Hermann und Selma Katz

Das Ehepaar aus der Schuhhandlung wurde „abgeholt“

Mörikestraße 14

Ein Bild von Selma Katz (Foto aus Familienbestand)

Das Wohnhaus in der Mörikestraße 14

Über das Ehepaar Katz selbst wissen wir sehr wenig, über die recht weit verzweigte Familie etwas mehr. Hermann Katz wurde 1880 in Lubatschow in Polen geboren, seine zweite Frau Selma 1886 in Darmstadt.
Die Familie Katz war zunächst in Karlsruhe ansässig, hier wird 1913 die Tochter Rosa geboren, sie starb Anfang der 1950er Jahre in den USA. Dann zog die Familie nach Esslingen, wo in den frühen 20ern ein Wohnsitz und Geschäftstätigkeiten nachgewiesen sind. Hermann Katz schien in Deutschland angekommen zu sein: er war auch Mitglied einer Faschingsgesellschaft.
In Ludwigsburg wohnte die Familie erst in der Martin-Luther-Straße 4, am 1. September 1933 zog sie in die Mörikestraße 14 ins Erdgeschoss.
Zu diesem Zeitpunkt betrieb das Ehepaar bereits das „Schuhhaus im Zentrum“ in der Körnerstr. 8/1, heute Fa. Oberpauer. Gegenüber lag das damals größte Kaufhaus in Ludwigsburg. Das Geschäft geht gut, sie haben Angestellte.
In Boykottaufruf der NSDAP vom 1. April 1933 wird das Geschäft genannt. Das Ehepaar hält durch, aber 1937 werden die Geschäftsräume gekündigt, es gibt im Herbst 1937 einen Ausverkauf. Am 21. August 1938 bestätigt Hermann Katz dem Polizeiamtsvorstand, dass er kein Geschäft mehr habe, er habe nur noch gelegentlich „Nachbestellungen von Kunden, die mich in meiner Wohnung aufsuchen.“ Die IHK und der Polizeivorstand Ludwigsburg melden Vollzug: die Firma Katz hat zum 1.10.1938 den Betrieb eingestellt. Das Geschäft bekommt den arischen Inhaber Paul Zaiss.
Am 27. Oktober 1938 ergeht vom Württembergischen Innenministerium der Befehl, alle polnischen Staatsangehörigen zu deportieren. Hermann Katz hat einen polnischen Pass. Einen Tag später, am 28. Oktober wird er mit seiner Frau deportiert.
Im Entschädigungsprozess, der zum Teil beschämende Formen hatte, erfahren wir Genaueres über das Schicksal von Hermann und Selma Katz. Eine Zeugin erklärt, dass beide im Hause ihrer Eltern gewohnt haben, bis sie „von den Massenmördern ermordet worden sind“. Das war im Januar 1943.
In Ludwigsburg gibt die Vermieterin, Frau Grabenstein, zu Protokoll, dass Hermann und Selma von der Gestapo abgeholt wurden. Sie sagt: „Zwei Tage später kam der Bruder des H. Katz und wir gingen in die Wohnung. Das Abendessen stand noch auf dem Tisch.“

Christian Rehmenklau

Das Schuhgeschäft in der Stadtmitte trägt auf diesem Bild schon den Namen des nachfolgenden Inhabers. (Foto Archiv Fa. Oberpaur)

