Rolf Reichert

Brückenstraße 24

Rolf Reichert – ein Junge, der nicht einmal zehn werden durfte

Rolf Reichert wurde am 16. Januar 1931 in Ludwigsburg geboren. Elsa Reichert, Rolfs Mutter, wohnte mit dem kleinen Sohn bei ihrem verwitweten Vater in Neckarweihingen, in der Charlottenstrasse 24, heute Brückenstrasse. Wo die Reicherts lebten, steht heute kein Haus mehr – hier verläuft nun die Zubringerstraße aus Neckarweihungen zur Landesstraße 1100 nach Ludwigsburg beziehungsweise nach Marbach.

Rolf war anderthalb Jahre alt, als er unter Krampfanfällen zu leiden begann. Seine Mutter vermutete eine Impfung als Ursache dafür. In der Folge blieb Rolf in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung zurück. Häufig übernahm Elsas Grossmutter die Versorgung des behinderten Kindes, bis es vorübergehend in den Werner’schen Anstalten in Ludwigsburg untergebracht wurde. Im Juli 1936 konnte Rolf in das Gottlob-Weisser-Haus, das Pflegehaus der Evangelischen Diakonissenanstalt in Schwäbisch Hall, aufgenommen werden – mit dem Vermerk „nicht lernfähig“, „schwachsinnig“.

Als das Gottlob-Weisser-Haus im November 1940 durch NS-Behörden beschlagnahmt wurde, musste die Einrichtung innerhalb einer Woche geräumt werden. Zusammen mit über 200 Patienten wurde Rolf in die Heilanstalt Weinsberg eingewiesen, die zu diesem Zeitpunkt für viele Patienten nur „Durchgangsstation“ war. Im Rahmen des Euthanasieprogramms „Aktion T4“ waren seit Januar 1940 Bewohner aus der Heilanstalt in Weinsberg nach Grafeneck verlegt und ermordet worden.

Mit der Angabe: „ungeheilt entlassen“ im Abgangsbuch der Heilanstalt, wurde Rolf Reichert mit weiteren Patienten am 4. Dezember 1940 nach Grafeneck gebracht und dort durch Gas ermordet.

Gudrun Karstedt

Jenny Elsas

Solitudestraße 5

Jenny Elsas, geb. Nathan (1885 -1942)

(Foto: Oktober 1939, Quelle: Yad Vashem, privat)

Jenny Elsas, geb. Nathan, wurde am 22. April 1885 in Stuttgart geboren. Sie war das jüngste von vier Kindern des Stuttgarter Kaufmanns Albert Nathan und seiner Frau Karoline Nathan, geb. Mainzer.

Jenny Elsas heiratete am 25. März 1909 als „gute Partie“ den 31-jährigen Beno Elsas aus Ludwigsburg. Beno Elsas war Teilhaber im Betrieb der „Mechanischen Buntweberei Elsas & Söhne“ der angesehenen Familie Elsas in Ludwigsburg, Marstallstrasse 4. Das junge Ehepaar wohnte im 2. Stock des stattlichen Hauses Solitudestrasse 5 in Ludwigsburg.

Jenny und Beno Elsas hatten drei Söhne. Richard wurde am 12. Februar 1910 und Martin am 12. November 1912 in Ludwigsburg geboren. Der jüngste Sohn Ludwig kam am 11. September 1914 in Stuttgart auf die Welt.

Beno Elsas war seit Anfang August 1914 Soldat im Ersten Weltkrieg und starb als Unteroffizier der Landwehr bereits am 05. September 1914 in St. Dié in den Vogesen.

Fünf Tage nach seinem Tod hat Jenny Elsas den jüngsten Sohn Ludwig in Stuttgart zur Welt gebracht. Der frühe Tod ihres Mannes muss für Jenny Elsas ein lebenslanges Trauma bedeutet haben. Sie litt sehr unter dem Verlust ihres Ehemannes und erkrankte in der Folge psychisch, so dass sie Anfang der 1920er Jahren mehrfach verschiedene Kliniken aufsuchen musste.

Nach dem Tod ihres Mannes blieb Jenny Elsas als Witwe mit den drei kleinen Söhnen allein zurück. Sie wohnte mit den Kindern weiterhin in der Solitudestrasse 5 in Ludwigsburg.

Finanziell konnte Jenny Elsas durch die Unterstützung der Familie Elsas sowie durch eine staatliche Kriegshinterbliebenenrente (bis 1933) ohne Sorgen und in guten Verhältnissen leben. Sie führte in dem geschmackvoll eingerichteten Heim in der Solitudestrasse 5 einen gepflegten Haushalt mit Personal, u.a. Kindermädchen, Köchin, Wasch- und Bügelfrau. Die Wohnung war mit Biedermeier-Möbeln, wertvollen Teppichen, Porzellangeschirr und Kristallgläsern, einer Bibliothek und Kunstgegenständen ausgestattet.

Ihr Sohn Richard hat in einem Brief aus den 1950er Jahren geschrieben, dass seine Mutter nach dem Tod des Vaters ein sehr zurückgezogenes Leben geführt habe. Für die Mutter sei die eingerahmte Urkunde sehr wichtig gewesen, die besagte, dass der Dank des Vaterlandes der Kriegerwitwe Jenny Elsas und ihrer Familie für immer sicher sei. Diese Urkunde habe einen Ehrenplatz an der Wand in der Wohnung der Solitudestrasse 5 gehabt.

Als Kriegerwitwe fühlte sich Jenny Elsas daher unter der nationalsozialistischen Herrschaft und der ständig zunehmenden Judenfeindlichkeit in den 1930er Jahren zunächst relativ sicher. An Auswanderung hat Jenny Elsas erst viel später gedacht.

Die drei Söhne haben die Gefahren des Nationalsozialismus viel früher erkannt und konnten rechtzeitig aus Ludwigsburg und Deutschland fliehen. So ist der jüngste Sohn Ludwig bereits 1931 mit 17 Jahren aus Ludwigsburg geflohen, da er wegen seines Engagements in einer jüdischen „Anti-Nazi“-Jugendgruppe in Lebensgefahr war. 1936 ist er nach Südafrika ausgewandert. Der mittlere Sohn Martin wanderte ebenfalls 1936 nach Südafrika aus. Beide waren Soldaten in der südafrikanischen Armee. Richard, der alsältesterSohn früh die Rolle des „Mannes im Haus“ übernommen hatte, wohnte bis zu seiner Auswanderung in die USA im Jahr 1938 bei seiner Mutter in der Solitudestrasse 5. Warum Jenny Elsas nicht direkt mit ihm Deutschland verlassen hat, ist nicht bekannt.  

Die Repressionen der Nationalsozialisten gegenüber den jüdischen Bürgern nahmen auch im familiären Ludwigsburger Umfeld von Jenny Elsas immer weiter zu: so wurde der Betrieb „Mechan. Buntweberei Elsas & Söhne“ 1938 „zwangsarisiert“, das heißt enteignet, wodurch die Familie kein Einkommen mehr hatte. Der Seniorchef des Betriebes, Max Elsas (Onkel von Jenny Elsas‘ Ehemann Beno), ein vor der nationalsozialistischen Herrschaft hoch angesehener und geehrter Bürger der Ludwigsburger Stadtgesellschaft, blieb wegen seines hohen Alters in Ludwigsburg, wo er immer weiter ausgegrenzt, geächtet und isoliert wurde. Noch im Alter von 83 Jahren wurde Max Elsas 1942 (nach Zwangsaufenthalt im Jüdischen Altenheim Eschenau bei Heilbronn) in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo er im gleichen Jahr an Entkräftung und Krankheit verstarb.

Jenny Elsas stand mit ihren ausgewanderten Söhnen in engem Briefkontakt. So schrieb sie z.B. in einem Brief an Richard nach New York im August 1938, dass sie Englisch-Stunden habe und im Winter fleißig lernen möchte. Richard solle ihr auch bald ein bestimmtes Englisch-Buch schicken. Sie hat sich also auf ihre eigene Auswanderung vorbereitet.

Die Briefe von Jenny Elsas an ihre Söhne aus dieser Zeit (bis 1941) waren sehr familiär, zugewandt, ja, auch humorvoll. Sie berichtete in diesen Briefen über Bekannte und Verwandte im Raum Stuttgart, über deren Alltag und Neuigkeiten. Über ihre Situation unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft berichtete sie nicht direkt, nur indirekt schrieb sie manchmal von „geänderten Verhältnissen“ im Bekanntenkreis. Wie es ihr selbst in diesen Zeiten ging, darüber schrieb sie nicht. Sie klagte nicht und wirkte immer zuversichtlich.

Nach kurzem Aufenthalt in der Marstallstrasse 4 wohnte Jenny Elsas ab März 1939 in Bad Cannstatt in der Daimlerstrasse 40, in einer Wohnung von Isidor Gerstle, einem wohlsituierten Fabrikanten und Schwiegervater ihres Schwagers Theodor Elsas. Dort wohnte Jenny Elsas zusammen mit drei anderen Damen in möblierten Zimmern, in Vorbereitung und Hoffnung auf ihre baldige Auswanderung.

Ende der 1930er Jahre wurde auch Jenny Elsas das Bankguthaben bei einer Ludwigsburger Bank entzogen. Darüber hinaus musste sie Wertgegenstände wie Schmuck in der Städtischen Pfandleihanstalt, Stuttgart, zwangsabliefern.

Im Jahr 1940 gelang es Jenny Elsas noch, ihren umfangreichen und wertvollen Hausrat aus der Solitudestrassse 5 bei der Speditionsfirma „Gustav von Maur und Bodenhöfer“ in Stuttgart als Umzugsgut zur späteren Verschiffung nach Amerika einzulagern. Das Umzugsgut umfasste einen sog. Lift und 9 Kisten. Nur das für die Auswanderung vorgesehene Handgepäck hatte Jenny Elsas danach vermutlich noch bei sich.

