Neue Stolpersteine in Ludwigsburg

Verlegung der neuen Stolpersteine am Samstag, 6. Mai,
Beginn 10.00 Uhr
vor der Wernerstr. 20 (Fanny Frank).
Dann geht es zur Weimarstr. 3, (Berta Frank) von da zur Maxstr. 1, (Martha Strauch) dann über die Osterholzallee und Abelstr. zur Talstr. 11 (Friederike Baudermann) und endet in der Keplerstr. 10 (Martha Pfitzer).

Bericht folgt demnächst…

Die Stolpersteine in Ludwigsburg von 2017

Am Samstag, den 6. Mai 2017, wurden fünf neue Stolpersteine verlegt, alle für Opfer der sog. „Aktion T4“. Dies war der Tarnkode der Nazis für die systematischen Krankenmorde an Behinderten und psychisch Kranken.

Da Günter Demnig, der schon mehr als 60.000 Stolpersteine in Deutschland und Europa verlegt hat, am Samstag verhindert war, übernahm ein Mitarbeiter des Städtischen Bauhofs die Verlegung der kleinen Gedenksteine. Mitglieder der Stolperstein-Initiative stellten die Lebensläufe der Opfer vor. Musikalisch umrahmt wurde die Verlegung durch die Stuttgarter Musiker David Stützel, Susanne Godel und Elke Leutert-Rolfs, die mit Unterstützung eines zehnköpfigen Chores Liedgut auf Romanes, der Sprache der Roma und auf Georgisch vortrugen.

10.00 Uhr: Wernerstraße 20 • Fanny Frank

Weimarstraße 3 • Berta Frank

Maxstraße 1 • Marta Stauch

Talstraße 11 • Friederike Baudermann

Keplerstr. 10 • Marta Pfitzer

Max Elsas

Ein Ehrenmann wird ausgestoßen

Marstallstraße 4

Die Biografie von Max Elsas steht als Beispiel dafür, dass es im 20. Jahrhundert möglich war, einen Menschen von höchstem Ansehen durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik bis zur physischen Vernichtung zu bringen.

Max Elsas wurde am 10. März 1858 als dritter Sohn des Benedikt und der Rebekka Elsas in Ludwigsburg geboren. Er wuchs mit seinen Brüdern Oskar, Adolf, Louis und der Schwester Sidonie im Haus Marstallstraße 4 auf. Max besuchte nach der Elementarschule das Realgymnasium in Ludwigsburg und verließ diese Schule mit dem so genannten «Einjährigen», was der Mittleren Reife entsprach. Der Vater hat dem Sohn anschließend eine Ausbildung zum Textilfachmann am Technikum für Textilindustrie in Reutlingen ermöglicht. Eine kaufmännische Ausbildung schloss sich dem allem an, und Max Elsas leitete viele Jahre lang die Bunttuchweberei Elsas & Söhne GmbH, bis zur «Arisierung» der Firma 1938.

Der zierliche Mann mit seinem schwarzen, später silbergrauen Bart wirkte vertrauenserweckend. Jeder in der Stadt wusste, dass Max Elsas es ehrlich meint und niemanden übervorteilen würde. Max Elsas praktizierte das Ethos eines emanzipierten Juden, der edel und tadelsfrei leben will.

Der engagierte Lokalpolitiker und Unternehmer hat sich für das Gemeinwesen der Stadt Ludwigsburg eingesetzt. 1882 trat er der Feuerwehr bei. Von 1905 bis 1908 war er Mitglied des Bürgerausschusses, wurde als Mitglied der Demokratischen Partei in den Stadtrat übernommen und wenige Jahre später zum Stellvertreter des Oberbürgermeisters ernannt.

Er war Handelsschulrat, also Mitglied des leitenden Gremiums dieser Institution, auch Ausschussmitglied des Verbandes Württembergischer Industrieller und Schatzmeister des Industrieverbands Ludwigsburg. Er wurde in die Handelskammer gewählt und war Ausschussmitglied des württembergischen Industrie- und Handelstags. Er wurde in den Ausschuss der Versicherungsanstalt Württemberg und in den der Allgemeinen Ortskrankenkasse Ludwigsburg gewählt und war Vorstandsmitglied des Versicherungsamts in Ludwigsburg. Auch hatte er das Amt eines Schatzmeisters des Vereins «Neckar-Donau-Kanal», des so genannten «Kanal-Vereins» inne. Viele Jahre arbeitete er in den Steuerausschüssen des Finanzamtes mit.

Um ihrer Verdienste im Rahmen des Bürgervereins Untere Stadt willen wurden die Brüder Oskar, Adolf, Max und Louis Elsas 1929 zu Ehrenmitgliedern dieses Vereins ernannt. Zum 70. Geburtstag im Jahr 1928 wurde Max Elsas ehrend in der Zeitung erwähnt. Dagegen findet man am 10. März 1933, dem 75. Geburtstag, 40 Tage nach der so genannten «Machtergreifung» der Nationalsozialisten, kein Wort mehr über Max Elsas in der Presse.

Am 3. April desselben Jahres aber war in der Ludwigsburger Zeitung zu lesen: Rücktritt des Fabrikanten Max Elsas aus allen öffentlichen Ämtern. Er wurde wie alle jüdische Bürger systematisch isoliert. Der frühere sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Wilhelm Keil berichtete: «Ich war Augenzeuge, wie der Greis gebeugt ein Lebensmittelgeschäft mit höflichem Gruß betrat. Man nahm keine Notiz von ihm, erwiderte seinen Gruß nicht und bediente ihn nicht. Zerknirscht schlich er davon.»

Am 10. November 1938, als die Synagoge auch in Ludwigsburg niedergebrannt worden war, wurde der 80jährige Max Elsas in seiner Wohnung verhaftet und ins Gefängnis «Blockhaus» an der Schorndorfer Straße gebracht. Als der Sohn Dr. Ludwig Elsas von dem Vorgang erfuhr, stellte er sich für den Vater, der daraufhin auf freien Fuß gesetzt wurde. Aber der Sohn blieb in Haft und wurde ins KZ Welzheim gebracht.

