Die Nazis zerrissen ihre Familie
Mathildenstraße 8
Siebzig Jahre sind vergangen, seit die beiden Geschwister Heinz und Hannah Greilsamer mit einem Kindertransport von Ludwigsburg zum Schulbesuch nach England gebracht wurden. Ihre Eltern, Jakob und Klara Greilsamer, hatten sich zu diesem Schritt entschlossen, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.
Es wurde für die Kinder und ihre Eltern ein Abschied für immer. Jakob und Klara Greilsamer und die Großmutter Sara Ottenheimer wurden deportiert. Sie sind im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden.
Am 7. Oktober 2009 war Heinz Greilsamer, seit seiner Emigration Harry Grenville, in Begleitung seiner Familie nach Ludwigsburg gekommen, um bei der Verlegung der Stolpersteine zur Erinnerung an seine ermordeten Eltern und Großmutter anwesend zu sein. Bevor die Stolpersteine in den Gehweg bei der Mathildenstraße 8, dem letzten Wohnort der Familie, eingelassen wurden, gedachte Harry Grenville mit dem Kaddisch seiner toten Eltern und Großmutter. Es war nach vielen Jahren noch einmal ein Abschiednehmen, das uns Anwesende sehr bewegte.
Von Gemmingen bei Eppingen nach Ludwigsburg
Vier Brüder aus der Familie des Josef Wolf Ottenheimer und seiner Frau Sara geb. Rothschild, gründeten um 1870 den Viehhandel «Gebrüder Ottenheimer» in der Vorderen Schloßstraße 25 (heute: Schloßstraße) in Ludwigsburg. Die jüdische Familie Ottenheimer stammte aus Gemmingen bei Eppingen. Zu dieser Zeit hatte die jüdische Gemeinde dort ihren höchsten Mitgliederstand. Als endlich auch in Württemberg die bürgerliche Gleichstellung der Juden Gesetz war, zogen viele jüdische Bürger aus den Dörfern in die Städte, so auch Moses, Abraham, Simon und Isaak Ottenheimer. Sie lebten von da an mit ihren Familien in Ludwigsburg. Bis zur Jahrhundertwende betrieb die «Gründergeneration» den Viehhandel, danach wurde er von deren Söhnen übernommen.
Josef S. Ottenheimer wurde als Sohn von Simon Ottenheimer und dessen Frau Nanette geb. Wolf 1861 in Gemmingen geboren. Seine Frau Sara war 1870, ebenfalls in Gemmingen, geboren. Sie war seine Cousine, die Tochter seines Onkels Isaak und dessen Frau Babette geb. Löwenthal. Josef und Sara hatten zahlreiche Geschwister.
Kolonialwaren und Zigarrenhandel en gros
Josef hatte sich nach dem Schulbesuch zum Kaufmann ausbilden lassen. Seinen Militärdienst absolvierte er zwischen 1879 und 1880 im Train-Batallion 13 in Ludwigsburg. Er gründete gemeinsam mit Emil Ottenheimer ein «Kolonialwaren- und Zigarrengeschäft en gros», das er an verschiedenen Standorten in Ludwigsburg betrieb. Ab 1910 war der «Zigarrenhandel en gros» in der Bahnhofstraße 9 untergebracht. Josef Ottenheimers Familie und weitere Familien der Ottenheimerschen Verwandtschaft wohnten bis 1938 im Hinterhaus der Bahnhofstraße 9.
Wilhelm, Klara und Hilde, die Kinder Josef und Sara Ottenheimers, haben ihre Kinderzeit wohl hauptsächlich am Reithausplatz 3 erlebt, dem vorherigen Wohnort der Familie, denn Wilhelm wurde 1892, Klara 1895 und Hilde 1896 geboren.
Die beiden Töchter besuchten in Ludwigsburg die Mädchenrealschule, das heutige Goethe-Gymnasium. Klara arbeitete dann in der Firma ihres Vaters als Kontoristin, später war sie Prokuristin der Württembergischen Papierzentrale.
Hilde besuchte die Handelsschule und arbeitete als Bürogehilfin bevor sie mit dem Studium begann. Über ihr Leben wird im Anschluss noch berichtet.
Wilhelm starb als Kriegsteilnehmer, 26jährig, im Oktober 1918 im Feldlazarett von Aincreville. Er wurde in Aincreville beerdigt.
Josef Ottenheimer war ein angesehener Bürger der Stadt und aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde. Er war in mehreren Ehrenämtern tätig, so als Vorsteher des israelitischen Wohltätigkeitsvereins und als erster Vorsitzender des Gemeindevorsteheramts. Dem Ludwigsburger Kriegerverein gehörte er ebenfalls viele Jahre an.