Isidor Gerstle wurde – wie viele andere Juden aus dem Stuttgarter Raum – nach Haigerloch zwangsumgesiedelt, was zur Zentraliserung von Juden vor der Deportation in die Konzentrationslager diente.

Jenny Elsas musste daher die Daimlerstrasse verlasssen und kam bei einer anderen Familie in Stuttgart in der Kasernenstrasse 11 unter. Sie schrieb im Oktober 1941an ihren Sohn, dass sie in Stuttgart bleiben dürfe, da sie in Auswanderung stehe. Sie fühle sich bei der Familie gut aufgehoben und habe nun Zeit, alles vorzubereiten. In einem weiteren Brief von Ende Oktober 1941 drückte sie ihre Hoffnung und Freude aus, bald in New York mit ihrem Sohn sowie dem Schwager Theo Elsas und dessen Frau (Tochter von Isidor Gerstle) vereint zu sein. Vor ihrer Reise wolle sie noch die Gräber besuchen und auch nach Haigerloch fahren. Sie beendete den Brief mit den Worten: „Also macht Euch keine Sorgen, es gelingt mir alles und ich habe ja auch Hilfe.“

Zu dieser Zeit musste Jenny Elsas immer den „Judenstern“ tragen und als Absender ihrer Briefe „Jenny Sara Elsas“ schreiben. 

Die Versuche der Söhne Martin und Ludwig im Jahr 1941, ein Visum für ihre Mutter zur Einreise nach Südafrika zu erhalten, sind gescheitert. Im gleichen Jahr hat ihr Sohn Richard noch versucht, die Auswanderung von Jenny Elsas nach Amerika zu erwirken, was infolge der Kriegsereignisse nicht mehr gelang. Nur noch über den Umweg Kuba war eine Auswanderung möglich. Ihr Sohn Richard, wohnhaft in New York, hat von dort aus ein Visum über Kuba für Jenny Elsas beschafft. Ihm wurde mitgeteilt, dass dieses Visum ab dem 17.Oktober 1941 in der Berliner Legation (Gesandtschaft) zur Abholung bereit läge. Ob Jenny Elsas überhaupt wußte, dass in Berlin das Visum bereit lag und falls ja, ob sie nach Berlin hätte reisen können, ist nicht bekannt.

Am 16. Februar 1942 wurde Jenny Elsas (vermutlich von der Kasernenstrasse in Stuttgart) in das Wohnheim für jüdische Menschen aus Württemberg Schloss Weißenstein in der Nähe von Göppingen zwangsumgesiedelt. Dieses von den nationalsozialistischen Regierungsstellen beschlagnahmte Schloss war in der NS-Zeit ein Durchgangslager auf dem Weg in die Deportation und den Tod.

In der folgenden Woche schrieb Jenny Elsas in einem Brief an ihren Cousin Ernst Hilb in der Schweiz, dass sie nun in Weißenstein in einer Gemeinschaft lebe und sich gut eingelebt habe. Sie schrieb über das landschaftlich schön gelegene Schloss mit viel Schnee.

Aus einem Brief von Ernst Hilb an Richard Elsas vom 20. April 1942, in dem er eine Nachricht von Jenny Elsas an ihn wortwörtlich wiedergab, ist folgendes zu entnehmen: Ihre Umsiedlung von Weißenstein in das General Gouvernement (Anm.: damit ist die Deportation nach Polen gemeint) stehe nun an, der Abschied vom Schloss täte ihr leid. Sie habe sich so gut eingewöhnt und hätte gerne den Frühling in dieser „einzig schönen“ Gegend erlebt. Sie sei nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit 9 Genossinnen. Vermutlich war diese Mitteilung an den Cousin Ernst Hilb das letzte Lebenszeichen von Jenny Elsas.

Vier Tage später, am 26. April 1942, wurde Jenny Elsas von Schloss Weißenstein nach Izbica deportiert. Es liegen keine Dokumente zum Todeszeitpunkt von Jenny Elsas vor.

Nachwort

Izbica war ein Transit-Ghetto, von dem aus die deportierten jüdischen Menschen in die reinen Vernichtungslager Chelmo oder Sobibor transportiert wurden. Die dort An kommenden wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Jenny Elsas hat daher mit hoher Wahrscheinlichkeit den Mai 1942 nicht überlebt.

Aus amtlichen Unterlagen ist zu entnehmen, dass keine tatsächlichen Ermittlungen bzgl. des Todeszeitpunktes von Jenny Elsas durchgeführt wurden. Das Amtsgericht Ludwigsburg hat aufgrund einer Zeugenvernehmung (Dr. Ludwig Elsas, 1946) den 30. November 1942 als Todesdatum festgesetzt.

Das bei der Speditionsfirma „Gustav von Maur und Bodenhöfer“ in Stuttgart eingelagerte Umzugsgut von Jenny Elsas wurde von der Gestapo beschlagnahmt und in das Alte Schloß, Stuttgart, gebracht. Dort wurde es bei einer Versteigerung im Juli 1942 verschleudert.

Dr. Barbara Pietsch

Quellen:

Joachim Hahn: Jüdisches Leben in Ludwigsburg. Geschichte, Quellen und Dokumentation, hrsg. Von der Stadt Ludwigsburg – Stadtarchiv und vom Historischen Verein für Stadt und Kreis Ludwigsburg. Karlsruhe 1998

Staatsarchiv Ludwigsburg, Amtsgericht Stuttgart: Akten des Schlichters für Wiedergutmachung Stuttgart 1947 – 1975, FL 300/33 I

Stadtarchiv Ludwigsburg

Briefwechsel aus dem Nachlass von Jenny Elsas, private Mitteilungen einer Angehörigen

Unterlagen von Klaus Maier-Rubner

https://stolpersteine-ludwigsburg.de/max-elsas/

https://www.yadvashem.org/de.html

https://arolsen-archives.org

https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch

http://synagoge-haigerloch.de/de/juedische-geschichte/nationalsozialismus

http://www.alemannia-judaica.de/weissenstein_juedgeschichte.htm

Hans Walter

Hans Walter wurde als Kleinkind von Ärzten ermordet

Vorhofstraße 28

Hans Walter wurde am 06.02.1939 geboren. Seine Mutter war Martha Walter geborene Kurz, geboren am 17.12.1910 in Ludwigsburg-Ossweil. Der Vater von Hans ist Gottlob Walter, geboren am 16.05.1912. Er verstarb bereits vierzigjährig am 21.7.1952. Das Ehepaar hatte zudem noch eine Tochter, lebte in der Vorhofstraße 28 in Ludwigsburg-Ossweil und war evangelisch.

Bei Hans Walter wurde „Schwachsinn nach Gehirnblutung (Geburtstrauma)“ diagnostiziert. Die Entbindungsanstalt in Stuttgart protokollierte eine komplikationslose Geburt nach ca. 36 Stunden. Die Mutter berichtete, dass ihr von ärztlicher Seite erklärt wurde, dass drei Tage nach Hans’ Geburt eine Ader in seinem Gehirn gesprungen sei. Als Folge wurde dann Idiotie diagnostiziert. Hans Walter hatte eine frühkindliche Hirnschädigung.

Er war deshalb ab seinem dritten Lebenstag für fünf Wochen in der Kinderklinik Stuttgart. Die Eltern taten sich schwer mit einem schwerbehinderten Baby, dass viel schrie. Nach einem Jahr gaben sie Hans deshalb erneut in die Kinderklinik. Die Ärzte erklärten den Eltern, dass Hans’ Hirnschädigung mit geistiger Beeinträchtigung dauerhaft sei. Ebenso die wiederkehrenden epileptischen Anfälle und dass sie es aus der Klinik wieder entlassen müssten.

Hans war nun wieder zu Hause und die Mutter entsprechend ihren Aussagen immer wieder hilflos mit Hans Anfällen. Immer wieder brachte sie Hans nun in die Kinderheilanstalt in Ludwigsburg. Mit eineinhalb Jahren war Hans auch in der Werner´schen Kinderheilanstalt wegen Rachitis (Knochenerkrankung bei Kindern mit Fehlstellungen oder Verkrümmungen als Folge) und dann auch wegen einer Gehirnerschütterung. Der dort behandelnde Arzt Dr. Dieter erklärte ihr, dass sie damit rechnen müsse, dass Hans an einem seine Anfälle auch sterben könne. Offensichtlich hatte Hans Walter Grand-mal- / tonisch-klonische Anfälle. Die Symptome Schreien, gefolgt von krampfartiger Anspannung der Körpermuskulatur mit anschließenden Zuckungen, passen zu damaligen Diagnosen und den Schilderungen der Mutter.

Kliniken und Ärzte hatten die Vorgabe, Befundberichte von Kindern mit Behinderungen dem Reichsausschuss zu melden. Der Reichsausschuss mit dem tarnenden zusätzlichem Decknamen „zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ war in der „Kanzlei des Führers“ angesiedelt. Dieser Reichsausschuss war für die Organisation der Morde an Kindern mit Behinderungen zuständig.