Bis zum Jahresende 1938 wurde die Firma «arisiert». Die Familie Elsas hatte von nun an kein Einkommen mehr und wusste, wann sie vor dem Nichts stehen würde. Besonders stark belastete die Situation seinen Sohn Bernhard Elsas, der sich von nun an in ärztlicher Behandlung befand. Als Bernhard Elsas, seiner Frau und ihren Kindern in letzter Sekunde im Jahr 1941 die Auswanderung nach Amerika gelang, schaute Max Elsas hinter den Gardinen hervor, dem von der Marstallstraße abfahrenden Taxi nach. Da seine Frau Ida Elsas, geb. Fellheimer, am 7. April 1939 verstorben war, fristete Max Elsas von nun an ein Dasein in völliger Isolation.

Als sich die Nationalsozialisten dazu entschlossen, die Städte und Dörfer «judenfrei» zu machen, wurde auch Max Elsas am 2. Dezember 1941 in das Zwangsaltenheim für Juden in Eschenau, in der Nähe von Heilbronn, eingewiesen und von dort aus am 22. August 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert. Dort ist Max Elsas am 30. September 1942 an Entkräftung und Krankheit gestorben.

 

Dr. Albert Sting / Martina Kütterer

Fotomontage oben: Gebäude Marstallstraße 4 im Jahr 2009, Portrait Max Elsas (Stadtarchiv Ludwigsburg)

Die neuen Stolpersteine in Ludwigsburg von 2017

Am Samstag, den 6. Mai 2017, wurden fünf neue Stolpersteine verlegt, alle für Opfer der sog. „Aktion T4“. Dies war der Tarnkode der Nazis für die systematischen Krankenmorde an Behinderten und psychisch Kranken.

Da Günter Demnig, der schon mehr als 60.000 Stolpersteine in Deutschland und Europa verlegt hat, am Samstag verhindert war, übernahm ein Mitarbeiter des Städtischen Bauhofs die Verlegung der kleinen Gedenksteine. Mitglieder der Stolperstein-Initiative stellten die Lebensläufe der Opfer vor. Musikalisch umrahmt wurde die Verlegung durch die Stuttgarter Musiker David Stützel, Susanne Godel und Elke Leutert-Rolfs, die mit Unterstützung eines zehnköpfigen Chores Liedgut auf Romanes, der Sprache der Roma und auf Georgisch vortrugen.

10.00 Uhr: Wernerstraße 20 • Fanny Frank
  

Weimarstraße 3 • Berta Frank
  

Maxstraße 1 • Marta Stauch
  

Talstraße 11 • Friederike Baudermann
  

12.30 Uhr: Keplerstr. 10 • Marta Pfitzer
  

Julius, Paula und Werner Dreyfus

Ermordet in Riga

Friedrichstraße 94

Familie

Der Kaufmann Julius Dreyfus (geboren wurde er als Isidor, die Änderung des Vornamens ist 1927 beurkundet) lebte mit seiner Familie unter verschiedenen Adressen in der Stadt. Bereits 1894 war er nach dem Tod des Vaters zusammen mit seiner Mutter und Geschwistern nach Ludwigsburg gekommen. 1920 heiratete er seine Frau Paula, der ältere Sohn Herbert wurde 1922 geboren. Unter anderem besuchte dieser die Oberrealschule, die Vorläuferschule des heutigen Mörike-Gymnasiums. 1935 kam Werner zur Welt. Beurkundete Wohnadressen sind die Mathildenstraße, die Kurfürstenstraße, das Trompetergässle und seit 1937 die damalige Hermann-Göring-Straße (heute: Friedrichstraße). Von dort, Hausnummer 54, zog die Familie im November 1939 nach Stuttgart-West in die Hermannstraße 11. Julius Dreyfus verlor 1938 im Zuge der Arisierung seine Arbeitsstelle, die Bedrohung nahm zu.

Wachsender Druck

Die Familie bemühte sich um Auswanderung, auch der Wegzug aus Ludwigsburg scheint dem stetig wachsenden Druck der Nazis geschuldet. Stuttgart wurde offensichtlich als bessere Ausgangsbasis eingeschätzt. Aus Akten des Landesamts für Wiedergutmachung Stuttgart geht hervor, dass der letzte Wohnsitz dann ab Ende Mai 1940 in der Reinsburgstr. 107 war, von wo auch später die Deportation erfolgte.
Bei dieser Adresse handelte es sich um ein sog. „Judenhaus“, der Vorstufe der Gettoisierung. Nach der Einweisung war der anfangs noch vierköpfigen Familie nur noch ein Zimmer verblieben, so wie es bei diesen Zwangseinweisungen gang und gäbe war. Frau Marie Falkson beschreibt als Zeugin im späteren Verfahren die extrem beengten und bedrückenden Verhältnisse.

Letzter Ausweg – Emigration

Familie Dreyfus hatte schon nach der Pogromnacht im November 1938 die Absicht bekundet auf jeden Fall auszuwandern. Noch zu Ludwigsburger Zeiten belegt der Schriftverkehr mit der Spedition Barr, Moehring & Co in Stuttgart, dass Julius Dreyfus mehrere Anträge parallel laufen hatte. Die Ausreise nach Bolivien scheiterte am Bescheid vom Mai 1939, dass „ganz Südamerika gesperrt sei“ und sich die Auswanderung „nunmehr nach Palästina vollziehen“ würde. Am 22. August 1939 schreibt Julius Dreyfus aber an die Spedition, dass seine „Auswanderer-Angelegenheit vollständig geklärt“ sei und er die Einreisegenehmigung für Chile habe. Allerdings seien seine „Mittel eingeschränkt“ und der Umzug „so billig wie nur möglich“ zu kalkulieren. Die Tatsache, dass Umzugsgut bereits 1939 über Genua nach Valparaiso verschifft und die Kosten für die „Auswanderung“ gezahlt worden waren zeigt die Ernsthaftigkeit und empfundene Dringlichkeit dieser Pläne. Möbel und andere Gebrauchsgegenstände sind für die Passage sorgfältig aufgelistet, in Kisten (Lifts) sortiert und die Kosten berechnet. Der amtliche, öffentliche und psychische Druck wuchs stetig an, aber offenkundig gelang es nicht, die bürokratischen Hürden der Naziverwaltung, die Restriktionen der möglichen Aufnahmeländer und weitere Hemmnisse zu überwinden. Die Eltern und der kleine Werner mussten bleiben und warten. Die genauen Hintergründe liegen im Dunkeln.

Lediglich der 19-jährige Herbert schaffte im April 1941 die Auswanderung, zu der er sich bereits nach seiner Inhaftierung in Welzheim 1939 verpflichten musste.