Jeanette Kahn

Mord an der verzweifelten Damenschneiderin

Eberhardstraße 27

Jeanette Kahn wurde am 17. November 1870 als erstes von neun Kindern des jüdischen Ehepaares Fanny und Daniel Kahn geboren. Sie ist begabt und kann, da die Familie zunächst wohlhabend ist, die höhere Töchterschule besuchen.
Dass die finanzielle Situation der Familie sich dann drastisch verschlechtert, belastet Jeanette sehr, auch weil sie nun zum Lebensunterhalt der Familie beitragen muss: In der Wohnung ihrer Eltern in der Eberhardstraße 27 eröffenet sie 1894 ein Atelier als Damenschneiderin.
Ihr psychischer Zustand ändert sich wesentlich. Sie wird den damaligen Angaben zufolge trübsinnig und leidet unter Schlaflosigkeit. Ihre häufigen und heftigen Tobsuchtsanfälle veranlassen ihren Arzt, sie im Oktober 1889 in die Heil- und Pflegeanstalt Esslingen-Kennenburg einzuweisen.
Im Aufnahmeprotokoll wird sie als zierlich gebaute junge Frau von mittlerer Größe beschrieben. Sie sei manisch erregt, in permanenter psychischer und motorischer Unruhe und rede wirr daher. In ihrer Zerstörungssucht zerreiße sie Betten und Kleider.
Ihre depressiven, manischen Zustände bestimmen von nun an ihr Leben. In immer kürzeren Abständen lebt sie zeitweise in Heil- und Pflegeanstalten: zunächst in Winnental und dann in Göppingen, wo sie den Unterlagen zufolge fürsorglich und einfühlsam betreut wird.
Auf Wunsch der Angehörigen wird sie 1917 in die Staatliche Heilanstalt Schussenried aufgenommen, wo sie die nächsten 23 Jahre verbringt. Am 9. Juli 1940 wird die Siebzigjährige Opfer der nationalsozialistischen Krankenmord-Aktion. Sie wird mit einem der berüchtigten grauen Busse mit 45 weiteren Patienten in die Tötungsanstalt Grafeneck transportiert, wo sie noch am selben Tag in der Gaskammer ermordet wird.

andreas nothardt

Albert Imle

Als Zwölfjähriger ermordet

Niedersachsenstraße 19

Albert Imle wurde am 9. April 1928 geboren.

Laut Einwohnermeldekarte lebte er mit seinen Eltern Karl und Luise Imle (geb. Degler) in der Uhlandstraße 19 [später umbenannt in Niedersachsenstr. 19] im heutigen Stadtteil Oßweil.

Am 9. Februar 1933 kommt er in die Nervenklinik Tübingen und wird dort am 26. März1933 wieder nach Hause entlassen.

Grund für seine Aufnahme in das Euthanasieprogramm: eine „geistige Behinderung (Schwachsinn) und Epilepsie“, dessen Ursache aber nicht eindeutig bekannt ist; als Möglichkeit wird aber eine Hirnhautentzündung im siebten Lebensmonat vermutet.

Es ist der 4. April 1933, als Albert Imle im Alter von noch nicht einmal fünf Jahren aufgrund seines „hochgradigen geistigen Entwicklungsrückstandes“ in die Heilanstalt Stetten aufgenommen wird.

Sein endgültiges Schicksal ereilt den Jungen am 10. September 1940, als er im ersten von insgesamt sechs Transporten von Menschen mit (geistiger) Behinderung aus Stetten im Remstal „auf Anordnung vom Innenministerium“ in die Tötungsanstalt Grafeneck „verlegt“ wird. Mit diesem Transport werden insgesamt 75 Menschen deportiert. Noch am Tag des Transports wird Albert Imle in Grafeneck ermordet.

Wochen nach der Deportation und geheimen Ermordung erhält Mutter Luise ein Schreiben, wonach ihr Kind an Diphterie verstorben sei – solche Briefe, die die wahren Todesursachen zu vertuschen versuchten, wurden auch in ähnlichen Fällen vielfach verschickt.

Der Name von Albert Imle ist zusammen mit denen von weiteren 323 Personen auf dem „Stein des Gedenkens“ zur Erinnerung an die Opfer der „Euthanasie“ auf dem Gelände der heutigen Diakonie Stetten i.R. eingraviert.
Der Stolperstein für ihn soll ein mahnendes Denkmal dafür sein, dass das grausame System der Nationalisten selbst vor Kindern nicht Halt machte.