Auch wenn es für vielerlei Mord und Unrecht im Nationalsozialismus Gesetze gab – für die Ermordung von Menschen mit Behinderungen gab es keine. Deren massenhafte Durchführung sollte heimlich geschehen. Nachdem Hans im November 1942 erneut in der Kinderklinik Stuttgart war, erstellte diese einen entsprechenden Meldebogen an den Reichsausschuss am 14.11.1941. Gemeldet wurde unter anderem, dass Hans seit Frühjahr 1941 täglich Krampfanfälle hatte. Ebenso, dass seine Entwicklung nicht altersgemäß sei. Einjährig konnte Hans mit Unterstützung sitzen, zweieinhalbjährig sei er geistig und körperlich zurückgeblieben. Zudem würde er nicht sprechen und laufen und sei noch inkontinent. Allerdings ist es auch heute noch normal, dass Kinder mit zweieinhalb Jahren Windeln tragen. Gemeldet wurde auch, dass Hans zeitweilig einen starken Bewegungsdrang mit Gebrüll habe. Von Bedeutung für den Reichsausschuss und dessen grauenhafter Nazi-Ideologie war sicherlich die Mitteilung, dass man bei Hans nicht davon ausgehe, dass Heilung oder Besserung eintreten könne. Im Mittelpunkt stand den Nazis nicht individuelles medizinisches Handeln, sondern die Gesundung eines übergeordneten „Volkskörpers“.

Sicherlich war es für die Familie nicht einfach mit Hans zuhause. Gute frühkindliche Beratungsstellen und therapeutische Angebote gab es nicht. Die Versorgung eines Kindes mit Behinderung war deshalb oftmals schwieriger als heute. Im Frühjahr 1942 bekam die Mutter dann eine Vorladung vom Gesundheitsamt Ludwigsburg. Am 30. Mai 1942 wurde ihr dort nahegelegt, Hans in einer Anstalt unterzubringen. Allerdings lehnte die Mutter ab und erklärte mit Unterschrift, dass sie in der Lage sei, Hans zu versorgen und zu verköstigen. Der Aufwand sei für sie nicht zu hoch. Sollte sich das ändern, werde sie sich melden. Das Gesundheitsamt meldete dies dem Reichsausschuss.

Leider wurde es für Martha und Gottlob zuhause schwieriger mit der Betreuung ihres Sohnes. Der kleinkindliche Hans verstand sicherlich eigene körperliche Abläufe nicht und Unwohlsein aufgrund der Epilepsie führte gelegentlich zu Aggressionen. Für die Eltern war dies nicht einfach und das Gesundheitsamt hatte doch nur Gutes über die Kinderheilanstalt in Eichberg bei Wiesbaden berichtet. Das Personal des Gesundheitsamtes handelte dabei wohl in bester Absicht.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass die wahre Bestimmung der sogenannten „Kinderfachabteilung“ in Eichberg bekannt war.  „Kinderfachabteilungen“ waren aber reine Tötungsabteilungen.  Dort wurden zwischen April 1941 und März 1945 mindestens 430, nach Schätzungen aber eher sogar mehr als 500 Kinder ermordet. Eichberg unterhielt auch eine Kooperation mit der psychiatrischen Uniklinik Heidelberg. In Heidelberg zuerst untersuchte Kinder wurden dann nach Eichberg zur Ermordung gesandt, um anschließend ihre Gehirne zu Forschungszwecken in Verbindung mit der „Euthanasie“ wieder in Heidelberg zu haben.

Am 6. Juli 1942 gaben nun die Eltern schriftlich das Einverständnis auf dem Gesundheitsamt Ludwigsburg, dass sie eine Einweisung von Hans Walter nach Eichberg wünschen. Die Mutter schrieb dann selbst die Einrichtung an. Sie schilderte, dass sie nur Gutes über die Landesheilanstalt Eichberg erfahren habe und deshalb beruhigt war. Gemeinsam mit ihrem Mann brachte sie ihren Sohn Hans nach Eichberg. Die AOK übernahm die Kosten der Anstaltsunterbringung. Die Aufnahme erfolgte am 22. September 1942. Keine vier Monate später bekam die Familie die Nachricht von Eichberg, dass Hans an einer Lungenentzündung gestorben sei.

Die einzige Funktion von „Kinderfachabteilungen“ war das Ermorden von Kindern mit Behinderungen. In der Landesheilanstalt Eichberg war Hans Walter in einer extra für das Morden eingerichteter Kinderbaracke in Randlage der Einrichtung unterbracht. Dort wurden die unter neunjährigen gesondert ermordet.  Das Morden geschah durch die Überdosierung von Medikamente (Luminal, Chloralhydrat oder Morphium) und / oder durch Nahrungsmittelentzug.

Gottlob und Martha Walter fuhren zur Beerdigung nach Eichberg. Am Leichnam ihres Sohnes konnten sie keine Auffälligkeiten entdecken. Hans Walter wurde am 16. Januar 1943, drei Wochen vor seinem 4. Geburtstag, ermordet.

Mein herzlicher Dank gilt Christian Hofmann. Er ist Archivar am Staatsarchiv Ludwigsburg. Seit vielen Jahren leistet er ehrenamtlich Erinnerungs- und Forschungsarbeit zu den Ermordungen von Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus. Ohne seine Beratung und Informationen hätte ich die Geschichte von Hans Walter nicht umfänglich recherchieren können.

Vielen Dank an Regina Witzmann. Sie ist stellvertretende Archivleitung im Stadtarchiv Ludwigsburg. Immer hilft, berät und unterstützt sie die Mitglieder der Stolperstein- Initiative Ludwigsburg geduldig und umfangreich.

Marc Haiber

Quellen:

Ludwigsburger Geschichtsblätter Bd. 75/2021: Kinder-„Euthanasie“ und das Gesundheitsamt Ludwigsburg von Christian Hofmann

Hie gut Württemberg – Beilage der Ludwigsburger Kreiszeitung 2.10.2021: Opfer von Kinder-„Euthanasie“ im Kreis Ludwigsburg von Christian Hofmann

HHStAW Abt. 631a Nr. 366: Vernehmung Martha Walter 20.7.1948

StAL FL30/12 III Bü1448

Stadtarchiv Ludwigsburg – Adressbücher, Meldekarte und Fürsorgeakte

Wilhelm Ruth

Er vergaß vieles, doch nicht, wer ihn liebte.

Gartenstraße 45

Am 18. April 1928 heiraten Wilhelm Ruth und Katharina, genannt Käthe, geborene Schmitz in Neckarsteinach. Sechs Jahre zuvor hatten sie sich kennen gelernt. Wilhelm Ruth, evangelisch, von Beruf Oberkellner, ist am 7. Februar 1900 als jüngster von sieben Söhnen des Karl Ruth, Löwenwirt in Stock bei Murrhardt und dessen Ehefrau Julie geboren.

Für die fünf Jahre ältere Käthe Ruth, katholisch, geboren am 5. April 1895 in Trier, ist es die 2. Ehe. Sie ist geschieden. In erster Ehe war sie mit Alexander Torner verheiratet gewesen, der aus dem 1. Weltkrieg als Invalide zurückgekehrt war.

Angaben darüber wo und wie Wilhelm Ruth seine Kindheit und Jugendjahre verbracht hat konnte ich nicht finden. Es ist anzunehmen, dass er in Heilbronn aufgewachsen ist, da sein Vater 1907 die Gastwirtschaft in Stock aufgegeben hat. Die Familie war im gleichen Jahr nach Heilbronn-Böckingen verzogen. Im örtlichen Einwohnerbuch ist Karl Ruth in den darauffolgenden Jahren als Telegrafen- und Hilfsarbeiter aufgeführt. Eine Gastwirtschaft betrieb er laut Einwohnerbuch der Stadt Heilbronn nochmals für kurze Zeit zu Beginn der 1920er Jahre, als Inhaber der „Wirtschaft zur Sängerlust“ in Heilbronn. Wilhelms Brüder Alfred und Gustav sind, laut Einwohnerbuch, zur gleichen Zeit Inhaber des „Gasthof zur Traube“ in Heilbronn. Möglicherweise hat Wilhelm Ruth dort gearbeitet.

Wenige Monate nach der Heirat zieht Wilhelm Ruth zu seiner Frau nach Ludwigsburg. Sie wohnt bereits seit etlichen Jahren hier in der Seestrasse 10. Nach vorübergehenden Anstellungen als Hilfskellner arbeitet Wilhelm Ruth ab 1930 im Badhotel in Bad Niedernau. Bei seiner Arbeit dort machen ihm zunehmend gesundheitliche Probleme zu schaffen. Er verliert seine Merkfähigkeit. Sprechen und Artikulieren bereiten ihm grosse Mühe und machen seine Sprechweise unverständlich. Sein Gang ist unsicher und schwankend, was zu Stürzen führt. Die Arbeit als Kellner muss er aufgeben. Seine Frau klagt darüber, dass er auf Grund seiner Einschränkungen menschenscheu und ängstlich geworden sei. Er ziehe sich immer mehr zurück.

Für kurze Zeit befindet sich Wilhelm Ruth zu Untersuchungen im Bezirkskrankenhaus in Ludwigsburg. Er wird im Mai 1931 zur Weiterbehandlung in die Nervenklinik nach Tübingen überwiesen. Die dort durchgeführten Therapien bleiben trotz bekannter Diagnose ohne Erfolg. Wilhelm Ruth ist in der Nervenklinik sehr unglücklich, leidet unter Heimweh, halluziniert. Dem Pfleger gegenüber wiederholt er mehrmals, dass er die Stimme seiner Frau vor der Tür des Krankenzimmers höre. Ende August holt Käthe Ruth auf eigenen Wunsch ihren kranken Mann nach Hause ab.  Das kinderlose Ehepaar wohnt jetzt in der Gartenstrasse 45 in Ludwigsburg.

Käthe Ruth versorgt ihren Mann, laut der Aussage der Fürsorgerin: „wie ein Kind“, bis der Hausarzt seine Unterbringung in die Heilanstalt in Weinsberg veranlasst. Er begründet dies damit, dass Wilhelm Ruth unter „Verfolgungswahnsinn“ leide.