1. Dezember 1941: Auftakt der Deportationen aus Württemberg und Hohenzollern

Am 1. Dezember 1941, verließ der erste Deportationszug den Stuttgarter Nordbahnhof. An jenem Tag begann für die Juden in Württemberg und Hohenzollern der Holocaust. Zielort des ersten Transports war Riga in Lettland. Dem Transport folgten elf weitere. Im Februar 1945 fuhr der letzte Deportationszug vom Stuttgarter Hauptbahnhof ab. Insgesamt wurden etwa 2500 Männer, Frauen und Kinder aus Württemberg und Hohenzollern verschleppt. Nur die wenigsten von ihnen überlebten die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. 180 Personen kehrten zurück.
Aus über fünfzig Orten in Württemberg und Hohenzollern wurden die jüdischen Bürger deportiert – und dafür zunächst zum Sammelplatz auf dem Stuttgarter Killesberg verbracht. Die ersten „Zuführungen“ aus diesen Orten begannen bereits in den letzten Novembertagen 1941. Die Deportationen der badischen Juden in das Internierungslager Gurs in den Pyrenäen hatten bereits im Jahr zuvor, im Oktober 1940 begonnen.
Auf den Transportlisten finden sich auch die Namen von Julius, Paula und Werner Dreyfus.
»Killesberg! Diese Nacht des Wahnsinns und des Grauens bleibt mir unvergessen.« So beschreibt eine Frau aus Ulm den Aufenthalt im Durchgangslager auf dem Stuttgarter Killesberg. Dorthin werden am 27. November 1941 ungefähr eintausend Menschen jüdischer Abstammung aus ganz Württemberg und Hohenzollern gebracht. In der so genannten »Ehrenhalle des Reichsnährstandes«, die für die Reichsgartenschau 1939 errichtet worden ist, werden sie untergebracht. Sie werden die ersten Opfer von insgesamt mehr als 2500 jüdischen Mitbürgern, die über das Durchgangslager auf dem Killesberg in die Sammel- und Konzentrationslager Riga, Iżbica, Auschwitz, Buchenwald, ins Ghetto Theresienstadt und in ein Lager bei Wolfenbüttel deportiert werden. Die meisten von ihnen kehren nie zurück.
Grundlage der ersten Deportation aus Stuttgart am 1. Dezember 1941 nach Riga ist der Erlass der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Stuttgart an die Landräte und Polizeiinspektoren vom 18. November 1941. »Im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung«, die mit ähnlichen Erfassungen in Mähren, Böhmen, der Ostmark und anderen Gebieten des Altreichs bereits eingesetzt hatte, werden rund tausend jüdische Mitbürger aus Württemberg für einen Deportationszug ausgewählt und auf dem Killesberg »konzentriert«.


Vorbereitung, Auswahl und Zusammenstellung des Transports werden der »Jüdischen Kultusvereinigung Württemberg« aufgeladen. Die Kultusvereinigung hat die Teilnehmer des Transports zu benachrichtigen und einzuberufen. Der Erlass bestimmt detailliert, wie viel und welches Gepäck mitgenommen werden darf: Es ist nicht viel mehr als das Nötigste an Decken und Kleidern sowie ein »Mundvorrat« und fünfzig Reichsmark. Die Mitnahme von Schmuck und Wertgegenständen ist verboten, lediglich Eheringe sind ausgenommen. Die Betroffenen müssen die Kosten für den Transport selbst tragen und zu diesem Zweck insgesamt 57,65 Reichsmark pro Person bezahlen. Am 26. November wird mit der Sammlung der Angeschriebenen auf dem Killesberg begonnen, wo sie unter völlig unzulänglichen Bedingungen einige Tage verbringen müssen. »Von überallher kamen württembergische Juden in dieses Sammellager, und es herrschte ein unbeschreibliches Elend« (Victor Marx).Die Stuttgarter Stadtverwaltung lässt einen Film über das Sammellager drehen, in dem die drangvolle Enge in der Halle auf dem Killesberg unübersehbar ist. Doch um den Eindruck einer wohlgeordneten Auswanderung zu erwecken, werden Verpflegungspakete ins Bild gerückt und Gepäckstücke gezeigt, die ihre Besitzer jedoch nie wieder sehen sollten. Diese erste Deportation ist noch als »Umsiedlung« getarnt, daher sind Bau- und Küchengeräte sowie Sanitätszeug zur Mitnahme vorgesehen. Auch sind in deutsch-jüdischen Mischehen lebende, über Fünfundsechzigjährige und Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit vom Transport ausgenommen.

KZ Jungfernhof

Das Konzentrationslager Jungfernhof war ein temporäres, behelfsmäßiges Konzentrationslager im Dorf Jumpravmuiža, etwa drei bis vier Kilometer von Riga entfernt, nahe der Bahnstation Šķirotava. Das Lager bestand vom 3. Dezember 1941 bis März 1942 und diente zur vorübergehenden Unterbringung von Juden aus Deutschland und Österreich, deren Transportzüge ursprünglich Minsk zum Ziel hatten. Es wird teilweise auch Vernichtungsstätte oder Vernichtungslager Jungfernhof genannt.
Ein Überlebender schrieb über die Unterkunft: „Es gab keine Türen und keinen Ofen, die Fenster waren offen, das Dach war auch nicht in Ordnung. Es waren 45 Grad Kälte und der Schnee fegte durch die Scheune.“
Rund 800 der Gefangenen starben im Winter 1941/42 an Hunger, Kälte, Typhus und anderen Krankheiten. Die täglich anfallenden 20 bis 30 Leichen konnten wegen des gefrorenen Bodens nicht beerdigt werden. Dies war nach einiger Zeit erst möglich, als ein SS-Mann zwei Löcher in den Boden auf dem Feld sprengte. Die Behauptung einer Zeitzeugin, dort seien auch Gaswagen zum Einsatz gekommen, ist nicht weiter belegt und gilt als unwahrscheinlich.
Im März 1942 wurde das Lager aufgelöst. Unter einem Vorwand, sie kämen in ein – tatsächlich nicht existierendes – Lager in Dünamünde, wo es bessere Unterkünfte und eine Arbeitsmöglichkeit in einer Konservenfabrik gebe, wurden zwischen 1600 und 1700 Insassen während der Aktion Dünamünde mit Lastwagen in den nahe gelegenen Wald von Biķernieki gebracht. Dort wurden sie (wie zuvor schon Juden aus dem Ghetto von Riga) am 26. März 1942 erschossen und in Massengräbern verscharrt. Viktor Marx aus Württemberg, dessen Frau Marga und Tochter Ruth erschossen wurden, berichtete: „Im Lager wurde uns gesagt, dass alle Frauen und Kinder vom Jungfernhof wegkämen, und zwar nach Dünamünde. Dort seien Krankenhäuser, Schulen und massiv gebaute Steinhäuser, wo sie wohnen könnten. Ich bat den Kommandanten, auch mich nach Dünamünde zu verschicken, was er jedoch ablehnte, weil ich ein zu guter Arbeiter sei.“
450 Insassen wurden zurückbehalten und einem Arbeitskommando zugeteilt. Sie sollten die Spuren des Lagers verwischen und es wieder als Bauernhof tarnen. Dieses Arbeitskommando bestand noch ein Jahr. Wer überlebte, wurde dem Rigaer Ghetto zugeführt, das bis November 1943 bestand.

