Wilhelm Ruth

Er vergaß vieles, doch nicht, wer ihn liebte.

Gartenstraße 45

Am 18. April 1928 heiraten Wilhelm Ruth und Katharina, genannt Käthe, geborene Schmitz in Neckarsteinach. Sechs Jahre zuvor hatten sie sich kennen gelernt. Wilhelm Ruth, evangelisch, von Beruf Oberkellner, ist am 7. Februar 1900 als jüngster von sieben Söhnen des Karl Ruth, Löwenwirt in Stock bei Murrhardt und dessen Ehefrau Julie geboren.

Für die fünf Jahre ältere Käthe Ruth, katholisch, geboren am 5. April 1895 in Trier, ist es die 2. Ehe. Sie ist geschieden. In erster Ehe war sie mit Alexander Torner verheiratet gewesen, der aus dem 1. Weltkrieg als Invalide zurückgekehrt war.

Angaben darüber wo und wie Wilhelm Ruth seine Kindheit und Jugendjahre verbracht hat konnte ich nicht finden. Es ist anzunehmen, dass er in Heilbronn aufgewachsen ist, da sein Vater 1907 die Gastwirtschaft in Stock aufgegeben hat. Die Familie war im gleichen Jahr nach Heilbronn-Böckingen verzogen. Im örtlichen Einwohnerbuch ist Karl Ruth in den darauffolgenden Jahren als Telegrafen- und Hilfsarbeiter aufgeführt. Eine Gastwirtschaft betrieb er laut Einwohnerbuch der Stadt Heilbronn nochmals für kurze Zeit zu Beginn der 1920er Jahre, als Inhaber der „Wirtschaft zur Sängerlust“ in Heilbronn. Wilhelms Brüder Alfred und Gustav sind, laut Einwohnerbuch, zur gleichen Zeit Inhaber des „Gasthof zur Traube“ in Heilbronn. Möglicherweise hat Wilhelm Ruth dort gearbeitet.

Wenige Monate nach der Heirat zieht Wilhelm Ruth zu seiner Frau nach Ludwigsburg. Sie wohnt bereits seit etlichen Jahren hier in der Seestrasse 10. Nach vorübergehenden Anstellungen als Hilfskellner arbeitet Wilhelm Ruth ab 1930 im Badhotel in Bad Niedernau. Bei seiner Arbeit dort machen ihm zunehmend gesundheitliche Probleme zu schaffen. Er verliert seine Merkfähigkeit. Sprechen und Artikulieren bereiten ihm grosse Mühe und machen seine Sprechweise unverständlich. Sein Gang ist unsicher und schwankend, was zu Stürzen führt. Die Arbeit als Kellner muss er aufgeben. Seine Frau klagt darüber, dass er auf Grund seiner Einschränkungen menschenscheu und ängstlich geworden sei. Er ziehe sich immer mehr zurück.

Für kurze Zeit befindet sich Wilhelm Ruth zu Untersuchungen im Bezirkskrankenhaus in Ludwigsburg. Er wird im Mai 1931 zur Weiterbehandlung in die Nervenklinik nach Tübingen überwiesen. Die dort durchgeführten Therapien bleiben trotz bekannter Diagnose ohne Erfolg. Wilhelm Ruth ist in der Nervenklinik sehr unglücklich, leidet unter Heimweh, halluziniert. Dem Pfleger gegenüber wiederholt er mehrmals, dass er die Stimme seiner Frau vor der Tür des Krankenzimmers höre. Ende August holt Käthe Ruth auf eigenen Wunsch ihren kranken Mann nach Hause ab.  Das kinderlose Ehepaar wohnt jetzt in der Gartenstrasse 45 in Ludwigsburg.

Käthe Ruth versorgt ihren Mann, laut der Aussage der Fürsorgerin: „wie ein Kind“, bis der Hausarzt seine Unterbringung in die Heilanstalt in Weinsberg veranlasst. Er begründet dies damit, dass Wilhelm Ruth unter „Verfolgungswahnsinn“ leide.

Zwischen Februar und September 1932 und zwischen Mai 1933 und Oktober 1934 ist Wilhelm Ruth Patient der Heilanstalt in Weinsberg. Nach diesen beiden Aufenthalten scheint jeweils Besserung eingetreten und die Beurlaubung nach Hause möglich zu sein. Doch Käthe Ruth ist auf Dauer mit der Versorgung und Pflege ihres kranken Mannes überfordert. Wilhelm Ruth wird im April 1935 erneut, jetzt als ständiger Patient, in die Heilanstalt in Weinsberg aufgenommen. Als Sozialrentner befindet er sich auf Rechnung der Kreisfürsorgebehörde in der Heilanstalt, seine Invalidenrente wird von der Kreisfürsorgebehörde vereinnahmt.

In den darauffolgenden Jahren wird Wilhelm Ruth überwiegend als ruhiger, gutmütiger, „geistesschwacher“ Kranker mit Denkausfällen und unter Stimmungsschwankungen leidend beschrieben. Seine Sprechweise bleibt unverständlich. Er benützt Notizzettel, auf welchen er Mitteilungen und Wünsche äussert.  Meist zwei Mal wöchentlich schreibt er Briefe an seine Frau, auch Briefe an Verwandte oder offizielle Stellen. Häufig mit dem Wunsch und der Hoffnung verbunden, wieder nach Hause zurückkehren zu können. Die Briefe sind einfach, kindlich geschrieben, aber in richtiger Rechtschreibung, wie in den Krankenakten zu lesen ist. Seine Mithilfe in der Hauswirtschaft, vor allem in der Spülküche und  im Garten, wird in den Berichten festgehalten. Im Jahr 1937 übersteht er eine sich über mehrere Monate hinziehende Lungenentzündung, von der er sich allem Anschein nach wieder gut erholt.

Die wenigen Einträge der Jahre 1938 und 1939 zeigen keine Veränderung in Wilhelm Ruths Verhalten. Konstatiert wird seine zunehmende Unsicherheit beim Gehen.

Am 2. August 1938 wird über ihn geschrieben: „Ist wunschlos und zufrieden. Träumt von besseren Tagen in denen er wieder bei seiner Frau sein kann, mit der er in regem Briefwechsel steht.“

Im Jahr darauf, am 13. Juni 1939: „Immer voller Wünsche, will sich jeden Tag Rauch-und  Essenswaren aus Weinsberg mitbringen lassen. Schimpft, wenn es nicht genehmigt wird, will seine Verwandten besuchen….“

Am 4. Juni 1940: „Gutmütiger, schwachsinniger Paralytiker, kommt fast jeden Tag mit einem Wunsch, den er meist auf einen Zettel geschrieben hat, weil er sprachlich sehr schwer verständlich ist. Schreibt nichtssagende Briefe an seine Frau und Verwandte.“

 

Der „gutmütige“ Patient Wilhelm Ruth ist für die nationalsozialistischen Ärzte der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil-und Pflegeanstalten“ Tiergartenstrasse 4 in Berlin kein „lebenswerter“ Mensch. Sie entscheiden durch ein Kreuz hinter seinem Namen, dass Wilhelm Ruth „lebensunwert“ ist.

Mit einem „Sammeltransport“ wird Wilhelm Ruth am 19. August 1940 in eine andere Anstalt „versetzt“, wie im letzten Eintrag seiner Patientenakte steht.

An diesem Tag wird Wilhelm Ruth in der Tötungsanstalt Grafeneck durch Giftgas erstickt.

 

Unter dem Datum vom 21. August 1940 erhält Käthe Ruth einen Brief mit folgendem Wortlaut:

„Wie wir einer Karte an Ihren Mann Wilhelm Ruth entnehmen, haben Sie die Absicht diesen in nächster Zeit zu besuchen. Wir müssen Ihnen nun leider mitteilen, dass Ihr Mann am 19. VIII. mit einem Sammeltransport auf Anordnung des Innnenministeriums in eine andere Anstalt versetzt worden ist. Der Name der Anstalt ist auch nicht bekannt gegeben worden. Es handelt sich bei der Verlegung um eine Kriegsmassnahme des Reichsvertretungskommissars.“

Direkt. HA  Dr.F.

 

Wann und mit welchen Angaben Käthe Ruth vom Tod ihres Mannes erfahren hat ist nicht bekannt. Sie lebte bis 1958 noch in Ludwigsburg, in grosser Armut. Von hier aus ist sie nach Stuttgart verzogen.

Mit dem Stolperstein vor dem Gebäude in der Gartenstrasse 45, wohin Wilhelm Ruth „träumte“ zurückkehren zu können, soll an sein Leben und Schicksal erinnert werden.

Gudrun Karstedt

Elisabeth Schweizer

Die grausame Geschichte einer (uns) unbekannten Frau

Seestraße 60

Elisabeth Schweizer wurde als viertes von acht Kindern des Ehepaares Adolf Schweizer (*7.6.1862) und Friederike Schweizer (*7.6.1866) am 5. Juni 1894 in Ludwigsburg geboren. Der Vater war Bahnassistent. Die Familie wohnte in der Seestrasse 60. Von den acht Kindern starben vier im Säuglingsalter, nur ein Bruder und zwei Schwestern überlebten. Über Kindheit und Jugend Elisabeth Schweizers ist nichts bekannt. Sie erkrankte im Alter von 35 Jahren und wurde seit dem 8.5.1929 in der Heilanstalt Rottenmünster betreut. Am 21.11.1935 wurde sie von dort in die Heilanstalt Liebenau (Meckenbeuren) überführt. Die Diagnose lautete: Paranoide Schizophrenie (90 %). Die Erblichkeit der Erkrankung wurde mit dem Hinweis begründet, dass eine Schwester der Mutter im Alter schwachsinnig geworden sei und die Patientin, der Vater, die Mutter und eine Schwester der Mutter schwerhörig seien; als Degenerationszeichen wurden ausserdem die angewachsenen Ohrläppchen angeführt.

Liebenau war eine Einrichtung mit kirchlich-katholischem Charakter, die Bezeichnung und rechtliche Organisation einer kirchlichen Stiftung wurde erst 1970 eingeführt. Die Einrichtung bestand aus drei Häusern in Liebenau und in der Gemeinde Bodnegg. Sie wurde seit 1910 von dem Priester Josef Wilhelm (1875-1953) geleitet. Die Wahl dieser Anstalt hängt vermutlich mit der Bindung der Familie an die Katholische Kirche zusammen, der Vater war zeitweise Kirchenpfleger bei der katholischen Kirchengemeinde in Ludwigsburg.