Zwischen Februar und September 1932 und zwischen Mai 1933 und Oktober 1934 ist Wilhelm Ruth Patient der Heilanstalt in Weinsberg. Nach diesen beiden Aufenthalten scheint jeweils Besserung eingetreten und die Beurlaubung nach Hause möglich zu sein. Doch Käthe Ruth ist auf Dauer mit der Versorgung und Pflege ihres kranken Mannes überfordert. Wilhelm Ruth wird im April 1935 erneut, jetzt als ständiger Patient, in die Heilanstalt in Weinsberg aufgenommen. Als Sozialrentner befindet er sich auf Rechnung der Kreisfürsorgebehörde in der Heilanstalt, seine Invalidenrente wird von der Kreisfürsorgebehörde vereinnahmt.

In den darauffolgenden Jahren wird Wilhelm Ruth überwiegend als ruhiger, gutmütiger, „geistesschwacher“ Kranker mit Denkausfällen und unter Stimmungsschwankungen leidend beschrieben. Seine Sprechweise bleibt unverständlich. Er benützt Notizzettel, auf welchen er Mitteilungen und Wünsche äussert.  Meist zwei Mal wöchentlich schreibt er Briefe an seine Frau, auch Briefe an Verwandte oder offizielle Stellen. Häufig mit dem Wunsch und der Hoffnung verbunden, wieder nach Hause zurückkehren zu können. Die Briefe sind einfach, kindlich geschrieben, aber in richtiger Rechtschreibung, wie in den Krankenakten zu lesen ist. Seine Mithilfe in der Hauswirtschaft, vor allem in der Spülküche und  im Garten, wird in den Berichten festgehalten. Im Jahr 1937 übersteht er eine sich über mehrere Monate hinziehende Lungenentzündung, von der er sich allem Anschein nach wieder gut erholt.

Die wenigen Einträge der Jahre 1938 und 1939 zeigen keine Veränderung in Wilhelm Ruths Verhalten. Konstatiert wird seine zunehmende Unsicherheit beim Gehen.

Am 2. August 1938 wird über ihn geschrieben: „Ist wunschlos und zufrieden. Träumt von besseren Tagen in denen er wieder bei seiner Frau sein kann, mit der er in regem Briefwechsel steht.“

Im Jahr darauf, am 13. Juni 1939: „Immer voller Wünsche, will sich jeden Tag Rauch-und  Essenswaren aus Weinsberg mitbringen lassen. Schimpft, wenn es nicht genehmigt wird, will seine Verwandten besuchen….“

Am 4. Juni 1940: „Gutmütiger, schwachsinniger Paralytiker, kommt fast jeden Tag mit einem Wunsch, den er meist auf einen Zettel geschrieben hat, weil er sprachlich sehr schwer verständlich ist. Schreibt nichtssagende Briefe an seine Frau und Verwandte.“

 

Der „gutmütige“ Patient Wilhelm Ruth ist für die nationalsozialistischen Ärzte der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil-und Pflegeanstalten“ Tiergartenstrasse 4 in Berlin kein „lebenswerter“ Mensch. Sie entscheiden durch ein Kreuz hinter seinem Namen, dass Wilhelm Ruth „lebensunwert“ ist.

Mit einem „Sammeltransport“ wird Wilhelm Ruth am 19. August 1940 in eine andere Anstalt „versetzt“, wie im letzten Eintrag seiner Patientenakte steht.

An diesem Tag wird Wilhelm Ruth in der Tötungsanstalt Grafeneck durch Giftgas erstickt.

 

Unter dem Datum vom 21. August 1940 erhält Käthe Ruth einen Brief mit folgendem Wortlaut:

„Wie wir einer Karte an Ihren Mann Wilhelm Ruth entnehmen, haben Sie die Absicht diesen in nächster Zeit zu besuchen. Wir müssen Ihnen nun leider mitteilen, dass Ihr Mann am 19. VIII. mit einem Sammeltransport auf Anordnung des Innnenministeriums in eine andere Anstalt versetzt worden ist. Der Name der Anstalt ist auch nicht bekannt gegeben worden. Es handelt sich bei der Verlegung um eine Kriegsmassnahme des Reichsvertretungskommissars.“

Direkt. HA  Dr.F.

 

Wann und mit welchen Angaben Käthe Ruth vom Tod ihres Mannes erfahren hat ist nicht bekannt. Sie lebte bis 1958 noch in Ludwigsburg, in grosser Armut. Von hier aus ist sie nach Stuttgart verzogen.

Mit dem Stolperstein vor dem Gebäude in der Gartenstrasse 45, wohin Wilhelm Ruth „träumte“ zurückkehren zu können, soll an sein Leben und Schicksal erinnert werden.

Gudrun Karstedt

Elisabeth Schweizer

Die grausame Geschichte einer (uns) unbekannten Frau

Seestraße 60

Elisabeth Schweizer wurde als viertes von acht Kindern des Ehepaares Adolf Schweizer (*7.6.1862) und Friederike Schweizer (*7.6.1866) am 5. Juni 1894 in Ludwigsburg geboren. Der Vater war Bahnassistent. Die Familie wohnte in der Seestrasse 60. Von den acht Kindern starben vier im Säuglingsalter, nur ein Bruder und zwei Schwestern überlebten. Über Kindheit und Jugend Elisabeth Schweizers ist nichts bekannt. Sie erkrankte im Alter von 35 Jahren und wurde seit dem 8.5.1929 in der Heilanstalt Rottenmünster betreut. Am 21.11.1935 wurde sie von dort in die Heilanstalt Liebenau (Meckenbeuren) überführt. Die Diagnose lautete: Paranoide Schizophrenie (90 %). Die Erblichkeit der Erkrankung wurde mit dem Hinweis begründet, dass eine Schwester der Mutter im Alter schwachsinnig geworden sei und die Patientin, der Vater, die Mutter und eine Schwester der Mutter schwerhörig seien; als Degenerationszeichen wurden ausserdem die angewachsenen Ohrläppchen angeführt.

Liebenau war eine Einrichtung mit kirchlich-katholischem Charakter, die Bezeichnung und rechtliche Organisation einer kirchlichen Stiftung wurde erst 1970 eingeführt. Die Einrichtung bestand aus drei Häusern in Liebenau und in der Gemeinde Bodnegg. Sie wurde seit 1910 von dem Priester Josef Wilhelm (1875-1953) geleitet. Die Wahl dieser Anstalt hängt vermutlich mit der Bindung der Familie an die Katholische Kirche zusammen, der Vater war zeitweise Kirchenpfleger bei der katholischen Kirchengemeinde in Ludwigsburg.

Für die Bezahlung der monatlichen Pflegekosten in Rottenmünster und später in Liebenau war das Städtische Fürsorgeamt in Ludwigsburg zuständig, nachdem der Vater Adolf Schweizer schon im Mai 1931 verstorben war. Die Mutter versuchte aber trotz der geringen Witwenrente einen Beitrag von 50 Reichsmark monatlich an den Kosten zu übernehmen. Später war sie dazu nicht mehr in der Lage, da sie zusätzlich noch den arbeitslosen Sohn, bei dem sie wohnte, unterstützen musste. Sie zog mit der Familie des Sohnes zunächst nach Offenbach, dann nach Saarbrücken und dann wieder zurück nach Ludwigsburg in die Seestrass 60, wo sie am 15.12.1940 starb.

Über Elisabeth Schweizers Zeit in Liebenau ist uns nichts bekannt. Kriegsbedingt, wie es hiess, sollte 1940 in der Heilanstalt Liebenau, wie auch in anderen Heilanstalten Württembergs und Badens, Platz für andere Verwendungszwecke gemacht werden. 500 Betten für zivilinternierte Frauen mussten in Liebenau bereitgestellt werden. Auf Anweisung des Innenministeriums musste die entsprechende Anzahl an Patienten verlegt werden. Die Heilanstalt in Zwiefalten war als sogenanntes „Zwischenlager“ vorgesehen. Elisabeth Schweizer kam mit anderen Patienten aus Liebenau am 13. August 1940 in die völlig überfüllte Heilanstalt in Zwiefalten. Vielen Kranken blieb nur ein Strohlager als Bett, die Nahrung war mangelhaft und unzureichend. Der Aufenthalt Elisabeth Schweizers dort und damit auch ihr Leben, endete am 30. August 1940 mit ihrer, und der „Verlegung“ anderer Patienten, nach Grafeneck, wo sie noch am gleichen Tag durch Giftgas ermordet wurden.

Es ist nicht bekannt, wie Elisabeth Schweizers Mutter vom Tod ihrer Tochter erfahren hat. Zur Verschleierung des organisierten Krankenmords wurde den Angehörigen eine „angebliche“ Todesursache, in den meisten Fällen ein falsches Todesdatum und auch ein falscher Todesort mitgeteilt.

Mit dem Stolperstein vor dem Haus, in welchem Elisabeth Schweizer ihre Kindheit und Jugend erlebt hat, möchten wir die Erinnerung an sie und ihr Schicksal festhalten.

Gisela Scharlau / Gudrun Karstedt

 

Berthold, Mina, Leopold Hans Werner und Eva Doris Karoline Weil

Eine Ludwigsburger Familie wird ermordet

Hartenstein-Allee 5

Vor 14 Jahren begann die Ludwigsburger Stolpersteine Initiative die Geschichten von NS-Ermordeten dieser Stadt zu recherchieren.  Erschreckend ist, dass auch weiterhin immer noch viele Geschichten zu recherchieren und zu berichten sind. Erschreckend, wie viele Menschen von Ludwigsburg Opfer des Nazi-Terrors wurden– erschreckend, wie viel  Unterstützung dieser Terror  in erheblichen Teilen der Bevölkerung hatte. Und weil es passiert ist, kann es auch wieder passieren. Das zu verhindern ist unser aller Verantwortung.