Wir können mit dem Stein auf das Schicksal Albert Imles zurückblicken und an ihn erinnern. Erinnern an das, was vor vielen Jahren geschah und nie mehr wiederkommen darf.
Hans Toursel
Stolperstein-AG am Goethe-Gymnasium Ludwigsburg | Gruppe Euthanasie |

Jenny Henle

Über Ludwigsburg in den Tod

Myliusstraße 6/1

Jenny Henle kommt am 19. April 1894 als Jenny Weil in Laupheim zur Welt. Die jüdische Gemeinde der Stadt ist groß, ihr Vater Hermann Weil ist Kaufmann und handelt mit Branntwein und Zigarren. Das Grab ihrer Mutter Fanny Weil ist noch heute auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim zu finden.
Sie heiratet Leopold Henle, Jahrgang 1877. Der kämpft im Ersten Weltkrieg für das deutsche Vaterland. Das gemeinsame Leben findet in der Heimat von Leopold Henle, in dem kleinen Ort Lehrensteinsfeld bei Heilbronn statt. Auch dort gibt es eine große und wohlhabende jüdische Gemeinde. Leopold hat in Lehrensteinsfeld eine eigene Gaststätte, er ist Viehhändler und besitzt ein großes Stück Land. Er stellt sogar eigenen Wein her. In der jüdischen Gemeinde ist er ein angesehener Mann. Das jüdische Frauenbad von Lehrensteinsfeld befindet sich auf einem Grundstück der Henles. Ihr Wohnhaus ist zweistöckig und hat sieben Zimmer. Das Leben des Ehepaars dürfte also ganz gut gewesen sein – bis zur Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933.
Spätestens ab 1936 gehen auch im kleinen Lehrensteinsfeld die Geschäfte für die Menschen jüdischen Glaubens schlechter. 1937 müssen die Henles ihren Viehhandel einstellen. 1938 die Gaststätte. Im gleichen Jahr wird Leopold Henle ins „Braune Haus“ nach Heilbronn geladen und dort von den Nazis schwer misshandelt. Die Grundstücke der Henles werden weit unter Wert verkauft und „arisiert“. Als „Judenvermögensabgabe“ muss Leopold Henle 4.000 Reichsmark bezahlen. 1939 wird die jüdische Gemeinde Lehrensteinsfeld aufgelöst.
Die Henles versuchen offenbar noch, nach Palästina auszuwandern, dort lebt seit 1938 der Sohn Leopolds aus erster Ehe, die Versuche scheitern aber. Ihre gemeinsame Tochter Flora (Jahrgang 1920) wandert 1939 nach England und von dort 1940 nach Palästina aus. In der Reichspogromnacht verwüsten SA-Mitglieder das Wohnhaus der Henles in Lehrensteinsfeld. Nur ein Zimmer bleibt unbeschadet, ausgerechnet das der christlichen Haushaltsgehilfin Maria Marian. Deren Mann kauft im Jahr 1940 das Haus der Henles in Lehrensteinsfeld. Es existiert bis heute und ist noch immer im Besitz der Familie Marian. Kurz nach der Reichspogromnacht ziehen die Henles in zwei Zimmer in einer Wohnung im ersten Stock der Myliusstraße 6/1 in Ludwigsburg. Sie haben alle wirtschaftlichen Grundlagen, fast ihren kompletten Besitz verloren. Jenny Henle lässt ein paar Überbleibsel ihrer Einrichtung aus Lehrensteinsfeld nach Ludwigsburg bringen.
Am 18. August 1940 stirbt Leopold Henle in Ludwigsburg. Sein Grab ist bis heute auf dem israelitischen Friedhof in Ludwigsburg erhalten. Am 26. November 1941 wird Jenny Henle von Ludwigsburg zunächst nach Stuttgart gebracht und vom dortigen Nordbahnhof am 1. Dezember nach Riga deportiert.
Das letzte Zeichen ihrer Existenz findet sich in den Akten des Transports. Bei der Fahrt soll sie eine von zwölf „Hilfskräften“ in der Gemeinschaftsküche des Zuges gewesen sein. Am 4. Dezember erreicht der Zug sein Ziel, vermutlich ist Jenny Henle direkt nach der Ankunft wie viele andere ermordet worden. Laut Beschluss vom 17. Dezember 1951 wird ihr Todesdatum für die Wiedergutmachungsakten auf den 31. Dezember 1945 gelegt. Ihre Tochter Flora lebt bis heute in Israel. Zur Verlegung des Stolpersteins, der an Jenny Henle erinnert, kamen ihre Enkelin Yael Rotshildramot ihre Urenkel Revival Harush und Amilhood Rotshildramot sowie Ururenkel Ori Rotshildramot nach Deutschland.