Für die Bezahlung der monatlichen Pflegekosten in Rottenmünster und später in Liebenau war das Städtische Fürsorgeamt in Ludwigsburg zuständig, nachdem der Vater Adolf Schweizer schon im Mai 1931 verstorben war. Die Mutter versuchte aber trotz der geringen Witwenrente einen Beitrag von 50 Reichsmark monatlich an den Kosten zu übernehmen. Später war sie dazu nicht mehr in der Lage, da sie zusätzlich noch den arbeitslosen Sohn, bei dem sie wohnte, unterstützen musste. Sie zog mit der Familie des Sohnes zunächst nach Offenbach, dann nach Saarbrücken und dann wieder zurück nach Ludwigsburg in die Seestrass 60, wo sie am 15.12.1940 starb.

Über Elisabeth Schweizers Zeit in Liebenau ist uns nichts bekannt. Kriegsbedingt, wie es hiess, sollte 1940 in der Heilanstalt Liebenau, wie auch in anderen Heilanstalten Württembergs und Badens, Platz für andere Verwendungszwecke gemacht werden. 500 Betten für zivilinternierte Frauen mussten in Liebenau bereitgestellt werden. Auf Anweisung des Innenministeriums musste die entsprechende Anzahl an Patienten verlegt werden. Die Heilanstalt in Zwiefalten war als sogenanntes „Zwischenlager“ vorgesehen. Elisabeth Schweizer kam mit anderen Patienten aus Liebenau am 13. August 1940 in die völlig überfüllte Heilanstalt in Zwiefalten. Vielen Kranken blieb nur ein Strohlager als Bett, die Nahrung war mangelhaft und unzureichend. Der Aufenthalt Elisabeth Schweizers dort und damit auch ihr Leben, endete am 30. August 1940 mit ihrer, und der „Verlegung“ anderer Patienten, nach Grafeneck, wo sie noch am gleichen Tag durch Giftgas ermordet wurden.

Es ist nicht bekannt, wie Elisabeth Schweizers Mutter vom Tod ihrer Tochter erfahren hat. Zur Verschleierung des organisierten Krankenmords wurde den Angehörigen eine „angebliche“ Todesursache, in den meisten Fällen ein falsches Todesdatum und auch ein falscher Todesort mitgeteilt.

Mit dem Stolperstein vor dem Haus, in welchem Elisabeth Schweizer ihre Kindheit und Jugend erlebt hat, möchten wir die Erinnerung an sie und ihr Schicksal festhalten.

Gisela Scharlau / Gudrun Karstedt

 

Berthold, Mina, Leopold Hans Werner und Eva Doris Karoline Weil

Eine Ludwigsburger Familie wird ermordet

Hartenstein-Allee 5

Vor 14 Jahren begann die Ludwigsburger Stolpersteine Initiative die Geschichten von NS-Ermordeten dieser Stadt zu recherchieren.  Erschreckend ist, dass auch weiterhin immer noch viele Geschichten zu recherchieren und zu berichten sind. Erschreckend, wie viele Menschen von Ludwigsburg Opfer des Nazi-Terrors wurden– erschreckend, wie viel  Unterstützung dieser Terror  in erheblichen Teilen der Bevölkerung hatte. Und weil es passiert ist, kann es auch wieder passieren. Das zu verhindern ist unser aller Verantwortung.

Zufällig entdeckte ich bei einem Freund ein längst vergriffenes Buch von Karen Noetzel aus den 1990er. Es ging um die Geschichte des Nationalsozialismus in Asperg. In diesem Buch wurde am Rande die Geschichte der Familie Weil aus Ludwigsburg erzählt. Ich hörte zum ersten Mal von Mina, Berthold, Werner und  Evi Weil. Für dieses Buch bekam Karen Noetzel damals viele Anfeindungen – in Asperg wollte oder konnte man sich in Teilen noch nicht damit auseinander setzen, dass hoch angesehene und alteingesessene Familien Nazi-Verstrickungen hatten  und manche Ehrenbürgerschaften fragwürdig erschienen.

Ich nahm mit der heute in Berlin als Journalistin und Autorin arbeitende Karen Noetzel Kontakt auf und bekam erste Auskünfte über die Weils. Es freut mich, dass sie für den heutigen  Anlass einen kurze Grußbotschaft verfasste hat die ich nun Vorlesen möchte:

 Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Stolpersteinverlegung für Berthold, Mina, Werner und Evi Weil,

als ich vor mehr als 25 Jahren damit begann, zur Herrschaft des Nationalsozialismus in Asperg zu recherchieren, ahnte ich nicht, was emotional auf mich zukommen würde. Es war, glauben Sie mir, nicht nur einmal, dass ich das Aktenstudium unterbrechen musste, weil sich in den Dokumenten so unfassbar Grausames offenbarte.

Die Grausamkeit von Menschen an Menschen widerfuhr auch der Familie Weil, Berthold, Mina, Werner und Evi Weil. Berthold Weil war der Schwager Hans Frischauers, der eine Farben- und Lackfabrik in Asperg betrieb; daher der Bezug.

Das Leid dieser ehemaligen Nachbarn wäre der Vergessenheit anheim gefallen, gäbe es nicht das größte dezentrale Mahnmal der Welt, die Stolpersteine.

Ich spreche dem Erfinder der kleinen Bodendenkmäler, dem Künstler Gunter Demnig meinen Dank aus. Er hat einmal gesagt: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Herrn Demnigs Projekt ruft die Erinnerung an die von den Nazis Gedemütigten, Entrechteten, Verfolgten und Ermordeten an jenen Orten wach, an denen sie zuletzt freiwillig gelebt haben.

Ich danke der Stolperstein-Initiative Ludwigsburg und ihren Mitgliedern für ihre engagierte Arbeit. Sie hat es erst ermöglicht, dass heute in der Hartensteinallee 5 diese vier Stolpersteine verlegt werden. Damit entsteht ein weiterer Ort des Innehaltens, Gedenkens und ein Mahnmal gegen das Vergessen.

Vielen Dank! Und machen Sie weiter!

Ich grüße Sie alle ganz herzlich aus Berlin, Ihre Karen Eva Noetzel.

Nun zu den Weils: Die Eltern von Berthold Weil waren die in Ludwigsburg lebenden  Leopold Weil und Karoline geborene Löwenthal. Deren Grabstein gibt es heute noch auf dem Israelitischen Friedhof, innerhalb des neuen Friedhofs Ludwigsburg. Berthold Weil wurde 1891 in Ludwigsburg geboren und hatte 4 Geschwister: Seine Schwester Julie starb bereits einjährig, Bertha emigrierte mit ihrem Mann Moritz Strauß und ihrer Tochter 1933 nach Palästina, Theodor lebte mit seiner Frau und Tochter in Berlin. Diese  Familie wurde 1943 in Auschwitz ermordet und in Berlin sind Stolpersteine für sie verlegt.  Seine Schwester Meta Frischauer, ihr Mann Hans und ihre Kinder Robert und Walter wurden ebenso von den Nazis ermordet – für sie wurden bereits in Ludwigsburg 2009 Stolpersteine verlegt.

Berthold Weil heiratete 1925 34 jährig die 26 jährige Mina Weil, geborene Lämmle. 1927 freute sich das Ehepaar Weil über die Geburt ihres Sohnes Leopold Hans Werner (Rufname: Werner). 5 Jahre später 1932 wurde dann ihre Tochter Eva Doris Karoline (Rufname: Evi) geboren.

Die Familie Weil wechselte innerhalb Ludwigsburgs mehrmals den Wohnort. Im Einwohnerbuch von 1936 ist der Wohnort dann mit Hartenstein-Allee 5 angegeben. Es wird versucht, Stolpersteine an den letzten frei gewählten Wohnorten zu verlegen. Die vielen Schikanen und auch schon existenzbedrohenden Maßnahmen der Nazis noch vor der sogenannten „Endlösung“, gegenüber den als jüdisch eingestuften Mitbürger*innen machen dies nicht immer so einfach. Es ist unklar welcher Umzug von den Opfern noch freiwillig  und welcher aus finanziellen oder anderen Nöten letztendlich erzwungen war. Dies wird auch am Schicksal der Familie Weil deutlich und wir haben uns entschieden, an der Hartenstein-Allee 5 mit Stolpersteinen an die Familie zu gedenken.

In der rechten Hälfte dieses Gebäudes in der Hartenstein-Allee ist Familie Weil zuhause.

Berthold Weil  war von Beruf Kaufmann und Prokurist. Sein Vater Leopold Weil war bereits seit 1889 Teilhaber der Wachsfabrik / Chemischen Fabrik Weil & Eichert. Berthold Weil wurde in der Nachfolge des Vaters Fabrikdirektor dieser Ludwigsburger Firma. Bei seinem Einstieg war die Firma zu einem Drittel in jüdischem Besitz (die anderen 2/3 gehörten zu gleichen Teilen den Unternehmerfamilien Eichert und Zeh). Deshalb kam es nach 1933 zu zahlreichen Schikanen seitens Nazi-Verbände wie der DAF und zahlreichen NSDAP Dienststellen. 1935 stand das Unternehmen mit 14 weiteren Ludwigsburger Firmen auf einer Liste der Nationalsozialisten, in der zum Boykott dieser Firmen aufgerufen wurde. Um die jüdische Beteiligung des Firmenbesitzes zu verschleiern, beschloss man  die Umfirmierung in „Chemische Fabrik Zeh und Co.“. Bei zwar noch unveränderten Besitzanteilen war Name der jüdischen Familie Weil, nun nicht mehr im Firmennamen.