Zufällig entdeckte ich bei einem Freund ein längst vergriffenes Buch von Karen Noetzel aus den 1990er. Es ging um die Geschichte des Nationalsozialismus in Asperg. In diesem Buch wurde am Rande die Geschichte der Familie Weil aus Ludwigsburg erzählt. Ich hörte zum ersten Mal von Mina, Berthold, Werner und  Evi Weil. Für dieses Buch bekam Karen Noetzel damals viele Anfeindungen – in Asperg wollte oder konnte man sich in Teilen noch nicht damit auseinander setzen, dass hoch angesehene und alteingesessene Familien Nazi-Verstrickungen hatten  und manche Ehrenbürgerschaften fragwürdig erschienen.

Ich nahm mit der heute in Berlin als Journalistin und Autorin arbeitende Karen Noetzel Kontakt auf und bekam erste Auskünfte über die Weils. Es freut mich, dass sie für den heutigen  Anlass einen kurze Grußbotschaft verfasste hat die ich nun Vorlesen möchte:

 Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Stolpersteinverlegung für Berthold, Mina, Werner und Evi Weil,

als ich vor mehr als 25 Jahren damit begann, zur Herrschaft des Nationalsozialismus in Asperg zu recherchieren, ahnte ich nicht, was emotional auf mich zukommen würde. Es war, glauben Sie mir, nicht nur einmal, dass ich das Aktenstudium unterbrechen musste, weil sich in den Dokumenten so unfassbar Grausames offenbarte.

Die Grausamkeit von Menschen an Menschen widerfuhr auch der Familie Weil, Berthold, Mina, Werner und Evi Weil. Berthold Weil war der Schwager Hans Frischauers, der eine Farben- und Lackfabrik in Asperg betrieb; daher der Bezug.

Das Leid dieser ehemaligen Nachbarn wäre der Vergessenheit anheim gefallen, gäbe es nicht das größte dezentrale Mahnmal der Welt, die Stolpersteine.

Ich spreche dem Erfinder der kleinen Bodendenkmäler, dem Künstler Gunter Demnig meinen Dank aus. Er hat einmal gesagt: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Herrn Demnigs Projekt ruft die Erinnerung an die von den Nazis Gedemütigten, Entrechteten, Verfolgten und Ermordeten an jenen Orten wach, an denen sie zuletzt freiwillig gelebt haben.

Ich danke der Stolperstein-Initiative Ludwigsburg und ihren Mitgliedern für ihre engagierte Arbeit. Sie hat es erst ermöglicht, dass heute in der Hartensteinallee 5 diese vier Stolpersteine verlegt werden. Damit entsteht ein weiterer Ort des Innehaltens, Gedenkens und ein Mahnmal gegen das Vergessen.

Vielen Dank! Und machen Sie weiter!

Ich grüße Sie alle ganz herzlich aus Berlin, Ihre Karen Eva Noetzel.

Nun zu den Weils: Die Eltern von Berthold Weil waren die in Ludwigsburg lebenden  Leopold Weil und Karoline geborene Löwenthal. Deren Grabstein gibt es heute noch auf dem Israelitischen Friedhof, innerhalb des neuen Friedhofs Ludwigsburg. Berthold Weil wurde 1891 in Ludwigsburg geboren und hatte 4 Geschwister: Seine Schwester Julie starb bereits einjährig, Bertha emigrierte mit ihrem Mann Moritz Strauß und ihrer Tochter 1933 nach Palästina, Theodor lebte mit seiner Frau und Tochter in Berlin. Diese  Familie wurde 1943 in Auschwitz ermordet und in Berlin sind Stolpersteine für sie verlegt.  Seine Schwester Meta Frischauer, ihr Mann Hans und ihre Kinder Robert und Walter wurden ebenso von den Nazis ermordet – für sie wurden bereits in Ludwigsburg 2009 Stolpersteine verlegt.

Berthold Weil heiratete 1925 34 jährig die 26 jährige Mina Weil, geborene Lämmle. 1927 freute sich das Ehepaar Weil über die Geburt ihres Sohnes Leopold Hans Werner (Rufname: Werner). 5 Jahre später 1932 wurde dann ihre Tochter Eva Doris Karoline (Rufname: Evi) geboren.

Die Familie Weil wechselte innerhalb Ludwigsburgs mehrmals den Wohnort. Im Einwohnerbuch von 1936 ist der Wohnort dann mit Hartenstein-Allee 5 angegeben. Es wird versucht, Stolpersteine an den letzten frei gewählten Wohnorten zu verlegen. Die vielen Schikanen und auch schon existenzbedrohenden Maßnahmen der Nazis noch vor der sogenannten „Endlösung“, gegenüber den als jüdisch eingestuften Mitbürger*innen machen dies nicht immer so einfach. Es ist unklar welcher Umzug von den Opfern noch freiwillig  und welcher aus finanziellen oder anderen Nöten letztendlich erzwungen war. Dies wird auch am Schicksal der Familie Weil deutlich und wir haben uns entschieden, an der Hartenstein-Allee 5 mit Stolpersteinen an die Familie zu gedenken.

In der rechten Hälfte dieses Gebäudes in der Hartenstein-Allee ist Familie Weil zuhause.

Berthold Weil  war von Beruf Kaufmann und Prokurist. Sein Vater Leopold Weil war bereits seit 1889 Teilhaber der Wachsfabrik / Chemischen Fabrik Weil & Eichert. Berthold Weil wurde in der Nachfolge des Vaters Fabrikdirektor dieser Ludwigsburger Firma. Bei seinem Einstieg war die Firma zu einem Drittel in jüdischem Besitz (die anderen 2/3 gehörten zu gleichen Teilen den Unternehmerfamilien Eichert und Zeh). Deshalb kam es nach 1933 zu zahlreichen Schikanen seitens Nazi-Verbände wie der DAF und zahlreichen NSDAP Dienststellen. 1935 stand das Unternehmen mit 14 weiteren Ludwigsburger Firmen auf einer Liste der Nationalsozialisten, in der zum Boykott dieser Firmen aufgerufen wurde. Um die jüdische Beteiligung des Firmenbesitzes zu verschleiern, beschloss man  die Umfirmierung in „Chemische Fabrik Zeh und Co.“. Bei zwar noch unveränderten Besitzanteilen war Name der jüdischen Familie Weil, nun nicht mehr im Firmennamen.

Kurz darauf wurde auf Betreiben von NSDAP Funktionären Berthold Weil zum Ausscheiden aus der Firma 1936 gezwungen. Berthold Weil fand man spottbillig ab. In einem Brief formulierte er hierzu rückblickend 1937, dass man ihn um die Hälfte seines Vermögens gebracht hatte. Bertholds Schwester Bertha Strauss und Mina Weils Nichte Gertrud Basto (geborene Frischauer), machten als Erben 1948 Rückerstattungsansprüche gegenüber der Chemischen Fabrik Ludwigsburg Zeh & Co. geltend. Diese begründete aber, letztendlich gerichtlich erfolgreich, mit ihren Firmenanwälten,  ein angebliches „wunschgemäßes Ausscheiden“ von Berthold Weil. Die Firma wäre damals völlig mittellos gewesen. Aus zwingenden unternehmerischen Gründen hätte das Ausscheiden von Berthold Weil  vorgenommen werden müssen. Das Ausscheiden wäre einvernehmlich und wunschgemäß gewesen. Es wurde fadenscheinig behauptet, dass die Firma darüber hinaus Berthold Weil eine übermäßige Ausbezahlung getätigt hätte, um ihm „eine auskömmliche Existenz zu gewährleisten“. Das Gerichtsurteil zu Gunsten der Chemischen Fabrik Ludwigsburg Zeh & Co. war ein Schlag ist Gesicht der überlebenden Verwandten von Berthold Weil. Heute heißt die Firma ZELU Chemie GmbH und hat ihren Sitz in Murr. Auf ihrer Homepage befindet sich zu ihrer Geschichte lediglich mit einem Satz ein Hinweis, dass man bereits 1889 als Weil & Eichert gegründet wurde. Auf schriftliche Anfrage der Stolpersteine-Initiative nach Unterstützung, Auskunft und firmeneigenen Unterlagen zu Berthold Weil, antwortete die Geschäftsführung der Zelu recht lapidar: Die heutige Zelu lasse sich zwar bis zur Gründung der Weil & Eichert AG im Jahre 1889 zurückverfolgen, ansonsten hätte man aber heute r keinen Bezug mehr zu diesem Unternehmen. Bei der heutigen Zelu scheint es offensichtlich derzeit kein Bewusstsein zu geben, dass man zwar nicht Schuld an den Verbrechen der Vergangenheit hat, aber doch sehr wohl eine Verantwortung für die Aufarbeitung und Erinnerung dieser sehr eng mit der eigenen Firmenhistorie verbundenem Schicksal der Firmengründerfamilie.

Aufgrund des erzwungenen Ausscheidens aus der Firma versuchte Berthold Weil eine Existenz in Spanien aufzubauen. Er gründete dort die Firma Weil & Gutierrez um wie in Ludwigsburg ja teilweise auch, Schuhcreme zu produzieren. Leider wurden 1936 im Spanischen Bürgerkrieg seine Maschinen in Alicante bei einer Bombardierung zerstört. Berthold Weil stand vor dem Nichts.