Herbert Dreyfus – ein Überlebender

Herbert erreicht im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern die Auswanderung. Er gelangt ab April 1941 über Spanien und Kuba in die USA und lebt später seit Beginn der 50-er-Jahre mit Frau und zwei Kindern als US-Bürger in Mexiko. 1968 gelingt es Beate Maria Schüßler im Rahmen ihrer Recherchen zu „Das Schicksal der jüdischen Bürger von Ludwigsburg…“ mit ihm in Briefkontakt zu treten. Einzelheiten zum Familienschicksal möchte Herbert Dreyfus aber offenkundig nicht preisgeben, „…denn sonst müsste ich ein Buch schreiben.“ In seinem Brief spricht er von Auschwitz als Todesort von Eltern und Bruder, obwohl die Deportation nach Riga bereits aktenkundig war. Herbert Dreyfus verdrängte wohl. Er kam nie wieder nach Deutschland zurück. Seine Interessen in den folgenden Verfahren werden ausschließlich von einer Anwaltskanzlei vertreten.

Wiedergutmachung/Entschädigung:

Herbert Dreyfus hatte Ende 1948 Rückerstattungsansprüche angemeldet.
1950 – 1956 erste Akten wegen Rückerstattung.
Im Mai 1962 ergeht ein Bescheid der OFD Stuttgart wegen Entziehung von Bankguthaben, Wertpapieren und Hausrat bzw. Wertsachen.
Im weiteren Verlauf des Jahres 1962 werden Bescheide erlassen für Entschädigungen zu Abgaben, Vermögenswerte, Transportkosten u.ä., das gesamte Verfahren wird erst 1972 abgeschlossen.
Otto Lechner

Quellen:
Joachim Hahn, Jüdisches Leben in Ludwigsburg, Karlsruhe 1998
Stadtarchiv Ludwigsburg
Staatsarchiv Ludwigsburg
Dokumentation „Zeichen der Erinnerung“ der Stiftung „GEISSTRASSESIEBEN“ Stuttgart
Portrait-Fotos: Stadtarchiv Ludwigsburg

Ruth Dieterich

Mit neun Jahren ermordet in Grafeneck

Kammererstraße 15

Aus den Akten der Anstalt Weinsberg und der Einwohnerakte der Stadt Ludwigsburg lässt sich Ruth Dieterichs Leben in groben Zügen nachvollziehen:
Am 6. Oktober 1931 wurde sie in Stuttgart geboren und dann evangelisch getauft. Ihre Eltern waren der Gipser Ernst Dieterich aus Oßweil (geboren 1899) und die Hausfrau Helene Dieterich, geborene Schmied (ebenfalls 1899 geboren). 1928 hatten die Eltern geheiratet. Die Einwohnerakten verzeichnen nur ein Kind: Annerose, geboren am 24. Juli 1939 in Stuttgart. Ihre ältere Schwester Ruth ist in den Meldeakten nicht aufgeführt.
Die Akten halten fest, dass Ruth mit sechs Jahren vom Gesundheitsamt Ludwigsburg der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall zugewiesen wurde. Die Diagnose lautete „Idiotie“, es ist vermerkt, dass in der Familie sonst keine Erkrankungen aufgetreten waren.
Ruth hatte mit einem Jahr gehen gelernt, mit 13 Monaten konnte sie einzelne Worte sprechen. Sie erkrankte an Masern und 1932 verbrühte sie sich mit kochendem Wasser am Kopf und zog sich dabei schwere Verletzungen zu. 1938 erkrankte sie an Scharlach. Die Akte vermerkt wörtlich: „Das Kind ist im ganzen gutmütig, muss völlig verpflegt werden.“
Am 20. November 1940 kam Ruth von Schwäbisch Hall in die Heil- und Pflegeanstalt Weinsberg. Dort ist als Datum für den „Austritt“ der 4. Dezember 1940 angegeben – mit dem Vermerk „ungeheilt“. Wohin sie kam, ist den dortigen Akten nicht zu entnehmen, es gibt nur den Eintrag „verlegt“ (zusammen mit 72 anderen Personen).
Der Name von Ruth Helene Berta Dieterich befindet sich im Namensbuch der Gedenkstätte Grafeneck. „Wir gehen davon aus, dass sie in Grafeneck am 4. Dezember 1940 ermordet wurde“, so die aus trauriger Erfahrung resultierende Auskunft der Gedenkstätte an diesem Ort von über 10.000 Krankenmorden.

Christian Rehmenklau

Ruth und ihr Bruder Rolf in der Kammererstraße

Wilhelm Breier

Der verlassene Bruder Breier

Auf der Karlshöhe 3

das zweite von sieben Kindern einer evangelischen Familie aus Geislingen an der Steige. Der Vater war Kontorist in der Metallwarenfabrik – und Wilhelm hoffte, das Richtige zu tun, wenn auch er in der vertrauten WMF anfängt: Er lernte Maschinenschlosser und hoffte auf gute Arbeit bei einer Firma in Ludwigsburg – doch die ging 1922 pleite, Arbeitslosigkeit und Schlosserarbeit wechselten sich eine Zeitlang ab.