Kurz darauf wurde auf Betreiben von NSDAP Funktionären Berthold Weil zum Ausscheiden aus der Firma 1936 gezwungen. Berthold Weil fand man spottbillig ab. In einem Brief formulierte er hierzu rückblickend 1937, dass man ihn um die Hälfte seines Vermögens gebracht hatte. Bertholds Schwester Bertha Strauss und Mina Weils Nichte Gertrud Basto (geborene Frischauer), machten als Erben 1948 Rückerstattungsansprüche gegenüber der Chemischen Fabrik Ludwigsburg Zeh & Co. geltend. Diese begründete aber, letztendlich gerichtlich erfolgreich, mit ihren Firmenanwälten,  ein angebliches „wunschgemäßes Ausscheiden“ von Berthold Weil. Die Firma wäre damals völlig mittellos gewesen. Aus zwingenden unternehmerischen Gründen hätte das Ausscheiden von Berthold Weil  vorgenommen werden müssen. Das Ausscheiden wäre einvernehmlich und wunschgemäß gewesen. Es wurde fadenscheinig behauptet, dass die Firma darüber hinaus Berthold Weil eine übermäßige Ausbezahlung getätigt hätte, um ihm „eine auskömmliche Existenz zu gewährleisten“. Das Gerichtsurteil zu Gunsten der Chemischen Fabrik Ludwigsburg Zeh & Co. war ein Schlag ist Gesicht der überlebenden Verwandten von Berthold Weil. Heute heißt die Firma ZELU Chemie GmbH und hat ihren Sitz in Murr. Auf ihrer Homepage befindet sich zu ihrer Geschichte lediglich mit einem Satz ein Hinweis, dass man bereits 1889 als Weil & Eichert gegründet wurde. Auf schriftliche Anfrage der Stolpersteine-Initiative nach Unterstützung, Auskunft und firmeneigenen Unterlagen zu Berthold Weil, antwortete die Geschäftsführung der Zelu recht lapidar: Die heutige Zelu lasse sich zwar bis zur Gründung der Weil & Eichert AG im Jahre 1889 zurückverfolgen, ansonsten hätte man aber heute r keinen Bezug mehr zu diesem Unternehmen. Bei der heutigen Zelu scheint es offensichtlich derzeit kein Bewusstsein zu geben, dass man zwar nicht Schuld an den Verbrechen der Vergangenheit hat, aber doch sehr wohl eine Verantwortung für die Aufarbeitung und Erinnerung dieser sehr eng mit der eigenen Firmenhistorie verbundenem Schicksal der Firmengründerfamilie.

Aufgrund des erzwungenen Ausscheidens aus der Firma versuchte Berthold Weil eine Existenz in Spanien aufzubauen. Er gründete dort die Firma Weil & Gutierrez um wie in Ludwigsburg ja teilweise auch, Schuhcreme zu produzieren. Leider wurden 1936 im Spanischen Bürgerkrieg seine Maschinen in Alicante bei einer Bombardierung zerstört. Berthold Weil stand vor dem Nichts.

Nun suchte er sein Glück in Italien und ihm gelang die Ausreise nach Mailand. In der Zwischenzeit sind seine Frau und seine Kinder 1936 mehrmals umgezogen. Ab November 1936 wohnte man in Stuttgart in die Augustenstraße 36. In der anonymen Großstadt versuchte Mina Weil die Auswanderung nach Italien vorzubereiten. Dies gestaltete sich schwierig, da der nationalsozialistische Staat versuchte, so viel Geld wie möglich der jüdischen Bevölkerung abzupressen. Die Familie sollte für Berthold Weil eine Reichsfluchtsteuer in Höhe von 10 000 Reichsmark an das Finanzamt Ludwigsburg bezahlen. Nachdem man also der Familie ihrer Existenzgrundlage in Ludwigsburg beraubte, sollte Berthold Weil nun zusätzlich eine astronomisch hohe Summe dafür bezahlen, dass er aus diesem Grund ins Ausland geflüchtet ist. Skrupellos und gegenteilig wie hinterher 1948 von der Firma dargestellt, verhielt sich zudem die Chemische Fabrik Ludwigsburg Zeh & Co. Nachdem man Berthold Weil  bereits durch den Austritt aus der Firma um die Hälfte seines Vermögens gebracht hatte, wollte die Fabrik nun auch noch vom vermuteten Rest, wie der NS Staat auch, noch möglichst alles. Deshalb verklagte die Firma ihn zur Zahlung von 15 000 Reichsmark. Berthold Weil hätte unbefugt, was nachweislich aber nicht stimmte,  chemische Produkte nach ihren Rezepten fabriziert.  An einer wie 1948 behaupteten „auskömmlichen Existenz“ für Berthold Weil, war man bei der Ludwigsburger Chemiefabrik ganz offensichtlich nicht interessiert.

Die Familie sorgte sich nicht nur um die Beschlagnahmung ihres sämtlichen Restvermögens. Befürchtet wurde vor allem, dass man wegen diesen Forderungen nicht nach Italien auswandern dürfe. An eine Zukunft in Deutschland glaubten die Weils schon lange nicht mehr. Mina Weil wurde derweil auch von der Gestapo bedrängt, dass ihr Mann zurückkomme. 1938 gelang es ihr schließlich mit ihren beiden Kindern Deutschland zu verlassen und zu ihrem Mann nach Italien zu flüchten. Nach Auskunft ihrer Nichte gelang diese Flucht mit dem Auto.

Durch die Achse Berlin-Rom war auch den Weils klar, dass man im Mussolini-Staat nicht mehr sicher war. Die Familie fasste deshalb den Entschluss, nach Kuba zu emigrieren. Alle Möbel wurden verkauft und man zog in eine Pension. Das noch verbliebene Hab und Gut lag bereits versandfertig im Hafen von Triest. Leider gelang die Ausreise nicht mehr – die Familie wurde kurz zuvor verhaftet und musste dann am 21. April 1944 in das Konzentrationslager Fossoli. Das Lager diente unter anderem als Durchgangslager zur sogenannten Endlösung der Judenfrage und dem Weitertransport in die Vernichtungslager im Osten. Von Fossoli wurde die Familie Weil am 16. Mai 1944 nach Ausschwitz-Birkenau deportiert. Am 14. November 1944 kam Berthold Weil ins Konzentrationslager Sachsenhausen und 3 Tage später am 17. November1944 nach Dachau. Laut Unterlagen verschiedener Archive erfolgten diese Deportationen gemeinsam für die ganze Familie. Diese gemeinsame Deportation der ganzen Familie nach Dachau ist allerdings zweifelhaft. Lediglich Berthold Weil ist als Zugang in Dachau belegt und nachweislich.  Nicht eindeutig sind zudem Tage und Orte der Ermordungen. Als Stolpersteine Initiative berufen wir uns nach Abgleichung sämtlicher  relevanten Archiven und deren auch widersprüchlichen Auskünfte auf die für uns wahrscheinlichste Version:  Berthold Weil wurde wohl im Dachau Außenlager Kaufring am 20. Dezember 1944 ermordet. Ob Mina, Evi und Werner Weil in Dachau oder in Auschwitz oder auf einem Todesmarsch nach Dachau ermordet wurden ist nicht zweifelsfrei feststellbar. Der Tod von Mina Weil und Eva Doris Karoline Weil sind im Bundesarchiv nicht genau mit Januar 1945 in Dachau vermerkt. Das Todesdatum von Leopold Hans Werner Weil ist nur mit dem Ort Dachau, aber ohne Datum datiert. Die Stolpersteine-Initiative beruft sich bei Frau und Kinder von Berthold Weil auf die Eintragungen im Bundesarchiv. Diese werden trotz nicht zweifelsfreier Datenlage auf den Stolpersteinen für diese angegeben. Eva Doris Karoline wurde 12-jährig, Leopold Hans Werner 17 jährig, Mina Weil 44 jährig und Berthold Weil 53 jährig ermordet.

Diese Recherche wäre mir ohne umfangreiche Hilfe von Gisela Scharlau, Christian Rehmenklau, Walle Mugler, Regina Witzmann und Karen Noetzel nicht gelungen. Hierzu diesen vielen Dank. Vielen Dank auch an die diese Verlegung begleitenden Musiker Hans Pflugfelder und Hubert Grossmann.

Marc Haiber

Elfriede Mack

Brenzstraße 21

 

Elfriede Mack wurde am 8.7.1890 in Ludwigsburg in der Franzosenstraße 74 (heute Martin- Luther Straße) geboren. Ihr Großvater Georg Adolf Mack war Landwirt und Gemeinderat in Ludwigsburg.  Ihr Vater war Otto Mack, Fabrikant und Inhaber einer Gipsfabrik, geboren am 24.3.1860, die Mutter war Bertha Mack, geb. Keppler. Sie hatten noch eine Tochter, Margareta, geboren 1888 und einen Sohn, Hans Otto Mack, geboren 1896, der nach dem Tod des Vaters 1927 die Fabrik übernahm. Er kam dann auch für die Anstaltskosten auf. Ab 1906 zieht die Familie in die Holzstraße 21 (heute Brenzstraße) um, die Fabrik bleibt in der Franzosenstraße 74.

Elfriede Mack als Kind mit Mutter und Schwester

Aus dem ersten ärztlichen Bericht der Universitätsklinik Tübingen für Gemüts- und Nervenkrankheiten vom 18. April 1912 erfahren wir mehr über das Leben von Elfriede Mack.

In der Anamnese heißt es: „Normale Entwicklung. In der Schule lernt die Pat. gut, sie war fleißig, zärtlich, ein liebes, folgsames Kind, nicht eigensinnig. Mit 14 Jahren kam Pat. nach England, kam nach zwei Jahren (1906) verändert zurück, sprach ein Kauderwelsch von Englisch und Deutsch, dabei Hochdeutsch. Wollte Schauspielerin, Lehrerin werden.“

Wo und bei wem sich Elfriede Mack in diesen zwei entscheidenden Jahren ihrer jugendlichen Entwicklung aufhielt, ist nicht bekannt.

Der ärztliche Bericht hält weiter fest, dass nach ihrer Rückkehr eine allmähliche Veränderung eintrat. Sie wurde „ unfreundlich, abweisend, besonders gegen die Mutter, reizbar, aß wenig.“

Elfriede hatte aber durchaus eigenen Vorstellungen von ihrer Zukunft, sie besuchte gegen den Willen der Eltern eine Vorbereitungsschule für Lehrerinnen in Stuttgart. Für eine, nach damaligem Recht noch nicht einmal volljährige, junge Frau ein ungewöhnlicher Schritt. Der Anteil weiblicher Lehrer an der gesamten Lehrerschaft war damals äußerst gering. Das Examen fiel jedoch schlecht aus, der ärztliche Bericht hält fest: „darüber abgehärmt, schlecht geschlafen, viel geweint.“ Zur Erholung fährt sie in ein Nordseebad, wo sie an einem Abend ins Meer rennt und nur mit Mühe zurückgehalten wird. Der Bericht wertet dies als einen Suizidversuch. Ende August ist sie wieder zu Hause und ab dem 16. September 1909 in der Klinik in Tübingen, wo sie drei Jahre bleibt.