Nun suchte er sein Glück in Italien und ihm gelang die Ausreise nach Mailand. In der Zwischenzeit sind seine Frau und seine Kinder 1936 mehrmals umgezogen. Ab November 1936 wohnte man in Stuttgart in die Augustenstraße 36. In der anonymen Großstadt versuchte Mina Weil die Auswanderung nach Italien vorzubereiten. Dies gestaltete sich schwierig, da der nationalsozialistische Staat versuchte, so viel Geld wie möglich der jüdischen Bevölkerung abzupressen. Die Familie sollte für Berthold Weil eine Reichsfluchtsteuer in Höhe von 10 000 Reichsmark an das Finanzamt Ludwigsburg bezahlen. Nachdem man also der Familie ihrer Existenzgrundlage in Ludwigsburg beraubte, sollte Berthold Weil nun zusätzlich eine astronomisch hohe Summe dafür bezahlen, dass er aus diesem Grund ins Ausland geflüchtet ist. Skrupellos und gegenteilig wie hinterher 1948 von der Firma dargestellt, verhielt sich zudem die Chemische Fabrik Ludwigsburg Zeh & Co. Nachdem man Berthold Weil  bereits durch den Austritt aus der Firma um die Hälfte seines Vermögens gebracht hatte, wollte die Fabrik nun auch noch vom vermuteten Rest, wie der NS Staat auch, noch möglichst alles. Deshalb verklagte die Firma ihn zur Zahlung von 15 000 Reichsmark. Berthold Weil hätte unbefugt, was nachweislich aber nicht stimmte,  chemische Produkte nach ihren Rezepten fabriziert.  An einer wie 1948 behaupteten „auskömmlichen Existenz“ für Berthold Weil, war man bei der Ludwigsburger Chemiefabrik ganz offensichtlich nicht interessiert.

Die Familie sorgte sich nicht nur um die Beschlagnahmung ihres sämtlichen Restvermögens. Befürchtet wurde vor allem, dass man wegen diesen Forderungen nicht nach Italien auswandern dürfe. An eine Zukunft in Deutschland glaubten die Weils schon lange nicht mehr. Mina Weil wurde derweil auch von der Gestapo bedrängt, dass ihr Mann zurückkomme. 1938 gelang es ihr schließlich mit ihren beiden Kindern Deutschland zu verlassen und zu ihrem Mann nach Italien zu flüchten. Nach Auskunft ihrer Nichte gelang diese Flucht mit dem Auto.

Durch die Achse Berlin-Rom war auch den Weils klar, dass man im Mussolini-Staat nicht mehr sicher war. Die Familie fasste deshalb den Entschluss, nach Kuba zu emigrieren. Alle Möbel wurden verkauft und man zog in eine Pension. Das noch verbliebene Hab und Gut lag bereits versandfertig im Hafen von Triest. Leider gelang die Ausreise nicht mehr – die Familie wurde kurz zuvor verhaftet und musste dann am 21. April 1944 in das Konzentrationslager Fossoli. Das Lager diente unter anderem als Durchgangslager zur sogenannten Endlösung der Judenfrage und dem Weitertransport in die Vernichtungslager im Osten. Von Fossoli wurde die Familie Weil am 16. Mai 1944 nach Ausschwitz-Birkenau deportiert. Am 14. November 1944 kam Berthold Weil ins Konzentrationslager Sachsenhausen und 3 Tage später am 17. November1944 nach Dachau. Laut Unterlagen verschiedener Archive erfolgten diese Deportationen gemeinsam für die ganze Familie. Diese gemeinsame Deportation der ganzen Familie nach Dachau ist allerdings zweifelhaft. Lediglich Berthold Weil ist als Zugang in Dachau belegt und nachweislich.  Nicht eindeutig sind zudem Tage und Orte der Ermordungen. Als Stolpersteine Initiative berufen wir uns nach Abgleichung sämtlicher  relevanten Archiven und deren auch widersprüchlichen Auskünfte auf die für uns wahrscheinlichste Version:  Berthold Weil wurde wohl im Dachau Außenlager Kaufring am 20. Dezember 1944 ermordet. Ob Mina, Evi und Werner Weil in Dachau oder in Auschwitz oder auf einem Todesmarsch nach Dachau ermordet wurden ist nicht zweifelsfrei feststellbar. Der Tod von Mina Weil und Eva Doris Karoline Weil sind im Bundesarchiv nicht genau mit Januar 1945 in Dachau vermerkt. Das Todesdatum von Leopold Hans Werner Weil ist nur mit dem Ort Dachau, aber ohne Datum datiert. Die Stolpersteine-Initiative beruft sich bei Frau und Kinder von Berthold Weil auf die Eintragungen im Bundesarchiv. Diese werden trotz nicht zweifelsfreier Datenlage auf den Stolpersteinen für diese angegeben. Eva Doris Karoline wurde 12-jährig, Leopold Hans Werner 17 jährig, Mina Weil 44 jährig und Berthold Weil 53 jährig ermordet.

Diese Recherche wäre mir ohne umfangreiche Hilfe von Gisela Scharlau, Christian Rehmenklau, Walle Mugler, Regina Witzmann und Karen Noetzel nicht gelungen. Hierzu diesen vielen Dank. Vielen Dank auch an die diese Verlegung begleitenden Musiker Hans Pflugfelder und Hubert Grossmann.

Marc Haiber

Elfriede Mack

Brenzstraße 21

 

Elfriede Mack wurde am 8.7.1890 in Ludwigsburg in der Franzosenstraße 74 (heute Martin- Luther Straße) geboren. Ihr Großvater Georg Adolf Mack war Landwirt und Gemeinderat in Ludwigsburg.  Ihr Vater war Otto Mack, Fabrikant und Inhaber einer Gipsfabrik, geboren am 24.3.1860, die Mutter war Bertha Mack, geb. Keppler. Sie hatten noch eine Tochter, Margareta, geboren 1888 und einen Sohn, Hans Otto Mack, geboren 1896, der nach dem Tod des Vaters 1927 die Fabrik übernahm. Er kam dann auch für die Anstaltskosten auf. Ab 1906 zieht die Familie in die Holzstraße 21 (heute Brenzstraße) um, die Fabrik bleibt in der Franzosenstraße 74.

Elfriede Mack als Kind mit Mutter und Schwester

Aus dem ersten ärztlichen Bericht der Universitätsklinik Tübingen für Gemüts- und Nervenkrankheiten vom 18. April 1912 erfahren wir mehr über das Leben von Elfriede Mack.

In der Anamnese heißt es: „Normale Entwicklung. In der Schule lernt die Pat. gut, sie war fleißig, zärtlich, ein liebes, folgsames Kind, nicht eigensinnig. Mit 14 Jahren kam Pat. nach England, kam nach zwei Jahren (1906) verändert zurück, sprach ein Kauderwelsch von Englisch und Deutsch, dabei Hochdeutsch. Wollte Schauspielerin, Lehrerin werden.“

Wo und bei wem sich Elfriede Mack in diesen zwei entscheidenden Jahren ihrer jugendlichen Entwicklung aufhielt, ist nicht bekannt.

Der ärztliche Bericht hält weiter fest, dass nach ihrer Rückkehr eine allmähliche Veränderung eintrat. Sie wurde „ unfreundlich, abweisend, besonders gegen die Mutter, reizbar, aß wenig.“

Elfriede hatte aber durchaus eigenen Vorstellungen von ihrer Zukunft, sie besuchte gegen den Willen der Eltern eine Vorbereitungsschule für Lehrerinnen in Stuttgart. Für eine, nach damaligem Recht noch nicht einmal volljährige, junge Frau ein ungewöhnlicher Schritt. Der Anteil weiblicher Lehrer an der gesamten Lehrerschaft war damals äußerst gering. Das Examen fiel jedoch schlecht aus, der ärztliche Bericht hält fest: „darüber abgehärmt, schlecht geschlafen, viel geweint.“ Zur Erholung fährt sie in ein Nordseebad, wo sie an einem Abend ins Meer rennt und nur mit Mühe zurückgehalten wird. Der Bericht wertet dies als einen Suizidversuch. Ende August ist sie wieder zu Hause und ab dem 16. September 1909 in der Klinik in Tübingen, wo sie drei Jahre bleibt.

(In der Familie gibt es die Legende, Elfriede hätte eine Jugendliebe gehabt, die von der Mutter absolut nicht geduldet wurde – was bis zum Einsperren ins Haus geführt hätte. Diese Belastungen hätten zu großen Depressionen geführt, was letztlich zur Einweisung in die Heilanstalt geführt habe. Mitgeteilt von der Nichte)

Unter der Überschrift „Status präsens“ hält die Tübinger Klinik fest, dass die Patientin sehr groß ist (180cm, an einer anderen Stelle sind 183 cm vermerkt), ihr Ernährungszustand, ihre Temperatur, ihre Gehirnnerven, ihrer Sensibilität, ihre Reflexe und ihre Inneren Organe zeigen alle einen normalen Befund.

Als Diagnose wird festgehalten: „Hebephrenie, Diagnose ungünstig“. Zu dieser Diagnose findet man im Klinischen Wörterbuch: „.. so genanntes Jugendirresein, Bezeichnung für eine Form der Schizophrenie, die sich zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr manifestiert. Symptome sind unter anderem Veränderung des Affekts, Zerfahrenheit, Antriebsverarmung.“

Am 23. April 1912 erfolgt die Aufnahme in der Heilanstalt Weinsberg, sie wird hier die restlichen 28 Jahre ihres Lebens verbringen.

Die dort erstellte Krankenakte enthält zunächst recht ausführliche Berichte, im weiteren Verlauf des Aufenthaltes werden die Eintragungen immer knapper und gleichförmiger, die Eintragungen für die Jahre 1936 bis 1938 umfassen z.B. nur noch ein Blatt. Beispielhaft ist ein Eintrag vom Januar 1921: „Kümmert sich nicht um ihre Umgebung, gibt höchst selten einmal auf eine Frage die Antwort “Ich weiß net“, (…) schreit und singt unbeirrt weiter, lacht viel vor sich hin, (…) die sprachlichen Äußerungen sind meist ohne Zusammenhang.“

Ferner heißt es immer wieder, dass sie „grimmasiert“, sich nicht sauber hält und ständig blutig kratzt, weshalb sie Handschuhe tragen muss. Über Besuche der Eltern freut sie sich, „schwätzte aber immer in der Unterhaltung ihre zusammenhanglosen Worte dazwischen.“  Ein anderer typischer Eintrag vom Januar 1940 hält fest: „ Jahraus jahrein dasselbe Verhalten. Liegt lächelnd Selbstgespräche führend im Bett, kratzt sich immer noch gern das Gesicht wund.“

Nach dem Tod des Vaters übernimmt der Bruder die Kosten für die Unterbringung. Diese betrugen in Weinsberg im Durchschnitt 1,80 bis 2,60 Reichsmark. Für Elfriede wurde jedoch der höchste Tagessatz von 4,-RM bezahlt.