Ein preiswertes Quartier fand Wilhelm Breier auf der Karlshöhe in Ludwigsburg. Der Christliche Verein Junger Männer (CVJM) gab ihm neue Hoffnung – mit 24 Jahren schrieb er an den Direktor der Karlshöhe: „Meinem langjährigen Wunsche entsprechend für die viele Liebe und gütige Führung an Hand unseres Herrn und Heilands wäre ich nach reiflicher Überlegung bereit, meine folgenden Jahre ganz in den Dienst der inneren Mission zu stellen.“ Und sein Vertrauen wurde belohnt: Im April 1927 begann er seine Ausbildung als Diakon, arbeitete als „Aufseher“ und „Krankenpfleger“ in verschiedenen Einrichtungen und wurde 1932 zum Diakon eingesegnet.

Voller Hoffnung freute Wilhelm Breier sich auf die nächste große Veränderung in seinem Leben: Er verlobte sich mit der Pfarrhaushaltshilfe Ida Keller. Doch die Jahre waren schon überschattet: Es gab Konflikte in seinen befristeten Arbeitsstellen (beliebt bei den „schwerbeschädigten Gästen“, gegenüber einer Krankenschwester und gegenüber Vorgesetzten „ein eigensinniger Dickkopf“, der sich Weisungen widersetzte und immer wirrer wirkende Briefe an den Direktor schrieb). Einen feste Anstelllung gab es nicht für Wilhelm Breier, und so sah er sich auch nicht in der Lage zu heiraten.

Im Dezember 1935 erlitt der 33-jährige einen Nervenzusammenbruch, bekam Depression und Psychose diagnostiziert und geriet in das immer stärker von Nazi-Ideologie durchzogene deutsche Psychiatrie-System. Im März 1936 bat das Amtsgericht Geislingen („Streng geheim!“) den Karlshöhe-Direktor Fritz Mößner „in der Erbgesundheitssache des Wilhelm Breier […] um Mitteilung der dortigen Unterlagen bzw. Beobachtungen. Der Antrag auf Unfruchtbarmachung beruht auf der Diagnose Schizophrenie.“ Der Karlshöhe-Direktor antwortete, er habe „große Sorge, ob nicht der geistige Zustand dauernd geschädigt bleiben wird. Ich habe ihn ermahnt, sich dem Gesetz zu beugen unter Hinweis darauf, dass er es doch etwaigen Nachkommen ersparen möge, dass sie dieselben Krankheitszustände durchmachen müssen wie er selbst.“

Wilhelm Breier, der verzweifelt gegen die drohende Sterilisierung anschrieb, kam in die Tübinger Psychiatrie. Vom Juni 1936 an waren all seine Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit und Würde enttäuscht. Fünf Jahre verschwand der junge Diakon in der „Heilanstalt Weißenau“ in der Nähe von Ravensburg. Im Frühjahr 1941 dann zeigte sich, dass er allen Schutz längst verloren hatte: Als die Nazis sich daran machten, Menschen massenweise zu ermorden, die sie für seelisch oder geistig krank hielten, wurde Wilhelm Breier in die „Heilanstalt Hadamar“ bei Limburg in Hessen transportiert. In dieser Ermordungsanstalt wurde der einst so hoffnungsvolle Mann am 21. April 1941 getötet, kurz nach seinem 39. Geburtstag.

Am 10. Mai 1941 erhielt Direktor Mößner die Nachricht von Wilhelm Breiers Tod durch die Versorgungskasse Berlin. Er notierte in Anführungszeichen, was als Todesursache angegeben worden war: „Septische Angina“. In Verwaltungs- und Brüderrats-Protokollen wurde der Tod des Diakons und „Bruders“ nicht einmal erwähnt.

Wo ein Stolperstein an einen Menschen erinnert, orientiert sich im Normalfall an seinem letzten „freiwillig gewählten Wohnort“. Wilhelm Breiers Meldeadresse änderte sich immer wieder durch die Arbeitsplätze, die er vorübergehend in diakonischen Einrichtungen hatte. Die längste Zeit seines Berufslebens war er auf der Karlshöhe gemeldet; zuletzt zog er von dort auf den Rabenhof bei Ellwangen. In der Abwägung, wo ein Stolperstein am passendsten aufgehoben wäre, gab den Ausschlag, dass Wilhelm Breier sich als Diakon wie beschrieben in den Dienst der „inneren Mission“ gestellt hatte, und dass das Brüderhaus der Karlshöhe das Zentrum dieser Aufgabe war. Darum wurde der Stolperstein „Auf der Karlshöhe 3“ verlegt – zwischen dem Haupthaus der Verwaltung und dem älteren der Hochschulgebäude, mit Blick direkt aufs Brüderhaus.

Bei der Verlegung des Stolpersteins beklagte Dekan Frieder Grau, der heutige Direktor, die wortwörtliche „Unbeholfenheit“ der früheren Diakone im Umgang mit ihrem Bruder Willhelm Breier – was auch immer unterstützend für ihn unternommen worden war, es reichte nicht im Geringsten, ihn zu schützen. Die Klugheit, mit der Direktor Mößner die Bewohner des Männerheims vor der Verfolgung des Nazi-Terrors schützte und lebend durch diese Zeit brachte, hatte für Wilhelm Breier keine Hilfe gebracht.

Jochen Faber

Marie Betz

Eine Reise hinter blinden Fenstern

Tiergärten 8, Neckarweihingen

In der Obhut der Psychiatrischen Anstalt Weinsberg befanden sich im Jahre 1940 auch Neckarweihinger Bürgerinnen und Bürger. Im Frauenhaus auf dem Weißenhof lebte Marie Betz zusammen mit anderen Kranken.

Die Patientinnen arbeiteten in der hauseigenen Landwirtschaft, im Garten und in der Wäscherei; auch wurden sie zu Küchenarbeiten, zum Näh- und Bügeldienst eingeteilt.
Im Herbst halfen die «braven Leutchen» den Weingärtnern der Umgebung bei der Traubenernte gegen ein Taschengeld. Marie kam aus einem Wengerterort, vielleicht war sie auch bei der Weinlese dabei. Denn arbeiten konnte sie, das hatte der Anstaltsleiter bestätigt.

Marie Betz wurde am 26. Mai 1877 in Neckarweihingen geboren – nachts auf ¾ 11 Uhr. Die Taufe fand am 3. Juni nach der Kinderlehre statt. Die Paten kamen aus Erdmannhausen, Poppenweiler und Mühlhausen – so steht es im Kirchenbuch.
Ihre Eltern waren Gottlob Friedrich Betz und Luise geborene Zeiher von Poppenweiler. Der Vater arbeitete als Steinhauer, wahrscheinlich im Hohenecker Steinbruch. 1904 starb der Vater, 1913 die Mutter.