(In der Familie gibt es die Legende, Elfriede hätte eine Jugendliebe gehabt, die von der Mutter absolut nicht geduldet wurde – was bis zum Einsperren ins Haus geführt hätte. Diese Belastungen hätten zu großen Depressionen geführt, was letztlich zur Einweisung in die Heilanstalt geführt habe. Mitgeteilt von der Nichte)

Unter der Überschrift „Status präsens“ hält die Tübinger Klinik fest, dass die Patientin sehr groß ist (180cm, an einer anderen Stelle sind 183 cm vermerkt), ihr Ernährungszustand, ihre Temperatur, ihre Gehirnnerven, ihrer Sensibilität, ihre Reflexe und ihre Inneren Organe zeigen alle einen normalen Befund.

Als Diagnose wird festgehalten: „Hebephrenie, Diagnose ungünstig“. Zu dieser Diagnose findet man im Klinischen Wörterbuch: „.. so genanntes Jugendirresein, Bezeichnung für eine Form der Schizophrenie, die sich zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr manifestiert. Symptome sind unter anderem Veränderung des Affekts, Zerfahrenheit, Antriebsverarmung.“

Am 23. April 1912 erfolgt die Aufnahme in der Heilanstalt Weinsberg, sie wird hier die restlichen 28 Jahre ihres Lebens verbringen.

Die dort erstellte Krankenakte enthält zunächst recht ausführliche Berichte, im weiteren Verlauf des Aufenthaltes werden die Eintragungen immer knapper und gleichförmiger, die Eintragungen für die Jahre 1936 bis 1938 umfassen z.B. nur noch ein Blatt. Beispielhaft ist ein Eintrag vom Januar 1921: „Kümmert sich nicht um ihre Umgebung, gibt höchst selten einmal auf eine Frage die Antwort “Ich weiß net“, (…) schreit und singt unbeirrt weiter, lacht viel vor sich hin, (…) die sprachlichen Äußerungen sind meist ohne Zusammenhang.“

Ferner heißt es immer wieder, dass sie „grimmasiert“, sich nicht sauber hält und ständig blutig kratzt, weshalb sie Handschuhe tragen muss. Über Besuche der Eltern freut sie sich, „schwätzte aber immer in der Unterhaltung ihre zusammenhanglosen Worte dazwischen.“  Ein anderer typischer Eintrag vom Januar 1940 hält fest: „ Jahraus jahrein dasselbe Verhalten. Liegt lächelnd Selbstgespräche führend im Bett, kratzt sich immer noch gern das Gesicht wund.“

Nach dem Tod des Vaters übernimmt der Bruder die Kosten für die Unterbringung. Diese betrugen in Weinsberg im Durchschnitt 1,80 bis 2,60 Reichsmark. Für Elfriede wurde jedoch der höchste Tagessatz von 4,-RM bezahlt.

Der letzte Eintrag vom 25. Januar 1940 lautet:“ Wurde in eine andere Anstalt verlegt“.

Dieses Datum der Ankunft in Grafeneck ist gleichzeitig das von der Gedenkstätte bestätigte Todesdatum, auch wenn das Familienregister im Stadtarchiv Ludwigsburg den 7. Februar 1940 angibt.

 

Christian Rehmenklau

Ernst Scheufler

In 100 Tagen von der Straße in den Tod

Gartenstraße 17

Ernst Gottlob Scheufler wurde am 21. Dezember 1938 in der damaligen Ernst-Weinsteinstraße 17 (heute Gartenstr.17) verhaftet und ins KZ Dachau mit dem Eingangsvermerk AZR eingeliefert.

Die Abkürzung AZR hieß im Klartext „Arbeitszwang Reich“ und bezeichnet eigentlich die März-Aktion der Gestapo und die Juni-Aktion der Kripo, um sog. „Asoziale“ oder sog. „Gemeinschaftsfremde“ zu verhaften. Darunter fielen neben Wohnsitzlose, Bettler, Landstreicher (damals „Wanderer“ genannt), mittellose Alkoholkranke, in geringerer Zahl auch Zuhälter und Personen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren. Unter den Eingelieferten waren außerdem viele Roma und Sinti.

Es handelte sich also um sehr unterschiedliche Menschen, die man unter dem Sammelbegriff „asozial“ in die Konzentrationslager verschleppte. Gemeinsam war ihnen allenfalls, dass ihre Verfolger sie als arbeitsscheu ansahen. Im öffentlichen Bewusstsein waren die „Asozialen“ gewissermaßen der harte Kern der Fürsorgeempfänger.

In der Gartenstraße 17 befanden sich bis vor einigen Jahren das evangelische Gemeindehaus und die Diakonische Bezirksstelle. Am 1. Oktober 1909 war hier in der „Herberge zur Heimat“ eine sog. „Wanderarbeitsstätte“ eröffnet worden. Sie diente mittellosen Wanderern als Übernachtungsmöglichkeit. Wer damals nicht arbeiten konnte oder wollte, musste diese Wanderherberge nach 2 Übernachtungen wieder verlassen. 1925 wurde ein Neubau des Hintergebäudes beschlossen und im 1. Stock desselben ein Christliches Hospiz (Hotel mit Gaststätte) mit 10 Zimmern und 18 Betten eingerichtet. Außerdem wurde ein „Kosttisch“ für 60-70 Menschen und in der Herberge zur Heimat 40 Betten bereitgehalten, was vom Evangelischen Verein Ludwigsburg betrieben wurde. Dem Verein wurde der Vertrag zur Wanderarbeitsstätte vom Oberamt Ludwigsburg 1938 gekündigt und es war vorgesehen, die Wanderarbeitsstätte ins Obdachlosenheim zu verlegten. Hier hatten im April 1938 noch 92 Wanderer mit 145 Verpflegungstagen übernachtet. Die Schließung erfolgte schließlich 1940.

Das „Evangelische Vereinshaus“ war auch eine Anlaufstelle für Wanderarbeiter. An dieser Stelle war später das Evangelische Gemeindehaus der Ludwigsburger Stadtkirchengemeinde. Heute steht da ein Mehrfamilien-Wohnhaus.

Wir wissen in der Regel wenig über das Leben der Wohnungslosen und Menschen, die auf der Wanderschaft waren und die Opfer der Verfolgung wurden. Bei Ernst Scheufler ist das anders: Wir wissen einerseits viel, aber andererseits wenig über seine letzten Jahre. Viel wissen wir über die Zeiten, in der er aktenkundig wurde.

 

Ernst Scheufler wurde als 4. Kind des Eisenbahners Jakob und seiner Frau Margarethe Scheufler, geborene Ehrhardt, am 20. August 1893 in Stuttgart geboren. Als Ernst geboren wurde, wohnte die Familie in der Forststraße 43 im Hinterhaus. Aufgewachsen ist Ernst dann aber mit seinem älteren Bruder Wilhelm und der 1896 geborenen Schwester Bertha im neuen Stuttgarter Stadtteil Ostheim in der Teckstrasse 30.

Teckstr.30 heute

Der Stadtteil Stuttgart Ostheim entstand auf Initiative von Eduard Pfeiffer. Der jüdische Kaufmann, den man nach heutigen Maßstäben als erfolgreichen Banker und Multimillionär bezeichnen würde, war auch als Politiker aktiv und war ein Philanthrop. Er war u.a. an der Gründung des „Verein(s) für das Wohl der arbeitenden Klassen“ beteilig, der den Bau von Wohnungen durchführte. Die Arbeiterfamilien sollten günstig wohnen, außerhalb der Stadt, aber doch nicht zu weit von der Arbeitsstelle liegen, um keine unnötigen Fahrtkosten zu erzeugen. Im Juli 1892 zog der erste Bewohner in Ostheim ein und am Jahresende wohnten bereits 700 Menschen aus 134 Familien dort.  Die Berufe der Haushaltsvorstände waren Maschinenbauer, Handwerker wie Schuhmancher, Tagelöhner, aber  auch kleine Beamte oder Angestellte.

lnschrift am Obelisk am Teckplatz – heute Eduard-Pfeiffer-Platz

In seinem 1893 angefertigten Bericht beschrieb Pfarrer Lempp eingehend die Ostheimer Verhältnisse: „Wenn irgendetwas den Charakter des Ostheimer Lebens bezeichnet, so ist‘s eben das, daß ein Gefühl des Fremdseins die Leute beherrscht. Es ist nur das äußerliche Nebeneinander, das die Leute verbindet, noch kein inneres Band.“

Aktenkundig wird Ernst Scheufler mit 18 Jahren zum ersten Mal 1911 als er zu 12 Tagen Gefängnis wegen Sachbeschädigung und wegen Beamtenbeleidigung und ruhestörenden Lärm verurteilt wird. Ernst war von Beruf Schmid und arbeitete als Zuschläger, d.h. als Gehilfe. Bis zu seiner Einberufung im September 1914 im 1. Weltkrieg finden sich weitere 6 Verurteilungen in den Akten. Im Juli 1915 wird er mit einem Durchschuß des linken Fußes verwundet. Sein Militärakte beschreibt ihn 1,76m groß, schlank und schwarzhaarig und „mit Tätowierung am rechten Goldfinger sowie am ganzen Leib“.

Offensichtlich hatte er mit Normen und Regeln Probleme: er kehrte vom Urlaub nach dem Zechen mit Freunden nicht in die Kaserne zurück und wurde wegen mehrmaligen Fernbleibens von der Truppe, aber auch Diebstahl vom Kriegsgericht zu einer Gesamtstrafe von 4 Jahren und 1 Monat verurteilt, die er in Ulm und Heilbronn zu verbüßen begann. Die Strafe wurde am 23.5.1918 ausgesetzt, damit Ernst wieder mit der Truppe ins Feld ziehen konnte. Er zog aber lieber mit Freunden in Cannstatt durch die Gaststätten, wurde im August von der Polizei wieder geschnappt und erneut verurteilt und musste im Festungsgefängnis Ulm einsitzen. Laut gerichtsärztlichem Gutachten sei Scheufler „leicht erregbar“ gewesen. Das Ende des 1. Weltkrieges brachte auch für ihn die Freiheit: am 19.November 1918 wurde aufgrund der allgemeinen Amnestie entlassen.

