der Kreisfürsorgebehörde in der Heilanstalt, seine Invalidenrente wird von der Kreisfürsorgebehörde vereinnahmt.
In den darauffolgenden Jahren wird Wilhelm Ruth überwiegend als ruhiger, gutmütiger, „geistesschwacher“ Kranker mit Denkausfällen und unter Stimmungsschwankungen leidend beschrieben. Seine Sprechweise bleibt unverständlich. Er benützt Notizzettel, auf welchen er Mitteilungen und Wünsche äussert. Meist zwei Mal wöchentlich schreibt er Briefe an seine Frau, auch Briefe an Verwandte oder offizielle Stellen. Häufig mit dem Wunsch und der Hoffnung verbunden, wieder nach Hause zurückkehren zu können. Die Briefe sind einfach, kindlich geschrieben, aber in richtiger Rechtschreibung, wie in den Krankenakten zu lesen ist. Seine Mithilfe in der Hauswirtschaft, vor allem in der Spülküche und im Garten, wird in den Berichten festgehalten. Im Jahr 1937 übersteht er eine sich über mehrere Monate hinziehende Lungenentzündung, von der er sich allem Anschein nach wieder gut erholt.
Die wenigen Einträge der Jahre 1938 und 1939 zeigen keine Veränderung in Wilhelm Ruths Verhalten. Konstatiert wird seine zunehmende Unsicherheit beim Gehen.
Am 2. August 1938 wird über ihn geschrieben: „Ist wunschlos und zufrieden. Träumt von besseren Tagen in denen er wieder bei seiner Frau sein kann, mit der er in regem Briefwechsel steht.“
Im Jahr darauf, am 13. Juni 1939: „Immer voller Wünsche, will sich jeden Tag Rauch-und Essenswaren aus Weinsberg mitbringen lassen. Schimpft, wenn es nicht genehmigt wird, will seine Verwandten besuchen….“
Am 4. Juni 1940: „Gutmütiger, schwachsinniger Paralytiker, kommt fast jeden Tag mit einem Wunsch, den er meist auf einen Zettel geschrieben hat, weil er sprachlich sehr schwer verständlich ist. Schreibt nichtssagende Briefe an seine Frau und Verwandte.“
Der „gutmütige“ Patient Wilhelm Ruth ist für die nationalsozialistischen Ärzte der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil-und Pflegeanstalten“ Tiergartenstrasse 4 in Berlin kein „lebenswerter“ Mensch. Sie entscheiden durch ein Kreuz hinter seinem Namen, dass Wilhelm Ruth „lebensunwert“ ist.
Mit einem „Sammeltransport“ wird Wilhelm Ruth am 19. August 1940 in eine andere Anstalt „versetzt“, wie im letzten Eintrag seiner Patientenakte steht.
An diesem Tag wird Wilhelm Ruth in der Tötungsanstalt Grafeneck durch Giftgas erstickt.
Unter dem Datum vom 21. August 1940 erhält Käthe Ruth einen Brief mit folgendem Wortlaut:
„Wie wir einer Karte an Ihren Mann Wilhelm Ruth entnehmen, haben Sie die Absicht diesen in nächster Zeit zu besuchen. Wir müssen Ihnen nun leider mitteilen, dass Ihr Mann am 19. VIII. mit einem Sammeltransport auf Anordnung des Innnenministeriums in eine andere Anstalt versetzt worden ist. Der Name der Anstalt ist auch nicht bekannt gegeben worden. Es handelt sich bei der Verlegung um eine Kriegsmassnahme des Reichsvertretungskommissars.“
Direkt. HA Dr.F.
Wann und mit welchen Angaben Käthe Ruth vom Tod ihres Mannes erfahren hat ist nicht bekannt. Sie lebte bis 1958 noch in Ludwigsburg, in grosser Armut. Von hier aus ist sie nach Stuttgart verzogen.
Mit dem Stolperstein vor dem Gebäude in der Gartenstrasse 45, wohin Wilhelm Ruth „träumte“ zurückkehren zu können, soll an sein Leben und Schicksal erinnert werden.
Gudrun Karstedt