Marie Betz war eine ledige Arbeiterin. Wann sie krank wurde, wissen wir nicht. Am 24. März 1924 kam sie in die Weinsberger Anstalt, damals war sie 46 Jahre alt. Ihre Aufnahmedaten kennen wir: Gewicht 52,5 kg; Größe 1,58 m; Augen blau; Haarfarbe dunkelblond; Hautfarbe gesund. Die weiteren Krankenakten über ihre Anstaltszeit wurden vernichtet.
In den süddeutschen Heilanstalten ging alles – so schien es – seinen gewohnten Gang. Doch seit Januar 1940 hatte sich etwas Gravierendes verändert: In unregelmäßigen Abständen kamen große graue Busse und holten Patienten, auch in Weinsberg – zur Verlegung, hieß es.

Auf der Transportliste zum 8. Mai 1940 strich der Anstaltsleiter Dr. Jooss 17 Namen, darunter auch den von Marie Betz. Die Frauen werden dringend im Anstaltsbetrieb gebraucht, argumentierte er. Vier Wochen Aufschub bis zum nächsten Transport – vier Wochen Leben!
Am Dienstagmorgen, den 4. Juni 1940, standen wieder die grauen Busse vor der Tür. Schon am Vorabend wurden die Abzureisenden bekannt gegeben: 64 Namen, 64 Frauen wurden Nummern auf den Arm geschrieben – auch dir, Marie. Diesmal konnte kein Aufschub erwirkt werden. Als Abschiedsgeschenk gab es eine neue Zahnbürste und ein Stück Seife; das hat den Frauen bestimmt gefallen. Das Reisebündel war schnell gepackt, hier besaß niemand viel.

Vielleicht hast du dich gefreut, Marie, dass du jetzt Bus fahren darfst. Doch die Fensterscheiben des Fahrzeugs sind aus Milchglas, so kannst du nicht hinaussehen – und niemand hereinschauen. Das ist nicht so schön. Aber im Bus ist es gemütlich; sogar Liegen für die Kranken gibt es.
Die Fahrt geht über Heilbronn nach Stuttgart, die Schwäbische Alb hinauf, dann am Gestüt Marbach vorbei in Richtung Münsingen. Die Bauern auf den Feldern schauen schweigend dem Bus hinterher, manche nehmen die Kappe ab. Aber das beunruhigt euch nicht, denn ihr könnt es durch die getrübten Scheiben nicht sehen.

Das Ziel heißt Grafeneck. Grafeneck – ein hübscher Name für das Schloss aus dem 16. Jahrhundert, welches am Ende einer langen Allee liegt. Bis 1939 war hier ein «Krüppelheim» für Männer. Aber Grafeneck 1940 ist anders: auf halber Höhe der Schlosszufahrt beginnt eine Anlage mit Postenhaus, Baracken und Wachhunden, umgeben von einem hohen Bretterzaun mit Stacheldraht.
Die Busse passieren den Schlagbaum und das Tor; sie halten schließlich vor einer Baracke. Als die Frauen aussteigen, sehen sie nur Hauswände und Bretterzäune. Bei der Ankunft heißt es gleich: alle ausziehen! Jeder Neuankömmling muss zur ärztlichen Untersuchung, wird dort befragt, begutachtet, gewogen und sogar fotografiert.

Anschließend treffen alle wieder in einem großen Raum zusammen. Die nackten Frauen bekommen alte Militärmäntel, die sie sich überwerfen, denn ihre Kleider sind schon eingesammelt. Seit dem Frühstück haben die Patientinnen nichts mehr gegessen; einige klagen, sie haben Hunger. Erst muss geduscht werden, heißt es, dann gibt’s Essen. Ja, duschen ist gut – Sauberkeit muss sein!

So warten Marie aus Neckarweihingen und die vielen anderen Frauen in einem Schlafsaal neben Betten, in denen sie nicht schlafen dürfen – kaum jemand wird jemals in diesen Betten schlafen. Eine Aufsichtsperson kommt und ruft zur Reinigung. Jetzt aber hurtig hinaus! Gehorchen haben die Frauen in Weinsberg gelernt. Hat jeder die neue Seife? Warum bekommen wir kein Handtuch, werden manche gedacht haben. Aber zum Fragen bleibt keine Zeit. Marie und die anderen werden aus dem Saal ins Freie gedrängt.
Die Frauen in den langen Mänteln folgen dem Pflegepersonal. Von der Baracke geht es zu einem bretterumzäunten Hof. Dahinter sind neue Gebäude zu sehen – und hohe Schornsteine. Das große Tor wird geöffnet, die Gruppe geht hinein; und für die 63 Frauen und Marie Betz aus Neckarweihingen schließt sich das Tor – für immer …

Mindestens 10.824 Menschen wurden hier mit Gas ermordet. In Grafeneck kamen die Opfer des Euthanasieprogramms, der später so genannten «Aktion T 4», zum größten Teil aus dem süddeutschen Raum. Der Totenschein von Marie Betz lautet auf den 18. Juni 1940, tatsächlich starb sie bereits am 4. Juni, dem Tag des Weinsberger Transportes nach Grafeneck. Als Todesursache wurde Lungenentzündung und Kreislaufschwäche angegeben, eine beliebte und unverfängliche Formulierung für den geplanten Mord.

Mit der Namensnennung im Grafenecker Gedenkbuch, auf dem Neckarweihinger Mahnmal und mit dem persönlichen Stolperstein soll Marie Betz und ihr Leiden nie vergessen werden.

Karin Kohler

 

Wilhelm Bader

Ludwigsburgs ermordeter Stadtrat

Bauhofstraße 14

Am 5. April 1899 kam Matthäus Christian Wilhelm Bader als jüngstes von sieben Geschwistern in Ettenhausen bei Bartenstein im Oberamt Künzelsau zur Welt.

Seine Eltern waren arme Leute. Seine Mutter Johanna war die Tochter eines Totengräbers. Seinen Vater Michael, der sich sein Brot als Tagelöhner verdienen musste, verlor er schon mit sieben Jahren.