Im Februar 1920 heiratete er Thekla Helena geb. Zwicker, aber die Ehe hielt nicht lange: 6 Jahre später wurde sie wieder geschieden. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wird als Beruf von Ernst Scheufler Tagelöhner in den Akten angegeben. Er geriet immer wieder wegen kleinkriminellen Delikten mit dem Gesetz in Konflikt: illegaler Vogelfang, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Hehlerei, Beamtenbeleidigung, grober Unfug. Schließlich wurde er 1928 wegen Zuhälterei zu 5 Monaten und 15 Tagen Gefängnis verurteilt, die er ab 3. Juli 1928 in der Haftanstalt Schwäbisch Hall und im Landesgefängnis Ulm bis zum 15. November 1928 verbüßte.

In den Strafakten ist auch eine Charakterisierung eines Zeugen zu finden: „Wenn die Mutter bei der Nachricht von der Verhaftung des Sohnes nur sagen kann: ‚Gott sei Dank, dann kann ich doch wieder ruhig schlafen‘ …Er hat in seinen Räuschen schon das ganze Haus in Atem gehalten, sodass die Leute zum Fenster hinaus nach Hilfe rufen mussten…

Ab 1933 ist Ernst Scheufler er nicht mehr in der Teckstraße gemeldet. Wir wissen nicht, ob ihn seine Eltern aus der Wohnung geworfen haben oder was der Auslöser war. Seine Mutter ist am 29. Dezember 1934 gestorben, sein Vater am 8. Januar 1937.

Danach findet sich nichts mehr von Ernst Scheufler in den Akten. Vermutlich war er wohnsitzlos und hat er sich auf Wanderschaft begeben, denn die nächste Spur, die wir gefunden haben, ist die Übernachtung hier in der Wanderherberge in Ludwigsburg in der heutigen Gartenstraße 17 – damals Ernst-Weinstein-Straße 17. Am 21.12.1938 wurde er in einer Razzia aufgegriffen und ins KZ Dachau mit dem Vermerk AZR (= „Arbeitszwang Reich“) eingeliefert. Von dort wurde Ernst Scheufler am 21.3.1939 ins KZ Mauthausen als Nr. 164 in den Block 10 gebracht. Das KZ Mauthausen gehörte zur Kategorie 3, das hieß. in der Nazisprache „Vernichtung durch Arbeit“. Bereits am 8.4.1939 wird der Totenschein mit der Todesursache Herzschlag ausgestellt. Als Alter wird fälschlicherweise 40 Jahr und 4 Monate eingetragen – tatsächlich ist Ernst Gottlob Scheufler da 45 Jahre und 8 Monate alt.

 

Verwendete Quellen:

Adressbücher mehrere Jahrgänge, Stadtarchiv Stuttgart

Familienregister Scheufler/Zwicker, Standesamt Stadt Stuttgart

Geburtsregister 1893, Stadtarchiv Stuttgart, Nr. 2811

Familienregister Scheufler/Erhardt, Standesamt Stadt Stuttgart, Bd. 65, Nr. 780

Sterberegister 1937, Stadtarchiv Stuttgart

Evangelische Kirchenbücher Württemberg, 1500-1985, Taufregister, Abruf bei Ancestry.com

Militärstrafverfahren des XIII. Armeekorps – Einzelfälle, HStA Stgt, M78 Bü 174 und M 80 Bü 12/98

Gefangenen-Index 1928 Strafanstalt Schwäbisch Hall,  StALB E 356 a I, Nr. 64

Gefangenenhauptbuch Strafanstalt Schwäbisch Hall,  StALB E 356a I, Nr. 71

Landesgefängnis Ulm, StALB E 356 g, Bü.1339

Personalien der evang. Gefangenen, StALB E 356a I, Nr. 76

Bekämpfung von Bettel und Landstreicherei, 1913-1937, StALB PL 413, Bü 294

Bekämpfung des Wanderbettels HStA Stgt PL 413 Bü 80

Regelung des Wandererwesens 1936 -1944, HStA Stgt E 151(09, Bü 481

Innenministerium, Abteilung III: Polizeiwesen, HStA Stgt E 151/03, Bü 590

Belegung der Wanderarbeitsstätten im April 1938, StALB PL 413 Bü 130

Datenbank Auszug, KZ-Gedenkstätte Dachau

Schreibstubenkarte KZ Dachau, Sign.01010607 oS / ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Listenmaterial KZ Dachau/Zugangsbuch,.Sign. 8056129 / ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Veränderungsmeldung KZ Dachau 17.01.1939 – 5.3.1940, Sign. 8056129 Dokk. 9909703 – 712/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen / ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Listenmaterial KZ Dachau/Überstellung nach KZ Mauthausen, Sign. 8057600 ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Mauthausen. Sign.01012603 oS, Listenmaterial KZ Mauthausen Sign. 01012603 oS ITS Digital Archive, Bad Arolsen.

Leichenschauschein Individuelle Unterlagen KZ Mauthausen, Sign.  01012603 oS / ITS Digital Archive, Bad Arolsen.

 

Verwendete Literatur:

Ayas, Wolfgang: „Asozial“ und „gemeinschaftsfremd“. Wohnungslose in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in: Wohnungslos 3/04

Ayas, Wolfgang: „ Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933 -1945, Koblenz 1998

Ayas, Wolfgang: „Asoziale“ – die verachteten Verfolgten in: Dachauer Hefte 14. „Verfolgung als Gruppenschicksal“, 14. Jg. 1998, Heft 14

Ayas, Wolfgang: Wohnungslose im Nationalsozialismus. Begleitheft zur Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Bielefeld 2007

Blessing, Elmar: Ostheim und seine Schulen, 1903-2003, hrg. von MUSE-O im Auftrag der GHS Ostheim, Stuttgart 2003

https://www.die-siedlung-ostheim.de – Abruf 20.10.21

Hörath, Julia: “Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938,

Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen: Kurzgeschichte der Konzentrationslager Mauthausen und seiner drei größten Nebenlager Gusen, Ebensee und Melk, Wien o.J.

Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016 , S. 166 – 187
Weinmann, Martin (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem (CCP), Frankfurt 1990, S. 375

 

Walter Mugler

Albertine Mathilde Reichert

Ein friedliches Leben durfte nicht friedlich enden

Elmar-Doch-Str. 33

Albertine Mathilde Reichert kommt am 15. August 1866 in Ludwigsburg zur Welt. Sie ist die Tochter des Schuhmachers Michael Meffert und seiner Frau Luise. Hier, in Ludwigsburg, wächst sie auf. Sie heiratet 22-jährig im August 1887 den drei Jahre älteren Postmeister Wilhelm Reichert, ebenfalls aus Ludwigsburg. 1889 kommt ihr Sohn Rudolf zur Welt. Das 1894 geborene Töchterchen Mathilde wird nur wenige Monate alt. 1896 zieht die Familie nach Sontheim bei Heilbronn, wo im Jahr 1900 der zweite Sohn Willy geboren wird.

Weitere Informationen zu Albertine und Wilhelm Reichert sind erst wieder durch den Rückzug nach Ludwigsburg aus Willsbach im März 1925 bekannt. Wilhelm Reichert ist Postmeister a.D. und Eigentümer des Gebäudes Paulinenstrasse 33, in der heutigen Elmar-Doch-Strasse.

Im Jahr nach dem Tod ihres Mannes 1936 zieht Albertine Reichert im August 1937 zum älteren Sohn nach Stuttgart. Doch nur zwei Monate später kehrt sie im Oktober wieder in ihr Haus nach Ludwigsburg zurück. Der bis dahin einzige Hinweis auf eine Erkrankung Albertine Reicherts ist einer Fürsorgeakte im Stadtarchiv Ludwigsburg vom Juni 1938 zu entnehmen. Nach einem einwöchigen Aufenthalt im Kreiskrankenhaus Ludwigsburg wird Albertine Reichert am 21. Juni 1938 in die Heilanstalt nach Weinsberg überwiesen. Der Anlass für die Unterbringung dort wird mit der Diagnose „arteriosklerotische Demenz“ angegeben. Es ist ihr erster Aufenthalt in einer Heilanstalt.

Dort lebt sie zwei Jahre, bis zum 19. August 1940. Unter diesem Datum steht im Ausgangsbuch der Heilanstalt hinter ihrem Namen „ungeheilt entlassen“. Die Wahrheit ist, dass an diesem Tag ein Transport mit Patienten aus Weinsberg in die Tötungsanstalt nach Grafeneck gebracht wird. Darunter befindet sich auch Albertine Reichert. Noch am gleichen Tag wird sie, gemeinsam mit den anderen Patienten, in Grafeneck durch Giftgas ermordet.

Gudrun Karstedt

 

Fanny Kusiel

Aus der Heimat vertrieben und ermordet

Seestraße 49

Bereits seit 2011 lag der Stolperstein zur Erinnerung an Fanny Kusiel vor dem früheren Pferdehändler-Haus in der Seestraße 49. Dass nun ein neues Exemplar verlegt werden muss, liegt an Bauarbeiten, bei denen der originale Stein beschädigt worden war. Die Geschichte der Familie Kusiel ist also bereits in den beiden Broschüren „Zu Besuch bei verfolgten Nachbarn“ und auf www.stolpersteine-ludwigsburg.de dokumentiert.

Salomon und Fanny Kusiel verließen ihr Zuhause und ihre Heimat in der Not, die das Nazi-Regime einer jüdischen Familie zufügte. Ihr Sohn Siegfried, der bereits früher in die Niederlande ausgewandert war, holte seine Eltern 1939 zu zu sich. Er berichtete zwanzig Jahre später: „Meine Eltern habe ich zu mir kommen lassen, weil ein menschenwürdiges Leben für sie im damaligen Deutschland nicht mehr möglich war.“ Fanny und Salom hätten „alle Möbel hinterlassen müssen und alle Wertgegenstände wie Gold, Silber, Schmuck einliefern müssen“.

„Meine Mutter hat, als sie den Judenstern tragen musste, zuerst bei mir […in] Rotterdam gewohnt und musste im September 1940 die Küststrecke […] verlassen. Ich habe sie darum in Edam untergebracht, von wo aus sie ungefähr im April 1943 deportiert wurde. Nach Angaben des Standesamtes in Edam ist sie in Sobibor in Polen am 14. Mai 1943 ,gestorben‘“.

Ob dieses Datum genau stimmt, ist ungewiss. In einer Akte über die Entschädigung der Kusiel-Kinder für die Ermordung ihrer Eltern heißt es in klassischem Beamten-Deutsch:
„Obengenannte Person gilt als gestorben am 14. Mai 1943 in Sobibor – mit dem Vermerk, dass sich die Feststellung des Todesdatums nicht auf Aussagen von Augenzeugen oder Lagerkommandanten stützt, sondern auf Schlussfolgerungen allgemeiner Art, wozu die Studierung des Schicksals des betreffenden Judentransports beim hiesigen Büro Veranlassung gegeben hat“.