Benjamin und Christian Walf

Portraitfoto: Yael Rothshildramot

Anita Henk

Das kurze Leben eines fröhlichen Kindes

Wernerstraße 62

Anita Rosemarie Henks kurzes Leben beginnt am 1. September 1938 in Ludwigsburg. Sie ist von Geburt an behindert und wird ihren fünften Geburtstag nicht mehr erleben. Sie stirbt am 22. Juni 1943 in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren als Opfer der Krankenmordaktion der nationalsozialistischen Gewaltherrscher.
Anita ist ein hübsches, lebhaftes, anhängliches Kind, das auch herzhaft lachen kann. Sie ist fast blind; sie lernt erst spät gehen und macht dann gern tanzende Bewegungen und summt dazu. Sie sagt nur „Mama“, „Papa“ und „ja“ und sie muss gefüttert werden. Nach damaligem Sprachgebrauch wird ihr Verhalten als idiotisch bezeichnet.
Der „Reichsausschuss“ in Berlin ordnet an, dass Anita am 30. März 1943 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren aufgenommen wird. Sie wird in die „Kinderfachabteilung“ eingewiesen, was ihr Todesurteil ist.
Anitas Eltern fühlen sich ihrer Tochter im fernen Kaufbeuren verbunden. Auf ihre Anfragen, wie es Anita gehe, erhalten sie beruhigende Antworten. Dann am 21. Juni 1943 erhält Frau Henk für sie völlig überraschend folgendes Telegramm: „Anita Lungenentzündung schwer erkrankt.” Am Vormittag des nächsten Tages stirbt Anita.
Anitas Tod wurde, wie der vieler anderer Behinderter auch, absichtlich herbeigeführt. Die Verabreichung einer sehr hohen Dosis von Medikamenten, die lethargisch machen, führte dazu, dass ihre Lunge verschleimte und sie in der Folge an einer nicht behandelten Lungenentzündung starb.

Andreas Nothardt

Zum Schicksal von Anita Henk sind ergänzende biografische Angaben erschienen in der Veröffentlichung von

Christian Hofmann

Kinder – „Euthanasie“ und das Gesundheitsamt Ludwigsburg

Opferschicksale aus Ludwigsburg geben Einblicke in die Bürokratie der Vernichtung im Nationalsozialismus