Wilhelm Bader verdingte sich in seinem Heimatdorf als Bauernknecht. Wir wissen nicht, wann er den Entschluss fasste, nach Ludwigsburg zu gehen. Seit 1920 war er hier gemeldet. Da er aber in den Adressbüchern der Stadt in den 20er-Jahren nicht vermerkt ist, können wir davon ausgehen, dass er nur eine Schlafstelle zur Untermiete hatte – wie viele junge Arbeiter in dieser Zeit.

Hier in Ludwigsburg, wo er als Hilfsarbeiter in verschiedenen Betrieben sein Brot verdiente, ist Wilhelm Bader wohl mit den Ideen des Kommunismus in Berührung gekommen. Bekannt ist, dass er 1927 bei der Holzhandlung Griesshaber beschäftigt war und 1929 und 1930 (durch Arbeitslosigkeit unterbrochen), als Schleifer in der Firma Standard-Fahrzeugfabrik arbeitete, einem Betrieb der Motorradbranche.

Heinrich Auer, ein späterer Mithäftling im KZ Dachau, beschrieb ihn wie folgt: «Er war ein einfacher Hilfsarbeiter aus Ludwigsburg bei Stuttgart, hatte sich aber als Autodidakt durch eifriges Lesen neben seiner Herzensbildung auch ein erstaunlich großes Wissen erworben.»

Bei der Gemeinderatswahl am 6. Dezember 1931 kandidierte er für die KPD auf Platz 3 und erhielt 2789 Stimmen. Das reichte noch nicht in den Gemeinderat. Nach dem Weggang von Otto Weidenbach aus Ludwigsburg rückte er am 22. September 1932 nach und arbeitete im Verwaltungs-Ausschuss mit.

Außerdem war Wilhelm Bader besonders für die Pressearbeit seiner Partei in Ludwigsburg zuständig. Vier vermutlich unregelmäßig erscheinende Publikationen aus dieser Zeit sind noch dokumentiert:
Die Julinummer 1932 der «Roten Bleyle-Post» beispielsweise gibt als «Verantwortlich für Inhalt, Druck u. Verlag: W. Bader, Ludwigsburg, Seestraße 67a.» an. Dies war die Adresse des KPD-Parteibüros. «Der Erwerbslose» ist ein weiteres – mit einer Abzugsmaschine hergestelltes Blatt – für das er, wie aus der Ausgabe Oktober 1932 ersichtlich ist, für Druck und Verlag verantwortlich zeichnete. Auch «Für junge Kämpfer – Mitteilungsblatt der Kommunistischen Jugend von Ludwigsburg», dessen erste Nummer im Januar 1933 erschien, zeichnete er verantwortlich – wie für die «Ludwigsburger Arbeiter-Zeitung», von der die Ausgabe Ende Februar/Anfang März 1933 schrieb: «Hitler regiert, das Elend wächst! Die KPD hatte in Ludwigsburg kein spezielles Parteilokal; man traf sich im «Gasthaus zum Löwen» in der Bietigheimer Straße unten «im Täle».

Am 16. Februar 1933 wurde das Aufgebot zu seiner Hochzeit mit Luise Marie gesch. Fellehner, geb. Damm erstellt. Dort ist er seit 1920 in der Talallee 58 in Ludwigsburg gemeldet. Nach der Hochzeit am «Samstag, 4. März 1933 um 10¼ » zog Wilhelm dann zu seiner Frau in die Bauhofstraße14/1 und ist dort auch in den Adressbüchern 1934 und 1936 verzeichnet. Seine Frau Luise Marie, die aus erster Ehe vier Kinder hatte, stammte ebenfalls aus Hohenlohe, nämlich aus Niederstetten. Ihr Vater war Maurer und im 1. Weltkrieg gefallen. Zwei der vier Kinder, nämlich Lucie (elf Jahre alt) und Walter (neun Jahre) brachte Luise mit in die Ehe mit Wilhelm. Gemeinsame Kinder hatten Wilhelm und Luise nicht. Luise wohnte seit 1927 in Ludwigsburg – nach anderen Angaben soll sie 1922 nach Ludwigsburg zugezogen sein. Vom 1. Janauer 1937 bis 10. Mai 1949 wohnte sie in der Bogenstraße 29 und zog dann nach dem Krieg wieder in die Heimat, nach Gnadental, Kreis Schwäbisch Hall.

Die Verhaftung

Bereits eine Woche nach der Hochzeit des Paares, wurde Wilhelm Bader in den frühen Morgenstunden des 11. März 1933, wie viele aktive Sozialdemokraten und Kommunisten in Ludwigsburg, verhaftet. Insgesamt sollen es 20 Menschen, darunter zwei Frauen gewesen sein. Die «Ludwigsburger Zeitung» berichtete am 13. März 1933: «Unter den Verhafteten sind zahlreiche Stadträte, wie auch die Mitglieder der hiesigen kommunistischen Rathausfraktion Pflugbeil, Bader und Weippert.»

Obwohl die Verhaftung von Wilhelm Bader wohlbekannt war, wurde in der Verhandlungsniederschrift des Gemeinderats vom 24. März 1933 vermerkt: «Bader unentschuldigt gefehlt.»

Der Zeitzeuge Karl Kunde dazu: «Wir waren bis Ende März/Anfang April im Militärarrest in der Hindenburgstraße eingesperrt. Eines Tages wurden wir in Bussen abtransportiert. Am Tor standen SA-Leute mit schussbereitem Gewehr Spalier. Die Fahrt auf den Heuberg ging los. Transportführer war der stadtbekannte Nazi Motsch», der Führer der SA-Standarte 123 mit Büro in der Asperger Straße 37 war.

Der Polizeipräsident von Stuttgart und Vorstand der württembergischen Kriminalpolizei, Klaiber, hatte mit Schreiben vom 17. März 1933 mitgeteilt, wann die jeweiligen Gefängnisse ihre «Schutzhäftlinge» ins Lager Heuberg abzuschieben haben. Für Ludwigsburg war der 22. März 1933 genannt. Für die Gestapo wichtige politische Gefangene kamen auf den Heuberg in die Baracken 19 und 23. Dazu gehörten neben den SPD-Stadträten Schuler und Tischendorf auch die KPDler Bausch, Pflugbeil, Weippert und Wilhelm Bader.