Was für eine Sprache! Im Vergleich hierzu noch ein Zitat aus dem Bericht ihrer Tochter Alice, die in höherem Alter über Fanny Kusiel schrieb:
„Meine Mutter beachtete alle religiösen Regeln, die ihr einleuchteten, sie gaben ihr Kraft in mancher schwierigen Situation. Doch niemals behinderte sie mich in meinen eigenen, liberalen Gedanken.“

Jochen Faber

 

 

Ida Möhler

Mordmotiv Schwermütigkeit

Beihinger Str. 9

Abbildung: Bundesarchiv

Ida Möhler wurde am 17.10. 1887 in Dörzbach im Oberamt Künzelsau geboren. Sie war katholisch und hatte die württembergische Staatsangehörigkeit.

Ihre Eltern waren der Buchbindemeister Fridolin Rettich und seine Frau Anne Marie, geb. Lock aus Sulzbach.

Am 29. April 1912 heiratete sie in Dörzbach Johann Möhler, es war dessen zweite Ehe.

Dieser Ehe entstammten vier Kinder, die alle in Mockmühl zur Welt kamen.

Die Söhne Alfred, geboren 1914, und Johannes, geboren 1920, starben im Krieg in Russland, beide 1942. Sohn Eugen, geb. 1913, heiratete 1943 in Berlin- Zehlendorf eine Barbara Kern. Der Sohn Hubert Paul, geboren 1917, heiratete am 22.7.1944 in Düsseldorf Margarete Andres. Am 31.7. 1944 erfolgte die Abmeldung der Ehefrau nach Ludwigsburg –Hoheneck , wo ihr Mann noch gemeldet war. Auf der Meldekarte sind keine Kinder aufgeführt..

Johann Möhler war Postassistent, er wurde am 24. Juni 1877 geboren und starb am 17. September 1927 in Neckarsulm. Zwei Jahre nach seinem Tod zieht Ida Möhler um nach Ludwigsburg.

Im Familienregister der Stadt Mockmühl finden wir den Eintrag: Ida Möhler „am 9.April 1929 nach Ludwigsburg-Hoheneck verzogen. Am 11.4. 29 dorthin übergeben.“

Auch das Einwohnerregister der Stadt Ludwigsburg bestätigt den Zuzug von Ida Möhler aus Mockmühl am 9.4. 1929 als Eigentümerin des Hauses in die Beihingerstr. 29.

(Allerdings wurden später bei der Umnummerierung von Bottwartalstr. und Beihingerstr. die Hausnummern verändert, aus 29 wurde die 9. Dieses Haus wird heute vom Urenkel von Ida Möhler bewohnt.)

Die Einwohnerbücher von Ludwigsburg bestätigen, dass Ida Möhler, Postassistentenwitwe, in den Jahren 1934, 1936, 1938 in der Beihingerstraße wohnte, immer zusammen mit Hedwig Mayer, ihrer Schwester.

Hedwig Mayer, geb. Rettich, war eine Hauptlehrerswitwe, sie ist am 20.7.1890 in Dörzbach geboren, sie heiratete am 30.8.1913 den Karl Mayer, der 1918 in Frankreich fiel.
Ihr Zuzug nach Ludwigsburg erfolgte am 3.10.1929. Sie war später für die Anstalt Weinsberg die zahlungspflichtige Person.

Ab Herbst 1929 wohnten also die Schwestern, beide Witwen, zusammen im Haus Beihingerstr. 29, das laut Einwohnerkarte der Ida Möhler gehört.

Über das weitere Leben von Ida erfahren wir etwas aus den Krankenakten der Heilanstalt Weinsberg, denn dort wurde Ida Möhler am 26. August 1931 zu ersten mal eingeliefert. Sechs Jahre später, am 25.2. 1937 wird sie nach Hause entlassen, aber schon einige Tage später, am 8. März 1937, ist sie wieder in Weinsberg.
Als nächstes halten die Akten fest: „Ausgetreten am 8. Mai 1940 – Wohin? In eine andere Anstalt.“
Die Gedenkstätte Grafeneck bestätigt, dass dieser Tag auch der Todestag von Ida Möhler war – sie wurde an diesem Datum in Grafeneck ermordet.
Das Standesamt in Grafeneck hat das Todesdatumund die Ursache, wie es oft geschah, gefälscht und gibt den 23. Mai an. Als Todesursache wird „Akute Hirnschwellung“ angegeben.

Neun Tage vor dem ersten Eintritt in Weinsberg, am 26.8.1931 erstellte ein Arzt am Ludwigsburger Krankenhaus, Dr. Joel, eine Anamnese, die den Krankenakten beigefügt ist. Nachdem festgestellt ist, dass es keine Geisteskrankheiten in der Familie gegeben hat, schildert er die Entstehung und Entwicklung der Geistesstörung:
„… seit zwei Jahren nicht mehr ganz richtig. Vor zwei Jahren wegen Schwermut Suicidversuch. Durchschneiden der Pulsader. Deswegen im Krankenhaus Ludwigsburg. Seitdem meist schwermütig, schimpft oft, streitsüchtig, Verfolgung- und Beziehungswahn. (…) Beschreibung der derzeitigen Geisteszustandes: glaubt vom Teufel besessen zu sein. Sie hat Gehörs- und Gesichtshalluzinationen. Glaubt, ihr Bett sei elektrisch. Sie hält sich selbst für gesund, möchte aber in die Irrenanstalt, damit man dort feststellt, dass sie nicht verrückt sei. Sie liegt stundenlang lachenden Gesichts ruhig im Bett und schimpft dabei beständig mit einer Gestalt, die sie anscheinend an der Decke sieht. (…) Suicidgefahr.“

Die Eintragungen in der Krankenakte erstrecken sich über neun Jahre und umfassen 15 Seiten, davon sieben Seiten für das Jahr 1931. Im weiteren Verlauf reichen meist zwei Seiten für zwei Jahre.

Die psychischen Probleme haben wohl schon bestanden, als Ida Möhler nach Ludwigsburg zieht. Der erste Eintrag der Krankenakte hält fest: „Der Mann sei Bahnbeamter gewesen, habe mit der Familie in Möckmühl gewohnt. Nach seinem Tod sei Pat. (Patientin) mit ihrer Schwester in Hoheneck zusammengezogen, dort habe sich gleich ein Komplott gegen sie gebildet, namentlich eine Nachbarsfrau sei ihr feindlich, aber die ganze Welt sei gegen sie.“ Dann wird beschrieben, wer ihr Böses will, dass sie Schriften mit Hinweisen an der Zimmerwand liest und dass ihr Mann wieder auferstanden sei. Beobachtungen dieser Art wiederholen sich. Der Alltag für Ida Möhler sieht wohl so aus, wie in diesem Eintrag festgehalten: „Halluziniert dauernd lebhaft, ist sonst aber gut zu haben, wenn sie auch ab und zu laut schimpft. Täglich beim Mattenflechten.“
Ihr Bruder und ihre Schwester, die Hedwig Mayer, die auch als zahlungspflichtige Person angegeben ist, versuchen 1937, sie wieder nach Hause zu holen, aber nach 12 Tagen ist sie wieder in Weinsberg.
Zwei Monate vor ihrer Verlegung in die Tötungsanstalt heißt es in einem der letzten Einträge: „Seit Monaten fleissig bei der Arbeit in der Bügelstube. Führt oft laute Selbstgespräche. Isst unregelmäßig.“

Recherche: Christian Rehmenklau

Elise Münz

Wortgewandt, freundlich, fleißig

Bogenstraße 10

Vortrag anlässlich der Stolpersteine-Verlegung für Elise Münz
von Marc Haiber

Dort wo ich lebe wurden sehr viele Menschen auf Grundlage der nationalsozialistischen Ideologie in den Tod geschickt: mehrere Hunderte Menschen von der Sammelstelle für Sinti und Roma vom Hohen Asperg in die Konzentrationslager und 120 Menschen von der Landesfürsorgeanstalt Markgröningen nach Grafeneck und in Ludwigsburg wohnten überall im Stadtgebiet Menschen die aus den unterschiedlichsten Gründen verfolgt wurden.

Es konnte jeden treffen. Und die Täter waren genauso überall – die Nazis waren nicht das abstrakte böse andere, sondern Verwandte, Nachbarn usw. Es liegt an uns in welcher Gesellschaft wir leben – wer sich nicht erinnert verliert die Orientierung.

Wir erinnern uns hier an Elise Münz mit dem Bewusstsein, dass ein Vergessen der Vernichtung Teil der Vernichtung selbst wäre.


Elise Münz wohnte hier in Ludwigsburg in der Bogenstraße 10 im 2. Stock

Sie ist geboren am 3.5.1885. Sie war römisch-katholisch getauft und Württembergische Staatsangehörige

Ihre Eltern waren Jakob und Dorothea Münz. Ihr Vater war von Beruf Schlosser. Die beiden heirateten wenige Monate vor Elises Geburt.

Elise Münz war das einzige gemeinsame Kind der beiden. Ihre Mutter starb bereits am 25.05.1890, also kurz nach Elise 5. Geburtstag.

Ihr Vater heiratete seine zweite Ehefrau, Elises erste Stiefmutter, noch im selben Jahr (am 15.11.1890). Auch diese Ehe hatte wenig Glück, denn Jacobs zweite Ehefrau verstarb keine 4 Jahre nach der Hochzeit (am 1.11.1894). Elise war zu diesem Zeitpunkt 9 Jahre alt. Die Ehe brachte drei Kinder hervor. Diese Halbgeschwister von Elise starben alle kurz nach der Geburt im Kleinkindalter. Besonders tragisch war, dass Elises Stiefmutter selbst nur 2 Tage nach der Entbindung ihres 3. Kindes starb (dieses Kind starb bereits am Tag der Geburt).

Knapp 5 Monate später heiratete Jacob ein drittes Mal. Marie Münz war nun die zweite Stiefmutter von Elise. Sie wird später in ihrer Weinsberger Patientenakte als die nächste Verwandte und Angehörige angegeben. Die Ehe zeugte drei Kinder. Diese Halbgeschwister von Elise waren zwischen 11 und 23 Jahre jünger als sie selbst. Vielleicht war die Bindung zu diesen Halbgeschwistern aufgrund der Altersunterschiede weniger eng. Zumindest wurde bei ihrer Weinsberger Patientenakte angegeben, dass sie keine Geschwister hätte. Die tragischen Todesfälle von Mutter, erster Stiefmutter und Halbgeschwister dieser Eher lassen vermuten, dass die Kindheit von Elise nicht einfach war. Es liegt nahe, dass es schwierig für sie als Kind sein musste, den Verlust von sehr wichtigen Bezugspersonen zu verkraften. Als Kind sei Elise Münz schon immer eigensinnig und herrschsüchtig gewesen.