Die Württembergische Papierzentrale
Den «Zigarrenhandel en gros» musste Josef Ottenheimer 1923 wegen der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse aufgeben. Es gelang ihm, zusammen mit Jakob Greilsamer, 1925 eine neue Firma zu gründen, die Württembergische Papierzentrale, Großhandel mit Packpapier und Papierwaren zu Verpackungszwecken.
In Jakob Greilsamer hatte Josef Ottenheimer einen erfahrenen Geschäftspartner gefunden. Er hatte als junger Mann mehrere Jahre für eine Karlsruher Importfirma in Algier gearbeitet. Geboren war er 1877 in Breisach. Seine Eltern waren David Greilsamer und Auguste geb. Bär. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde er von den Franzosen interniert und bis zum Ende des Kriegs im Lager festgehalten. Wo Jakob Greilsamer danach gelebt und gearbeitet hat, ist nicht bekannt. Sicher ist der Wohnort Mainz, von wo er nach Ludwigsburg anlässlich der Hochzeit mit Klara Greilsamer im März 1925 zuzog.
Ein Jahr später, am 26. Februar 1926, wurde Heinz Willy Greilsamer geboren, seit der Emigration umbenannt in Harry Grenville. Zwei Jahre darauf kam am 28. Juni 1928 Hannah zur Welt. Die Kinder besuchten die evangelische Volksschule in Ludwigsburg, mussten dann aber ab 1938 täglich nach Stuttgart zur jüdischen Schule fahren, weil ihnen, als jüdischen Kindern, der Besuch öffentlicher Schulen nicht mehr gestattet war.
Harry Grenville berichtet rückblickend, dass die Württembergische Papierzentrale bis zur Boykottierung der jüdischen Geschäfte im Jahr 1933 sehr gut lief. Sein Großvater und seine Mutter arbeiteten mit einem Gehilfen im Büro. Sein Vater bereiste ganz Württemberg und Baden, um Aufträge zu sammeln. Ab und zu durfte Heinz den Gehilfen August Veigel mit dem beladenen Schubkarren zum Güterbahnhof begleiten. «Das war jedes Mal ein Fest.»
Zuhause versorgte Großmutter Sara die Kinder und den Haushalt. Sie war eine ausgezeichnete Köchin. Besonders an seine Lieblingsspeisen Kartoffelsalat und Nudelsuppe erinnert sich ihr Enkel. Auch eine alte Ludwigsburgerin, die fast täglich bei Familie Greilsamer nach der Schule vorbei schaute und Spielkameradin von Hannah Greilsamer war, schwärmt noch heute vom guten Apfelkuchen der Großmutter. Zum großen, parkähnlichen «Bronners Garten» hatten die Kinder freien Zutritt zum Spielen. Er befand sich im Dreieck Bahnhof,- Mylius,- Schillerstraße.
1934 zog die Firma in das Hinterhaus der Myliusstraße 15 um. Noch vier Jahre konnte die Württembergische Papierzentrale von Josef Ottenheimer und Jakob Greilsamer betrieben werden, bevor die Naziherrschaft im Jahr 1938 allen noch in Ludwigsburg lebenden jüdischen Bürgern die berufliche Existenz zerstörte.
Emigration und Deportation
Die Württembergische Papierzentrale wurde im November 1938 «arisiert», also in deutschen Besitz gezwungen. Im Verlauf des Jahres 1938 waren die Großeltern Ottenheimer mit der Familie Greilsamer und der Familie des jüngsten Bruders der Großmutter, Albert Ottenheimer, in die Mathildenstraße 8, 1. Stock, umgezogen.
Albert Ottenheimers Söhne Hans (seit der Emigration Johnny) und Fritz (seit der Emigration Fred) waren für Heinz Greilsamer wie Brüder. Heinz Greilsamer/Harry Grenville erinnert sich an die Wohnverhältnisse: «Die Wohnung im 1. Stock war groß genug um alle 10 Personen unterzubringen, obwohl die einzelnen Zimmer etwas überfüllt waren.»
Hans Ottenheimer, geboren 1921, emigrierte nach der Gefangenschaft im KZ Dachau 1939 allein in die USA. Den Eltern und dem Bruder gelang die Emigration in die USA noch im August 1941. Hans/Johnny lebt heute hochbetagt in New York.
Als am 10. November 1938 die Synagoge in Ludwigsburg von Brandstiftern angezündet wurde, war der Rauch von der Wohnung in der Mathildenstraße aus zu sehen. Die bereits zitierte Ludwigsburgerin berichtete, dass sie von der Schule kommend weinend an der brennenden Synagoge gestanden habe. Dort traf sie auf Jakob Greilsamer. Er habe sie mit den Worten, es sei nicht gut, wenn man sie mit ihm sehen würde, weggeschickt.