Im Dezember 1933 wurde Bader mit anderen Häftlingen dem KZ «Oberer Kuhberg» (Ulm/Donau) «überstellt». Auf den Kuhberg kamen 264 von den Nationalsozialisten als besonders gefährlich eingestufte Häftlinge des Lagers Heuberg. Bis Mai 1934 wurde Bader dort in «Schutzhaft» gehalten und dann entlassen. In Ludwigsburg fand er immer wieder Arbeit, meistens allerdings nur für einige Monate, an die sich Zeiten der Arbeitslosigkeit anschlossen.

Ins KZ Dachau verschleppt

Nach den Angaben der späteren Scheidungsklage erhielt Wilhelm Bader nach seiner Entlassung täglich Besuch von der Polizei. Seine Frau soll ihn aufgefordert haben, sich so zu verhalten, dass das «nicht mehr vorkomme». Im März 1936 zog er zu seiner Halbschwester Magdalena nach Krummsee (Kreis Malchin) in Mecklenburg. Dort erfolgte am 4. Dezember 1936 eine neue Verhaftung. Der Grund dafür war, dass er vor 1933 mit zwei anderen Genossen in der Garnisonsstadt Ludwigsburg versucht hatte, Wehrmachtsoffiziere von den faschistischen Ideen abzubringen.

Es gibt Anzeichen dafür, dass er 1936 für diese mindestens vier Jahre zurückliegenden politischen Aktivitäten von jemand aus seiner nächsten Umgebung angezeigt wurde.

Nach der Verhaftung wurde Wilhelm Bader nach Bad Cannstatt in Untersuchungshaft gebracht. Wegen «Vorbereitung zum Hochverrat» verurteilte ihn der Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart am 4. August 1937 zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis, wobei acht Monate Untersuchungshaft angerechnet wurden. Am 4. August 1938 hatte er seine Haftzeit in Ulm verbüßt, wurde dann vermutlich ins KZ Welzheim gebracht und traf schließlich am 3. September 1938 im KZ Dachau ein. Dort erhielt Wilhelm Bader die Häftlingsnummer 18937.

Allein im Jahr 1938 wurden über 18.000 Häftlinge in Dachau eingeliefert; vom Januar bis Dezember wurden dort die Häftlingsnummern 13261 bis 31941 ausgegeben.

Vom 27. November 1939 bis zum 18. Februar 1940 wurde das Lager Dachau geräumt und zur Ausbildungsstätte der SS-«Totenkopf-Division» benutzt. Die Häftlinge wurden in die Konzentrationslager Buchenwald, Flossenbürg und Mauthausen verteilt. Wilhelm Bader kam am 28. September 1940 im KZ Mauthausen an und wurde im Block 14 untergebracht. Am 18. Februar 1940 wurde er nach Dachau zurückgebracht.

Noch im März 1945 gestorben

In einer Gedenkschrift aus dem Jahre 1946 heißt es unter «Kämpfer, die man nie vergisst» zu Wilhelm Bader: «Er (…) war lange Jahre Stubenältester auf einer Stube des Zugangsblocks. Jeder Neuzugang im Lager kam zuerst auf diesen Block. All diejenigen, die durch das Grauen der Konzentrationslager hindurch mussten, wissen, von welch großer Wichtigkeit es war, dass die Menschen, mit denen sie zuerst in Berührung kamen, ihnen mit Rat und Tat zur Seite standen. Willy Bader hat in unermüdlicher Arbeit die Neuangekommenen auf die Gefahren aufmerksam gemacht und Hunderte danken es ihm, dass sie das Lager lebend überstehen konnten.»

Der Mithäftling Heinrich Auer schreibt: «Im Zugangsblock wurde ich gleich mit dem Stubenältesten Willy Bader bekannt, der sich, wie sich später herausstellte, wegen seiner wahrhaft sozialen Gesinnung und seiner gerechten Haltung gegenüber allen Gefangenen uneingeschränkter Sympathie erfreute. (…) Er sorgte dafür, dass jeder Häftling, der ihm zugewiesen wurde, auch wirklich die Essensportion bekam, die ihm zustand, und wenn es beispielsweise Kartoffeln gab, so zählte er gewissenhaft die ihm zustehenden Kartoffeln ab, ohne für sich auch nur eine einzige mehr zurückzubehalten. (…) Leider ist er im Frühjahr dieses Jahres infolge von Hungertyphus nach kurzer Krankheit gestorben. Seine Leiche wurde aufgebahrt, und viele Häftlinge brachten die ersten Blümchen herbei, die sie sich organisiert hatten, um den Sarg des edlen Kameraden, dem sie sich zu Dank verpflichtet fühlten, zu schmücken und ihm die letzte Ehre zu erweisen.»

Der Mithäftling, Pfarrer François Goldschmitt, charakterisiert Willy Bader: «Er regierte in den Stuben drei und vier wie ein guter Papa. Der kurz gewachsene breitschultrige Mann mit den abgehärmten, blassen Gesichtszügen schaute ernst und kummervoll drein. Willy hatte das frohe Lachen ganz verlernt.

(…) Der arme Tropf musste Grausiges miterlebt haben, war er ja menschenscheu und wortkarg geworden. Trotz unserer politischen und religiösen Gegensätze verband mich mit diesem Kommunisten fast 30 Monate lang, echte, aufrichtige Freundschaft. (…) Wenn wir in Dachau nur Blockpersonal und Kapos à la Willy Bader gehabt hätten, wären tausende Kameraden am Leben geblieben. (…) Leider ist dieser kreuzbrave stets hilfsbereite Bader kurz vor der Befreiung am 10. März 1945 gestorben.»

Am 8. Dezember 1944 reichte seine Frau Luise Bader die Scheidungsklage ein. Dazu wurde Wilhelm mit Anschrift «zur Zeit Konzentrationslager in Schutzhaft in Dachau» auf den Freitag, 9. März 1945 vormittags ins Landgericht Stuttgart, Ulrichstraße 10, eingeladen. Durch den Tod von Wilhelm Bader wurde dieser Scheidungsantrag hinfällig.

Der Verwaltungsausschuss des Gemeinderats Ludwigsburg hat am 24. Juni 1947 «Straßennamen, die nach der Kontrollratsdirektive Nr. 30 wegen ihres militärischen oder nationalsozialistischen Charakters untersagt und als gesetzeswidrig erklärt sind» umbenannt, darunter auch die seitherige «Tannenbergstraße» in der Weststadt in «Wilhelm-Bader-Straße».

Walter Mugler

 

Fotomontage oben: Gebäude Bauhofstraße 4 im Jahr 2009, Portrait Wilhelm Bader aus „Streiflichter“