Elise Münz war zeitlebens ledig.
Von Beruf war sie Verwaltungsangestellte (damalige Berufsbezeichnung (Kontoristin) .
Von Elise Münz liegt uns diese Fotographie vor, welches sie im Erwachsenalter zeigt.

Als erwachsene Frau hatte sie eine Körpergröße von lediglich 1,42m, bei einem Körpergewicht von ca. 50 kg. Ihre Augenfarbe war blau. Ihre Haarfarbe wird im Alter von 46 Jahre als grau angegeben. 1940 bei ihrer Deportation nach Grafeneck in den Tod wurde im Fahrverzeichnis als mitgegebenem persönlichen Besitz auch eine Brille vermerkt – vermutlich wurde sie also im Laufe ihres Lebens zur Brillenträgerin.

Elise Münz Vater Jacob starb 64-jährig am 28.7.1926. Elise Münz war zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt und wohnte im gleichen Haus wie er in der Bogenstraße 10.

Psychische Auffälligkeiten zeigten sich bereits in der Jugend – mit 16 Jahren war sie als Kindermädchen in Paris gewesen. Wegen Verrücktheit musste sie dort allerdings wieder zurück gehen. In ihrem 18. Lebensjahr, 1913, unternahm sie einen Suizidversuch. Elise Münz übergoss sich mit Spiritus und zündete sich selbst an. So ist sie dann aus dem Fenster gesprungen und hatte sich beide Beine gebrochen. (Behandelt wurde sie dann im Cannstatter Krankenhaus). Aufgrund der Verbrennungen hatte sie dann von der linken Halsseite bis zur Achsel eine große Narbe, ebenso war ihre Brust großflächig vernarbt. Ihre Füße wurden später in Weinsberg dann als verkrüppelt mit versteiften Fußgelenken beschrieben – auch dies war eine Folge des Suizidversuchs. Ihr Gang war deshalb auch entsprechend gestört. Von November 1914 bis September 1915 war Elise Münz, nach Einweisung durch das Bürgerhospitals, dann in der Heilanstalt Winnental. Diagnostiziert wurde bei Elise Münz chronische Paranoia, Schizophrenie und Melancholie. Von dort wurde sie mit gebesserter Gesundheit entlassen und kam zurück nach Ludwigsburg. Von 1928 – 1929 war sie 1 ½ Jahre als Verwaltungsangestellte beim Orient-Okzident Verlag angestellt. Zumeist war sie wohl aber ohne Anstellung.

Zwei Jahre später wurde in Ludwigsburg von einem Dr. Joel am 11.11.1931 eine Paranoia diagnostiziert und es erfolgte auf seine Veranlassung eine Aufnahme in die Heilanstalt Weinsberg zum 19.11.1931.

Elise Münz hatte Wahnvorstellungen und glaubte sie sei die Prinzessin von Württemberg. Als diese hätte sie Arbeiten geschrieben zur Lösung der wirtschaftlichen Not. Zudem würde sie wegen ihrer großen Leistungen und ihrer aristokratischen Abstammung verfolgt werden. Mit modernen Apparaten würde man alles von ihr abhören. Sie litt also auch unter einem Verfolgungswahn. Zudem kündigte sie das Ausscheiden aus dem Leben an, wenn man ihre Leistungen nicht anerkennen würde. Deshalb wurde als besonders wichtig bei der Aufnahme eine Suizidgefahr vermerkt.

Von nun an lebte Elsie bis zu ihrer Ermordung etwas mehr als acht Jahre in Weinsberg. Unter Psychosen litt sie in dieser Zeit immer wieder phasenweise. Insgesamt hatte sie aber auch sehr viele gute Zeiten in Weinsberg, in denen sie sich wohl fühlte und es ihr gut ging.

Auffallend ist, dass Elise Münz als sehr wortgewandt beschrieben wurde und sich sehr gut ausdrücken konnte. Sie wurde aufgrund ihrer geringen Körpergröße von 1,42 m als winzige Person mit großem Mundwerk wahrgenommen. Ihre Wahnvorstellungen hatten für die behandelnden Ärzte auffallend gute Zusammenhänge und wurden lt. Weinsberger Patientenakte wohlformuliert von ihr vorgetragen. Auch in ihrer Wahn-Welt wirkte sie auf ihre Umgebung geordnet und selbstbewusst.

Als Patientin in Weinsberg war sie oft freundlich zu ihren Mitmenschen. Ihre aristokratische Wahnvorstellungen hatte sie immer wieder – so hatte sie z.B. auch mal die Annahme, dass ihr als Gräfin von Münsingen wichtige Briefe vorenthalten würden. Arbeiten in Weinsberg führte sie oftmals aus, obwohl sie sich als Gräfin oder Königin dazu eigentlich nicht verpflichtet fühlte.

Phasenweise hatte sie in Ihrem Wahn aber auch schlimme Angstzustände.

So wurde sie wegen Unverträglichkeit dann auch mal in Bettbewachung gehalten. Manchmal zog sie sich in ihrem Wahn auch von selbst zurück.

Während ihren viele gute Phasen in Weinsberg ohne Psychosen, nahm sie aktiv am dortigen Leben teil. Dann beteiligte Elise Münz sich auch gerne am kulturellen Leben und nahm im Festsaal an Veranstaltungen mit Kuchen und Tanz oder Märchenvorstellungen teil. Sie bekam auch Verwandtschaftsbesuch von der Stiefmutter und einer Base (vielleicht wurde in der Patientenakte mit Base aber auch eine Halbschwester gemeint – vielleicht waren die Verwandtschaftsverhältnisse dem dortigen Personal nicht so klar).

Vor allem wurde in Weinsberg, über all die Jahre auffallend häufig, sehr positiv ihre Arbeitsleistungen beschrieben. So half sie beim Gemüseputzen, aber vor allem arbeitete sie sehr gut und sehr gerne in der Nähstube und beim Stricken. Offensichtlich war sie sehr geschickt bei Handarbeiten. Sehr fleißig zeigte sie sich beim Wäsche ausbessern. Über ihre ganze Zeit in Weinsberg, auch bis zu den letzten Einträgen in ihrer Patientenakte zum Jahreswechsel 1940, wird immer wieder ihre tägliche fleißige Arbeit beim Flicken, Löcher stopfen oder anderen Handarbeiten beschrieben.

Der letzte Eintrag erfolgte am 25. Januar 1940: „Keine Änderung. Verlegt in eine andere Anstalt“. Vermutlich wusste damals in Weinsberg noch niemand, dass Elise Münz in Grafeneck noch am selben Tag in einen qualvollen Tod durch Ersticken im Gas geschickt wurde. Die Vernichtung des so genannten unwerten Lebens hatte soeben erst begonnen – Elise Münz gehörte damit zu den ersten von über 10 000 Mordopfern in Grafeneck. Sie wurde nur 54 Jahre alt. Um die Massenermordungen in Grafeneck zu verschleiern, wurde dort auch das Todesdatum vertuscht. Bei Elise Münz wurde es auf den 11. Februar 1940 gefälscht.

Josef Michelbacher

„Vergessene“ Opfer der NS-Diktatur

Gartenstraße 17

Josef Michelbacher wurde am 7. Februar 1906 in Gisingen, heute ein Ortsteil der 800 Einwohnergemeinde Wallerfangen im Saarland geboren.

Das heutige Wallerfangen liegt an der Grenze zu Frankreich und war im Laufe der Geschichte immer wieder umkämpft und gehörte lange zum Herzogtum Lothringen. Nach den napoleonischen Kriegen wird die Gegend im zweiten Pariser Friedenvertrag 1815 zur preußischen Rheinprovinz zugeschlagen. Infolge des deutsch-französischen Krieges 1870/71 und der Abtretung von Elsaß-Lothringen an Deutschland ist der Kreis nicht mehr Grenzgebiet. Viele Menschen wandern in die nun deutschen Kohle- und Erzreviere in Lothingen aus, um dort zu arbeiten. Die Familie von Josef bleibt in Gisingen. Als Schüler erlebt nun Josef, dass das Saargebiet 1919 im Frieden von Versailles unter die Verwaltung des Völkerbundes kommt, aber zu französischen Wirtschaftraum gehört, da die Kohlegruben und ihre Ausbeutung sowie die Eisenbahnen westlich der Saar als Reparationen des 1. Weltkrieges Frankreich zugesprochen wurden. Elsaß-Lothringen gehört nun auch wieder zu Frankreich. Damit ist die Bürgermeisterei Kerlingen, zu der Wallerfangen gehört, faktisch wieder eine Grenzregion.

Josef stammt aus armen Verhältnissen. Der Großvater Mathias väterlicherseits hatte noch eine Landwirtschaft gehabt und der Großvater Johann mütterlicherseits war Maurer und Tagelöhner. Josefs Vater Johann wurde als sechstes von acht Kindern geboren und war auch Tagelöhner und seine Mutter Maria, geb. Kastel wuchs als viertes von sieben Kindern auf. Die Eltern heiraten im August 1903 und der ältere Bruder Johann Mathias wird 1904 geboren. Fast alle Familienmitglieder stammten aus Gisingen und sind auch dort geblieben, auch der zwei Jahre ältere Bruder von Josef.

Wallerfangen war Ende des 18 Jahrhunderts eine der Wiegen der heute weltberühmten Firma Villeroy & Boch. Während des Ersten Weltkrieges wurde die Produktion vorübergehend eingestellt. Da eine Belieferung des Deutschen Reichs aus dem nach Kriegsende abgetrennten Saargebiet nur erschwert möglich und die Beschaffung der Rohstoffe (v. a. Brennmaterial und Tone) schwierig war, erwarb Villeroy & Boch 1920 Fabriken bei Bonn und bei Breslau, wo es in der Zeit zwischen den Weltkriegen die Produktion wieder aufnahm. Im Saargebiet wird dann hauptsächlich für den französischen Markt produziert. Die Produkte der Wallerfanger Fabrik erhalten nun auf ihrem Stempel den Zusatz „Made in Saar-Basin“. 1931 wird die Fabrik nach der Weltwirtschaftskrise geschlossen und über 600 Beschäftigte werden arbeitslos. Zwischen 1935 und 1937 werden auch die Fabrikgebäude abgerissen.