Ludwigsburger Geschichtsblätter Band 75/2021

Seite 140-173

Darin enthalten:  Einzelschicksale aus Ludwigsburg

Erna Wolf – Hans Mayer – Anita Henk –

Margarete Michelfelder – Charlotte Schörg

Johanna Grünewald

Eine Ludwigsburgerin wurde
im Alter von 50 Jahren ermordet

Goetheplatz 2


Nach dem Krieg von 1914, als man die Weltkriege noch nicht nummerierte, beschrieb Theodor Immanuel Linder, geboren 1891 in Ludwigsburg, seine ältere Schwester wie folgt:
„Meine Schwester Johanna hat als ältestes Kind und dazu noch als Mädchen immer tüchtig mithelfen müssen. Was hat sie schon in jungen Jahren geleistet! Sie besuchte die Töchtermittelschule und war eine sehr gute Schülerin. 1910 war sie in der Schweiz als Zimmermädchen bei Familie Pestalozzi-Brunner in Zürich.
Im Weltkrieg heiratete sie einen Freund von Ernst (Ernst ist der mittlere der drei Brüder), den Wiernsheimer Hauptlehrer Rometsch. (…) Leonhard fiel als Leutnant. Ein feiner Mensch, ein tapferer Soldat, ein beliebter Kompaniechef. Er ruht in Frankreich an der Marne. Johanna hat schwer an diesem Schicksal getragen. Man wird wohl annehmen dürfen, dass sie damals innerlich zusammengebrochen ist. (… )
Jahre nach dem Krieg heiratete sie den Oberpostinspektor Grünewald, Max. Der neue Schwager war ein alter Bekannter aus dem ‹Täle›. Sein Vater, der Schreiner im Walker’schen Orgelbau war, hatte neben uns im Täle Gut mit Haus. Die Grünewaldfamilie, besonders Mutter Grünewald – der Vater war längst gestorben – arbeitete an dieser Heirat. Max war ein einsamer Mensch, der jahrelang nicht mehr bei der Post beamtet war, da er gerne getrunken hatte. Weil er sich sonst nie das Geringste hatte zuschulden kommen lassen, wurde er 1919 in der Revolution wieder von der Post in Dienst genommen. Er hatte im Krieg seine Grabenpflicht getan (…).
Johanna bekam ein Kind – das Hannele.  In Ludwigsburg hat Johanna mit ihrem Mann 1927 ein wundernettes Haus gebaut“ – gemeint ist das Haus am Goetheplatz 2.
Später vertraute Theodor Lindner seinem Tagebuch an, dass Johanna krank und in der psychiatrischen Klinik in Weinsberg sei. „Sie leidet unendlich unter dem Eingesperrtsein. Möge Gott ihr wieder die Gesundheit schenken!“
Doch nach gerade drei Monaten zuhause wurde Johanna Grünewald im September 1935 erneut eingewiesen. Im März 1941 wurde sie „ungeheilt entlassen“ und in die frühere hessische Landesheilanstalt Hadamar gebracht. Die dortige Gedenkstätte berichtet: „Von Weinsberg gelangte Frau Grünewald in einem Transport mit 80 weiteren Patienten am 10. März 1941 nach Hadamar. Da die Patienten eines solchen Transportes in der Regel noch am Tag der Ankunft in die im Keller der Anstalt befindliche Gaskammer geschickt und ermordet wurden, ist der 10. März 1941 als Todestag von Johanna Grünewald zu betrachten.“

Bildmontage unter Verwendung eines Fotos von Johanna Grünewald aus Familienbestand

Hans Alfred Groß

Mit Lebensfreude und Mitgefühl

Wilhelm-Blos-Straße 25

Aus dem Buch «Jüdisches Leben in Ludwigsburg» von Joachim Hahn, aus den Erzählungen der Halbgeschwister, aus vorhandenen Schriftstücken über und von Hans Alfred Groß selbst entsteht das Bild eines humorvollen, lebensdurstigen und aufgeschlossenen jungen Mannes, dessen Lebensraum planvoll eingeengt und schließlich zerstört wurde.

Am 22. Dezember 1921 wurde Hans Alfred in Mannheim geboren. Seine Eltern stammten beide aus jüdischen Familien. Als der Vater starb, war Hans etwa vier Jahre alt. Die Mutter wurde vom Vormundschaftsgericht als Vormund eingesetzt. Sie verheiratete sich nach sechs Jahren wieder. Der im Bankfach tätige Stiefvater von Hans Alfred, Franz Philipp Brucker, war katholisch. In Mannheim wurden die Halbgeschwister Dieter 1932 und Lore 1933 geboren. 1935 erfolgte dann der Umzug der Familie nach Ludwigsburg in die Franz-Seldte-Straße 25 1Franz Seldte, Begründer und Bundesführer des Wehrverbands Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, von 1933 – 45 Reichsarbeitsminister. Nach dem Krieg wurde die Straße in Wilhelm-Blos-Str. umbenannt. Wilhelm Blos war ein Journalist, Historiker und Schriftsteller. Er war Mitglied des Reichstags für die SPD und von 1918  bis 1920 erster Staatspräsident des Volksstaats Württemberg.. Zwei weitere hier geborene Halbgeschwister sind bereits im Säuglings- beziehungsweise im jugendlichen Alter gestorben.