Die Versorgung mit Nahrungsmitteln wurde für die jüdischen Familien durch Rationierungen und das Verbot in deutschen Geschäften einzukaufen, immer schwieriger. Auf eigene Gefahr war das Ehepaar Saenftl, das an der Ecke Mathilden-/Solitudestraße eine Kolonialwarenhandlung hatte, bereit, die Familien Greilsamer und Ottenheimer mit Lebensmitteln zu versorgen.
Im März 1939 fand die Bar-Mizwah-Feier von Heinz Greilsamer statt. Der israelitische Religionsoberlehrer Samuel Metzger brachte ihm den Torah-Auszug bei. Die Feier musste im Wohnzimmer der Familie Scheuer in der Seestraße stattfinden, da die Synagoge ja zerstört worden war. Zwei Monate nach Heinz Greilsamers Bar-Mizwah-Feier wanderte Samuel Metzger mit seiner Familie nach Kolumbien aus. Er war seit 1925 Vorsänger und Gemeindepfleger der jüdischen Gemeinde in Ludwigsburg gewesen.
Im Juni beziehungsweise Juli 1939 mussten Heinz und Hannah ihre Heimatstadt, ihre Eltern, Großeltern, Verwandte und Freunde verlassen. Heinz war 13 Jahre alt, Hannah stand kurz vor ihrem elften Geburtstag, als die Geschwister in getrennten Transporten zum Schulbesuch nach England gebracht wurden.
Heinz und Hannah wurden von einer englischen Familie in Cornwall aufgenommen. Aus Heinz wurde zuerst Henry, später Harry. Harry Grenville erinnert sich an die Zeit bei der Pflegefamilie als eine glückliche Zeit. Obwohl die Geschwister sehr unter der Trennung von den Eltern litten, war ihnen bewusst, dass es ihnen besser ging als anderen Flüchtlingskindern.
Die Juden wurden durch die Nationalsozialisten immer mehr schikaniert und durch Entziehung ihres Wohnraums, Einweisung in die Judenhäuser oder Altenheime «zusammengetrieben». Großvater Josef Ottenheimer entging der Deportation durch seinen Tod am 19. Februar 1940. Ein jahrelanges Nierenleiden hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Er wurde auf dem neuen israelitischen Friedhof in Ludwigsburg bestattet.
Im Zuge der Einweisung älterer jüdischer Menschen in Altenheime musste Sara Ottenheimer 1941 nach Dellmensingen übersiedeln.
Jakob und Klara Greilsamer zogen im Juni 1941 von der Mathildenstraße 8 in die Marstallstraße 4 in das Haus von Max Elsas um. Vermutlich mussten sie die Wohnung in der Mathildenstraße zwangsweise verlassen. Im Dezember 1941 erfolgte die Einweisung in das Stuttgarter «Judenhaus» in der Blumenstraße 2.
Am 22. August 1942 wurden Jakob und Klara Greilsamer vom Stuttgarter Nordbahnhof aus nach Theresienstadt deportiert. Auch Sara Ottenheimer wurde gezwungen, an diesem Transport teilzunehmen.
Sara Ottenheimer ist am 19. Oktober 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet worden.
Jakob und Klara Greilsamer sind am 28. Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht worden und sind ebenfalls dort umgekommen.
Auf der großen Gedenktafel der Gedenkstätte am Stuttgarter Nordbahnhof sind auf der langen Liste der Deportierten auch die Namen von Sara Ottenheimer, Heinz und Klara Greilsamer eingraviert.
Zur Stolperstein-Verlegung am 7. Oktober 2009 wurde Harry Grenville von seiner Tochter Jane, der Schwiegertochter Maureen, der Enkelin Anna und den Söhnen Andrew und John begleitet.
Die Begegnung mit Familie Grenville hat bei uns, den Mitgliedern der Stolperstein-Initiative Ludwigsburg, einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Harry Grenville und seine Familie haben uns die Hand zur Aussöhnung gereicht.
Harry Grenville unterrichtet Schülerinnen und Schüler in England über die politischen Zusammenhänge des Nationalsozialismus und über die Geschichte seiner Familie. Einen Text hierzu hat er uns zur Verfügung gestellt; Sie finden ihn hier.
Gudrun Karstedt
Fotomontage oben: Gebäude Mathildenstraße 8 im Jahr 2004, Foto Jakob und Klara Greilsamer mit Sohn Heinz aus Familienbesitz Harry Grenville
Ein Foto aus Auschwitz – Hier finden Sie die Geschichte, wie Harry Grenville Gewissheit über den Todesort seiner Familie bekam…