Josef Michelbacher scheint der Einzige in der Familie gewesen zu sein, der sein Glück in der Fremde suchte. Wir können leider nicht mehr nachverfolgen, wo er gewesen ist. Die erste Spur, die wir gefunden haben, war seine Verhaftung in Ludwigsburg.

Josef Michelbacher war knapp 10 Tage, vom 15. Juni 1938, 17.15 Uhr bis zum 25. Juni 1938, 9.30 Uhr in der Zelle 13 des Ludwigsburger Gefängnisses inhaftiert. Danach scheint er in der „Herberge zur Heimat“ und Wanderarbeitsstätte in der damaligen Ernst-Weinstein-Straße 17 (heute Gartenstraße 17) untergekommen zu sein. Leider sind die Belegungsbücher dieser Einrichtung nicht mehr vorhanden.

Arbeitslose Wanderer, Wanderarme, Landstreicher, Vagabunden, Nichtseßhafte, Bettler – die Bezeichnungen für wohnsitzlose Menschen waren so vielfältig wie die Ursachen für ihre schlechte soziale Lage. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise waren mehrere hunderttausend Wanderer unterwegs

Eigentlich war in der Weimarer Republik jede Gemeinde verpflichtet, Wohnsitzlose zu versorgen. In den sog. „Herbergen zur Heimat“ und Wanderarbeitsstätten durften diese nur wenige Tage bleiben.

Bereits Mitte Juli 1933 ergriff der Reichspropagandaminister die Initiative für eine umfassende Bekämpfung des sog. „Bettelunwesens“ und ließ entsprechende Pressmitteilungen veröffentlichen. Die Wohlfahrtsverbände Caritas (für die katholische Kirche) und Innere Mission (für die evangelische Kirche) wurden im August 1933 vom Innenministerium über die geplanten Razzien unterrichtet, man war sich der Loyalität dieser Verbände sicher.

Vom 18. -25. September 1933 wurden dann allein in Württemberg fast 5000 Menschen verhaftet und wegen Bettelei und Landstreicherei mit Haft bis zu 6 Wochen bestraft. Viele von ihnen hatten bereits Vorstrafen wegen dieser oder anderer Delikte der Armen wie Diebstahl, Betrug, Prostitution u.ä.

Das offen geäußerte Ziel der nationalsozialistischen Sozial- und Gesundheitspolitik war die sog. „rassische Erneuerung“ des deutschen Volkes. Deshalb sollte der „arische Volkskörper“ von Juden und Zigeuner befreit und Erbkrankheiten und Minderwertige „ausgemerzt“ werden – wie es hieß.

Erklärter Feind waren die nicht oder eingeschränkt Leistungsfähigen. Im Denken der Nazis war der sog. „arbeitsscheue Asoziale“ der Antityp der Volksgemeinschaft. „Asozialität“ sei vererbbar und zeige sich in „asozialen Sippen“, die von der Vermehrung ausgeschlossen werden müssten. In Fachdiskussionen wurden offen Zwangssterilisationen von Wohnungslosen propagiert.

Die Wanderfürsorgeverbände begrüßten das schärfere Vorgehen gegen die Wohnungslosen. Am 27. August 1936 verhängte der württembergische Innenminister den Zwang, ein Wanderbuch mit sich zu führen. Gleichzeitig wurden die Wohnsitzlosen gezwungen, bestimmte sog. Wanderstraßen zu benutzen.

Eine einmalige Gestapo-Aktion im Frühjahr 1938 führte reichsweit zu 2000 Verhaftungen. In der Sommer-Aktion (Juni 1938) griff das Reichskriminalamt zu. Dazu wurden die entsprechenden Erlasse und Richtlinien herausgegeben. Als Ziel sollte in jedem Kriminalpolizei-Leitstellen-Bezirk 200 männliche arbeitsfähige Personen in Vorbeugehaft genommen werden.

In diesen zwei Verhaftungswellen, die als „Aktion Arbeitsscheu Reich“ bezeichnet wurden, verloren Tausende von arbeitslosen Wohnsitzlose, aber auch Sinti und Roma, mittellose Alkoholkranke, Zuhälter und Personen, die mit der Zahlung ihrer Alimente im Rückstand waren, ihre Freiheit. Viele von ihnen waren fassungslos und verstört über ihre plötzliche Verhaftung.

Es waren ganz unterschiedliche Menschen, die von den Nationalsozialisten unter dem Sammelbegriff „Asoziale“ in die KZs verschleppt wurden und dort einheitlich den schwarzen Winkel an die Häftlingskleidung erhielten. Wohnungslose hatten unter ihnen den größten Anteil.

In den Wochen nach diesen Razzien wurde der Umgang mit ihnen in die Verwaltungsroutine vieler Kommunen überführt: missliebige Klienten der Sozialämter wurden offen mit Formularen in Vorbeugehaft der Kripo genommen und von dort in die KZs geschickt. Bis Kriegsende blieb die Kripo – nicht die Gestapo – federführend bei den Verhaftungen der von den Nazis sogenannten „Asozialen“.

Diese Häftlingsgruppe war bis dahin in den KZs unbekannt und bis zu den November-pogromen 1938 gegen die Juden wurde diese Häftlingsgruppe vorrübergehend die größte (Schätzungen zufolge bis zu 70%) in den KZs. Für die SS-Wachmannschaften war diese Häftlingsgruppe bis zum massenhaften Eintreffen der Juden in den KZs auf der untersten Stufe der Häftlings-Hierarchie und wurde von ihnen auch entsprechend behandelt. Unter denen, die bei den württembergischen Aktionen 1938 ins KZ transportiert wurden, waren die meisten gelernte Handwerker oder Fabrikarbeiter – also überwiegend aus dem Arbeitermilieu. Einige wenige wurden wieder aus dem KZ entlassen, unter anderem einer der drei am 27. Juni 1938 in Ludwigsburg Verhafteten. Er wurde am 28.4.1939 anlässlich der Amnestie zum 50. Geburtstag von Hitler wieder aus dem KZ Dachau entlassen. Dies geschah zum Teil, weil sie zum Wehrdienst gebraucht wurden. Andererseits geht man davon aus, dass bei den „Asozialen“ bis zum Beginn des 2. Weltkrieges die höchste Todesrate in der KZs herrschte.

 

In der Gartenstraße 17 in Ludwigsburg befand sich das Christliche Hospiz bzw. die Herberge zur Heimat mit Wanderarbeitsstätte, die vom Evangelischen Verein Ludwigsburg betrieben wurde.

Personal im „Evangelischen Vereinshaus“ Quelle: Stadtarchiv LB

Dort wurde auch Josef Michelbacher im Zuge der Juni-Razzia der Kriminalpolizei am 27. Juni 1938 verhaftet und mit weiteren 200 aus Württemberg ins KZ Dachau gebracht. Im Eingangsbuch des KZ Dachau ist er mit Haftgrund AZR (= „Arbeitszwang Reich“) und mit Wohnort Ernst-Weinsteinstraße 17 (heute Gartenstraße 17), Ludwigsburg sowie als Beruf Erdarbeiter vermerkt. Er wurde unter der Häftlingsnummer 17586 im Block 14/4 als Neuzugang registriert. Er war nicht verheiratet und katholischer Religionszugehörigkeit.

Als nächstes Dokument liegt uns nur noch unter der Sterberegisternummer 139 die Sterbeurkunde des Hilfsarbeiters Josef Michelbacher vor. In ihr wird als Todesursache am 26. März 1939 um 7.40 Uhr Herz- und Kreislaufschwäche angegeben, eine Todesursache, die vielen KZ-Häftlingen attestiert wurde.

 

Verwendete Quellen:

Bernt Winter: Die Einwohner von Bedersdorf, Gisingen und Kerlingen vor 1906“, Band 34 der „Quellen zur Genealogie im Landkreis Saarlouis und angrenzenden Gebieten , Saarlouis 2004

Standesamt der Gemeinde Wallerfangen

 

Verzeichnis der Untersuchungsgefangenen, StALB E 356 d II_Bd 40

Schreibstubenkarten KZ Dachau, 1.1.6.7 / 10708567/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Individuelle Unterlagen KZ Dachau, 1.1.6.2 / 10204379/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Listenmaterial KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9909296/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Individuelle Unterlagen KZ Dachau,  1.1.6.2 / 10204380/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Individuelle Unterlagen KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9931744/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Listenmaterial KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9931919/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Listenmaterial KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9931156/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Listenmaterial KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9931158/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen

Bekämpfung von Bettel und Landstreicherei HStA Stgt PL 413 Bü 294

Bekämpfung des Wanderbettels HStA Stgt PL 413 Bü 80

 

Verwendete Literatur:

Ayas, Wolfgang: „Ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin“, Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 6, Berlin 1988, S. 43-74

Ayas, Wolfgang: „Asozial“ und „gemeinschaftsfremd“. Wohnungslose in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in: Wohnungslos 3/04

Ayas, Wolfgang: „ Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933 -1945, Koblenz 1998

Ayas, Wolfgang: „Asoziale“ – die verachteten Verfolgten in: Dachauer Hefte 14. „Verfolgung als Gruppenschicksal“, 14. Jg. 1998, Heft 14

Ayas, Wolfgang: Wohnungslose im Nationalsozialismus. Begleitheft zur Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Bielefeld 2007

Hörath, Julia: “Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft  – Band 222, Göttingen 2017
Kolata, Jens: Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in Württemberg und Hohenzollern. Eine Verhaftungsaktion aus regionaler Perspektive, in: Becker, Michael/ Bock, Dennis/ Illig, Henrike (Hrsg.): Orte und Akteure im System der NS-Zwangslager, Berlin 2015, S.118 -141
Kolata, Jens: Zwischen Sozialdisziplinierung und „Rassenhygiene“. Die Verfolgung von „Asozialen“, „Arbeitsscheuen“, „Swingjugend“ und Sinti, in: Bauz, Ingrid/Brüggemann, Sigrid/ Maier, Roland (Hrsg.) Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 2013, S.321-337
Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016 , S. 166 – 187
Wikipedia: Geschichte Wallerfangens, https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Wallerfangens#Saargebiet,  Abruf 16.11.2020

 

Recherche: Walter Mugler