Der letzte Eintrag vom 25. Januar 1940 lautet:“ Wurde in eine andere Anstalt verlegt“.

Dieses Datum der Ankunft in Grafeneck ist gleichzeitig das von der Gedenkstätte bestätigte Todesdatum, auch wenn das Familienregister im Stadtarchiv Ludwigsburg den 7. Februar 1940 angibt.

 

Christian Rehmenklau

Ernst Scheufler

In 100 Tagen von der Straße in den Tod

Gartenstraße 17

Ernst Gottlob Scheufler wurde am 21. Dezember 1938 in der damaligen Ernst-Weinsteinstraße 17 (heute Gartenstr.17) verhaftet und ins KZ Dachau mit dem Eingangsvermerk AZR eingeliefert.

Die Abkürzung AZR hieß im Klartext „Arbeitszwang Reich“ und bezeichnet eigentlich die März-Aktion der Gestapo und die Juni-Aktion der Kripo, um sog. „Asoziale“ oder sog. „Gemeinschaftsfremde“ zu verhaften. Darunter fielen neben Wohnsitzlose, Bettler, Landstreicher (damals „Wanderer“ genannt), mittellose Alkoholkranke, in geringerer Zahl auch Zuhälter und Personen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren. Unter den Eingelieferten waren außerdem viele Roma und Sinti.

Es handelte sich also um sehr unterschiedliche Menschen, die man unter dem Sammelbegriff „asozial“ in die Konzentrationslager verschleppte. Gemeinsam war ihnen allenfalls, dass ihre Verfolger sie als arbeitsscheu ansahen. Im öffentlichen Bewusstsein waren die „Asozialen“ gewissermaßen der harte Kern der Fürsorgeempfänger.

In der Gartenstraße 17 befanden sich bis vor einigen Jahren das evangelische Gemeindehaus und die Diakonische Bezirksstelle. Am 1. Oktober 1909 war hier in der „Herberge zur Heimat“ eine sog. „Wanderarbeitsstätte“ eröffnet worden. Sie diente mittellosen Wanderern als Übernachtungsmöglichkeit. Wer damals nicht arbeiten konnte oder wollte, musste diese Wanderherberge nach 2 Übernachtungen wieder verlassen. 1925 wurde ein Neubau des Hintergebäudes beschlossen und im 1. Stock desselben ein Christliches Hospiz (Hotel mit Gaststätte) mit 10 Zimmern und 18 Betten eingerichtet. Außerdem wurde ein „Kosttisch“ für 60-70 Menschen und in der Herberge zur Heimat 40 Betten bereitgehalten, was vom Evangelischen Verein Ludwigsburg betrieben wurde. Dem Verein wurde der Vertrag zur Wanderarbeitsstätte vom Oberamt Ludwigsburg 1938 gekündigt und es war vorgesehen, die Wanderarbeitsstätte ins Obdachlosenheim zu verlegten. Hier hatten im April 1938 noch 92 Wanderer mit 145 Verpflegungstagen übernachtet. Die Schließung erfolgte schließlich 1940.

Das „Evangelische Vereinshaus“ war auch eine Anlaufstelle für Wanderarbeiter. An dieser Stelle war später das Evangelische Gemeindehaus der Ludwigsburger Stadtkirchengemeinde. Heute steht da ein Mehrfamilien-Wohnhaus.

Wir wissen in der Regel wenig über das Leben der Wohnungslosen und Menschen, die auf der Wanderschaft waren und die Opfer der Verfolgung wurden. Bei Ernst Scheufler ist das anders: Wir wissen einerseits viel, aber andererseits wenig über seine letzten Jahre. Viel wissen wir über die Zeiten, in der er aktenkundig wurde.

 

Ernst Scheufler wurde als 4. Kind des Eisenbahners Jakob und seiner Frau Margarethe Scheufler, geborene Ehrhardt, am 20. August 1893 in Stuttgart geboren. Als Ernst geboren wurde, wohnte die Familie in der Forststraße 43 im Hinterhaus. Aufgewachsen ist Ernst dann aber mit seinem älteren Bruder Wilhelm und der 1896 geborenen Schwester Bertha im neuen Stuttgarter Stadtteil Ostheim in der Teckstrasse 30.

Teckstr.30 heute

Der Stadtteil Stuttgart Ostheim entstand auf Initiative von Eduard Pfeiffer. Der jüdische Kaufmann, den man nach heutigen Maßstäben als erfolgreichen Banker und Multimillionär bezeichnen würde, war auch als Politiker aktiv und war ein Philanthrop. Er war u.a. an der Gründung des „Verein(s) für das Wohl der arbeitenden Klassen“ beteilig, der den Bau von Wohnungen durchführte. Die Arbeiterfamilien sollten günstig wohnen, außerhalb der Stadt, aber doch nicht zu weit von der Arbeitsstelle liegen, um keine unnötigen Fahrtkosten zu erzeugen. Im Juli 1892 zog der erste Bewohner in Ostheim ein und am Jahresende wohnten bereits 700 Menschen aus 134 Familien dort.  Die Berufe der Haushaltsvorstände waren Maschinenbauer, Handwerker wie Schuhmancher, Tagelöhner, aber  auch kleine Beamte oder Angestellte.

lnschrift am Obelisk am Teckplatz – heute Eduard-Pfeiffer-Platz

In seinem 1893 angefertigten Bericht beschrieb Pfarrer Lempp eingehend die Ostheimer Verhältnisse: „Wenn irgendetwas den Charakter des Ostheimer Lebens bezeichnet, so ist‘s eben das, daß ein Gefühl des Fremdseins die Leute beherrscht. Es ist nur das äußerliche Nebeneinander, das die Leute verbindet, noch kein inneres Band.“

Aktenkundig wird Ernst Scheufler mit 18 Jahren zum ersten Mal 1911 als er zu 12 Tagen Gefängnis wegen Sachbeschädigung und wegen Beamtenbeleidigung und ruhestörenden Lärm verurteilt wird. Ernst war von Beruf Schmid und arbeitete als Zuschläger, d.h. als Gehilfe. Bis zu seiner Einberufung im September 1914 im 1. Weltkrieg finden sich weitere 6 Verurteilungen in den Akten. Im Juli 1915 wird er mit einem Durchschuß des linken Fußes verwundet. Sein Militärakte beschreibt ihn 1,76m groß, schlank und schwarzhaarig und „mit Tätowierung am rechten Goldfinger sowie am ganzen Leib“.

Offensichtlich hatte er mit Normen und Regeln Probleme: er kehrte vom Urlaub nach dem Zechen mit Freunden nicht in die Kaserne zurück und wurde wegen mehrmaligen Fernbleibens von der Truppe, aber auch Diebstahl vom Kriegsgericht zu einer Gesamtstrafe von 4 Jahren und 1 Monat verurteilt, die er in Ulm und Heilbronn zu verbüßen begann. Die Strafe wurde am 23.5.1918 ausgesetzt, damit Ernst wieder mit der Truppe ins Feld ziehen konnte. Er zog aber lieber mit Freunden in Cannstatt durch die Gaststätten, wurde im August von der Polizei wieder geschnappt und erneut verurteilt und musste im Festungsgefängnis Ulm einsitzen. Laut gerichtsärztlichem Gutachten sei Scheufler „leicht erregbar“ gewesen. Das Ende des 1. Weltkrieges brachte auch für ihn die Freiheit: am 19.November 1918 wurde aufgrund der allgemeinen Amnestie entlassen.

Im Februar 1920 heiratete er Thekla Helena geb. Zwicker, aber die Ehe hielt nicht lange: 6 Jahre später wurde sie wieder geschieden. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wird als Beruf von Ernst Scheufler Tagelöhner in den Akten angegeben. Er geriet immer wieder wegen kleinkriminellen Delikten mit dem Gesetz in Konflikt: illegaler Vogelfang, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Hehlerei, Beamtenbeleidigung, grober Unfug. Schließlich wurde er 1928 wegen Zuhälterei zu 5 Monaten und 15 Tagen Gefängnis verurteilt, die er ab 3. Juli 1928 in der Haftanstalt Schwäbisch Hall und im Landesgefängnis Ulm bis zum 15. November 1928 verbüßte.

In den Strafakten ist auch eine Charakterisierung eines Zeugen zu finden: „Wenn die Mutter bei der Nachricht von der Verhaftung des Sohnes nur sagen kann: ‚Gott sei Dank, dann kann ich doch wieder ruhig schlafen‘ …Er hat in seinen Räuschen schon das ganze Haus in Atem gehalten, sodass die Leute zum Fenster hinaus nach Hilfe rufen mussten…

Ab 1933 ist Ernst Scheufler er nicht mehr in der Teckstraße gemeldet. Wir wissen nicht, ob ihn seine Eltern aus der Wohnung geworfen haben oder was der Auslöser war. Seine Mutter ist am 29. Dezember 1934 gestorben, sein Vater am 8. Januar 1937.