Im Frühjahr 1936  begann Hans in Ludwigsburg eine Flaschner- («Drahtler-»)lehre bei der Firma Carl Weiss und Cie., Draht- und Metallwarenfabrik in der Alleenstr. 46, die in Adolf-Hitler-Straße umbenannt worden war. Im November 1938 musste er seine Lehre trotz guter Leistungen in Schule und Betrieb abbrechen, da er als Jude keine Lehre mehr machen durfte. Fortan durfte er nur noch als Hilfsarbeiter beschäftigt werden.1940 entschloss er sich, den Haushalt seiner jüdischen Mutter und des nicht-jüdischen Stiefvaters (in der Sprechweise der Nationalsozialisten entsprach dies einer «privilegierten Mischehe»2Die jüdischen Ehepartner aus privilegierten Ehen waren von der Pflicht zum Tragen des gelben Judenstern ausgenommen. Sie wurden auch vorerst von den Deportationen zurückgestellt) zu verlassen, um seine Familie als «Voll-Jude» nicht zu gefährden. Er ging nach Cannstatt und bekam Arbeit als Hilfsarbeiter bei einer Gärtnerei und einer Metallfabrik. In Stuttgart – Bad Cannstatt wohnte er zuletzt in der Zieglergasse 1 bei den Geschwistern Buxbaum, die eine koschere Metzgerei betrieben. Über den Zwang zum Tragen des «Judensternes» ab Juli 1941 und die ersten Erfahrungen mit dieser einschneidenden Diskriminierungsmaßnahme berichtet er aus der Sicht eines aufgeweckten jungen Mannes sehr anschaulich und durchaus auch humorvoll in einem Brief an die Eltern vom 19. Juli 1941:

«Liebe Eltern! Soeben bin ich vom Geschäft heimgekommen und will Euch gleich meinen ersten Tag mit dem Orden schildern. (…) Ich habe Glück gehabt, da gleich eine Tram kam. (…) Mit dem Besteigen meiner Wenigkeit in den Wagen wurden sämtliche Gespräche wie auf Kommando abgebrochen und alle Blicke fielen auf meine Heldenbrust. Ich garantiere, dass Elefantenzwillinge (falls es welche gibt) nicht ärger bestaunt worden sind als ich. (…) Von der Haltestelle zum Geschäft traf ich ein paar Schulkinder. Wie die an mir vorbei waren, hörte ich sie sagen: ‹etzet muescht mir doch die 10 Pfennig gäbe, des ischt doch en Jud gwä!›

Besuche zu Haus konnten nur noch selten unternommen werden – weil die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel für Juden immer stärker erschwert wurde, war zumeist ein langer Fußmarsch notwendig.

Im November 1941 wurde Hans im Zuge der großen Juden-Verhaftungsaktion in Württemberg auf dem Killesberg in Stuttgart mit dem Ziel der Deportation nach Osten inhaftiert. Am 1. Dezember 1941 erfolgte die Deportation über Glogau, Posen nach Riga. Von dort aus kam er zur Zwangsarbeit auf ein SS-Gut, später dann ins Ghetto in Riga zu einem Arbeitskommando; schließlich erfolgte Inhaftierung im Konzentrationslager Stutthof, dann Buchenwald.