Danach findet sich nichts mehr von Ernst Scheufler in den Akten. Vermutlich war er wohnsitzlos und hat er sich auf Wanderschaft begeben, denn die nächste Spur, die wir gefunden haben, ist die Übernachtung hier in der Wanderherberge in Ludwigsburg in der heutigen Gartenstraße 17 – damals Ernst-Weinstein-Straße 17. Am 21.12.1938 wurde er in einer Razzia aufgegriffen und ins KZ Dachau mit dem Vermerk AZR (= „Arbeitszwang Reich“) eingeliefert. Von dort wurde Ernst Scheufler am 21.3.1939 ins KZ Mauthausen als Nr. 164 in den Block 10 gebracht. Das KZ Mauthausen gehörte zur Kategorie 3, das hieß. in der Nazisprache „Vernichtung durch Arbeit“. Bereits am 8.4.1939 wird der Totenschein mit der Todesursache Herzschlag ausgestellt. Als Alter wird fälschlicherweise 40 Jahr und 4 Monate eingetragen – tatsächlich ist Ernst Gottlob Scheufler da 45 Jahre und 8 Monate alt.

 

Verwendete Quellen:

Adressbücher mehrere Jahrgänge, Stadtarchiv Stuttgart

Familienregister Scheufler/Zwicker, Standesamt Stadt Stuttgart

Geburtsregister 1893, Stadtarchiv Stuttgart, Nr. 2811

Familienregister Scheufler/Erhardt, Standesamt Stadt Stuttgart, Bd. 65, Nr. 780

Sterberegister 1937, Stadtarchiv Stuttgart

Evangelische Kirchenbücher Württemberg, 1500-1985, Taufregister, Abruf bei Ancestry.com

Militärstrafverfahren des XIII. Armeekorps – Einzelfälle, HStA Stgt, M78 Bü 174 und M 80 Bü 12/98

Gefangenen-Index 1928 Strafanstalt Schwäbisch Hall,  StALB E 356 a I, Nr. 64

Gefangenenhauptbuch Strafanstalt Schwäbisch Hall,  StALB E 356a I, Nr. 71

Landesgefängnis Ulm, StALB E 356 g, Bü.1339

Personalien der evang. Gefangenen, StALB E 356a I, Nr. 76

Bekämpfung von Bettel und Landstreicherei, 1913-1937, StALB PL 413, Bü 294

Bekämpfung des Wanderbettels HStA Stgt PL 413 Bü 80

Regelung des Wandererwesens 1936 -1944, HStA Stgt E 151(09, Bü 481

Innenministerium, Abteilung III: Polizeiwesen, HStA Stgt E 151/03, Bü 590

Belegung der Wanderarbeitsstätten im April 1938, StALB PL 413 Bü 130

Datenbank Auszug, KZ-Gedenkstätte Dachau

Schreibstubenkarte KZ Dachau, Sign.01010607 oS / ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Listenmaterial KZ Dachau/Zugangsbuch,.Sign. 8056129 / ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Veränderungsmeldung KZ Dachau 17.01.1939 – 5.3.1940, Sign. 8056129 Dokk. 9909703 – 712/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen / ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Listenmaterial KZ Dachau/Überstellung nach KZ Mauthausen, Sign. 8057600 ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Mauthausen. Sign.01012603 oS, Listenmaterial KZ Mauthausen Sign. 01012603 oS ITS Digital Archive, Bad Arolsen.

Leichenschauschein Individuelle Unterlagen KZ Mauthausen, Sign.  01012603 oS / ITS Digital Archive, Bad Arolsen.

 

Verwendete Literatur:

Ayas, Wolfgang: „Asozial“ und „gemeinschaftsfremd“. Wohnungslose in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in: Wohnungslos 3/04

Ayas, Wolfgang: „ Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933 -1945, Koblenz 1998

Ayas, Wolfgang: „Asoziale“ – die verachteten Verfolgten in: Dachauer Hefte 14. „Verfolgung als Gruppenschicksal“, 14. Jg. 1998, Heft 14

Ayas, Wolfgang: Wohnungslose im Nationalsozialismus. Begleitheft zur Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Bielefeld 2007

Blessing, Elmar: Ostheim und seine Schulen, 1903-2003, hrg. von MUSE-O im Auftrag der GHS Ostheim, Stuttgart 2003

https://www.die-siedlung-ostheim.de – Abruf 20.10.21

Hörath, Julia: “Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938,

Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen: Kurzgeschichte der Konzentrationslager Mauthausen und seiner drei größten Nebenlager Gusen, Ebensee und Melk, Wien o.J.

Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016 , S. 166 – 187
Weinmann, Martin (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem (CCP), Frankfurt 1990, S. 375

 

Walter Mugler

Albertine Mathilde Reichert

Ein friedliches Leben durfte nicht friedlich enden

Elmar-Doch-Str. 33

Albertine Mathilde Reichert kommt am 15. August 1866 in Ludwigsburg zur Welt. Sie ist die Tochter des Schuhmachers Michael Meffert und seiner Frau Luise. Hier, in Ludwigsburg, wächst sie auf. Sie heiratet 22-jährig im August 1887 den drei Jahre älteren Postmeister Wilhelm Reichert, ebenfalls aus Ludwigsburg. 1889 kommt ihr Sohn Rudolf zur Welt. Das 1894 geborene Töchterchen Mathilde wird nur wenige Monate alt. 1896 zieht die Familie nach Sontheim bei Heilbronn, wo im Jahr 1900 der zweite Sohn Willy geboren wird.

Weitere Informationen zu Albertine und Wilhelm Reichert sind erst wieder durch den Rückzug nach Ludwigsburg aus Willsbach im März 1925 bekannt. Wilhelm Reichert ist Postmeister a.D. und Eigentümer des Gebäudes Paulinenstrasse 33, in der heutigen Elmar-Doch-Strasse.

Im Jahr nach dem Tod ihres Mannes 1936 zieht Albertine Reichert im August 1937 zum älteren Sohn nach Stuttgart. Doch nur zwei Monate später kehrt sie im Oktober wieder in ihr Haus nach Ludwigsburg zurück. Der bis dahin einzige Hinweis auf eine Erkrankung Albertine Reicherts ist einer Fürsorgeakte im Stadtarchiv Ludwigsburg vom Juni 1938 zu entnehmen. Nach einem einwöchigen Aufenthalt im Kreiskrankenhaus Ludwigsburg wird Albertine Reichert am 21. Juni 1938 in die Heilanstalt nach Weinsberg überwiesen. Der Anlass für die Unterbringung dort wird mit der Diagnose „arteriosklerotische Demenz“ angegeben. Es ist ihr erster Aufenthalt in einer Heilanstalt.

Dort lebt sie zwei Jahre, bis zum 19. August 1940. Unter diesem Datum steht im Ausgangsbuch der Heilanstalt hinter ihrem Namen „ungeheilt entlassen“. Die Wahrheit ist, dass an diesem Tag ein Transport mit Patienten aus Weinsberg in die Tötungsanstalt nach Grafeneck gebracht wird. Darunter befindet sich auch Albertine Reichert. Noch am gleichen Tag wird sie, gemeinsam mit den anderen Patienten, in Grafeneck durch Giftgas ermordet.

Gudrun Karstedt

 

Fanny Kusiel

Aus der Heimat vertrieben und ermordet

Seestraße 49

Bereits seit 2011 lag der Stolperstein zur Erinnerung an Fanny Kusiel vor dem früheren Pferdehändler-Haus in der Seestraße 49. Dass nun ein neues Exemplar verlegt werden muss, liegt an Bauarbeiten, bei denen der originale Stein beschädigt worden war. Die Geschichte der Familie Kusiel ist also bereits in den beiden Broschüren „Zu Besuch bei verfolgten Nachbarn“ und auf www.stolpersteine-ludwigsburg.de dokumentiert.

Salomon und Fanny Kusiel verließen ihr Zuhause und ihre Heimat in der Not, die das Nazi-Regime einer jüdischen Familie zufügte. Ihr Sohn Siegfried, der bereits früher in die Niederlande ausgewandert war, holte seine Eltern 1939 zu zu sich. Er berichtete zwanzig Jahre später: „Meine Eltern habe ich zu mir kommen lassen, weil ein menschenwürdiges Leben für sie im damaligen Deutschland nicht mehr möglich war.“ Fanny und Salom hätten „alle Möbel hinterlassen müssen und alle Wertgegenstände wie Gold, Silber, Schmuck einliefern müssen“.

„Meine Mutter hat, als sie den Judenstern tragen musste, zuerst bei mir […in] Rotterdam gewohnt und musste im September 1940 die Küststrecke […] verlassen. Ich habe sie darum in Edam untergebracht, von wo aus sie ungefähr im April 1943 deportiert wurde. Nach Angaben des Standesamtes in Edam ist sie in Sobibor in Polen am 14. Mai 1943 ,gestorben‘“.

Ob dieses Datum genau stimmt, ist ungewiss. In einer Akte über die Entschädigung der Kusiel-Kinder für die Ermordung ihrer Eltern heißt es in klassischem Beamten-Deutsch:
„Obengenannte Person gilt als gestorben am 14. Mai 1943 in Sobibor – mit dem Vermerk, dass sich die Feststellung des Todesdatums nicht auf Aussagen von Augenzeugen oder Lagerkommandanten stützt, sondern auf Schlussfolgerungen allgemeiner Art, wozu die Studierung des Schicksals des betreffenden Judentransports beim hiesigen Büro Veranlassung gegeben hat“.

Was für eine Sprache! Im Vergleich hierzu noch ein Zitat aus dem Bericht ihrer Tochter Alice, die in höherem Alter über Fanny Kusiel schrieb:
„Meine Mutter beachtete alle religiösen Regeln, die ihr einleuchteten, sie gaben ihr Kraft in mancher schwierigen Situation. Doch niemals behinderte sie mich in meinen eigenen, liberalen Gedanken.“

Jochen Faber