Von dort aus wurde er auch eingesetzt in einem Arbeitskommando im Braunkohlen-Benzinwerk BRABAG in Tröglitz. Vom KZ Buchenwald aus erfolgte im April 1945 die Evakuierung der Häftlinge in Richtung Tschechoslowakei (Theresienstadt). An der tschechischen Grenze in der Nähe des Bahnhofs Reitzenhain wurde die Lokomotive  des Zugs den Berichten zufolge durch amerikanische Tiefflieger unter Beschuss genommen. Als Hans mit den anderen Häftlingen aus dem Waggon sprang, sei er von einem SS-Mann erschossen worden. Der Todeszeitpunkt wurde später amtlich auf den 15. April 1945 festgelegt.

Über diese letzte Lebensphase legt ein eindrücklicher Bericht von Mithäftling Harry Kahn Zeugnis ab. Weitere kleine schriftliche Lebenszeichen von Hans existieren noch: Karten oder Kurzmitteilungen, geschrieben vor dem Abtransport aus Stuttgart, aus Glogau, aus Buchenwald, in denen er versucht, seinen Eltern die Sorgen um ihn zu mindern Die Familie überlebte in Ludwigsburg unter entsprechenden Erschwernissen. Der Stiefvater starb 1959, die Mutter  1964. Die Halbgeschwister Lore und Dieter sind noch am Leben. Auch ihnen verdanke ich diese Informationen.

Nachtrag: Dieter starb 2021

Recherche und Bericht von Friedhelm Buschbeck, 2009, ergänzt von Regina Boger 2023

 

Gedenkfeier 2022 mit den heutigen Besitzern des Hauses und Nachbarn

Fotomontage oben: Gebäude Wilhelm-Blos-Straße 25 im Jahr 2009, Portrait Hans Alfred Groß aus Familienbesitz

Jakob und Klara Greilsamer

Die Nazis zerrissen ihre Familie

Mathildenstraße 8

Siebzig Jahre sind vergangen, seit die beiden Geschwister Heinz und Hannah Greilsamer mit einem Kindertransport von Ludwigsburg zum Schulbesuch nach England gebracht wurden. Ihre Eltern, Jakob und Klara Greilsamer, hatten sich zu diesem Schritt entschlossen, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.
Es wurde für die Kinder und ihre Eltern ein Abschied für immer. Jakob und Klara Greilsamer und die Großmutter Sara Ottenheimer wurden deportiert. Sie sind im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden.
Am 7. Oktober 2009 war Heinz Greilsamer, seit seiner Emigration Harry Grenville, in Begleitung seiner Familie nach Ludwigsburg gekommen, um bei der Verlegung der Stolpersteine zur Erinnerung an seine ermordeten Eltern und Großmutter anwesend zu sein. Bevor die Stolpersteine in den Gehweg bei der Mathildenstraße 8, dem letzten Wohnort der Familie, eingelassen wurden, gedachte Harry Grenville mit dem Kaddisch seiner toten Eltern und Großmutter. Es war nach vielen Jahren noch einmal ein Abschiednehmen, das uns Anwesende sehr bewegte.

Von Gemmingen bei Eppingen nach Ludwigsburg

Vier Brüder aus der Familie des Josef Wolf Ottenheimer und seiner Frau Sara geb. Rothschild, gründeten um 1870 den Viehhandel «Gebrüder Ottenheimer» in der Vorderen Schloßstraße 25 (heute: Schloßstraße) in Ludwigsburg. Die jüdische Familie Ottenheimer stammte aus Gemmingen bei Eppingen. Zu dieser Zeit hatte die jüdische Gemeinde dort ihren höchsten Mitgliederstand. Als endlich auch in Württemberg die bürgerliche Gleichstellung der Juden Gesetz war, zogen viele jüdische Bürger aus den Dörfern in die Städte, so auch Moses, Abraham, Simon und Isaak Ottenheimer. Sie lebten von da an mit ihren Familien in Ludwigsburg. Bis zur Jahrhundertwende betrieb die «Gründergeneration» den Viehhandel, danach wurde er von deren Söhnen übernommen.
Josef S. Ottenheimer wurde als Sohn von Simon Ottenheimer und dessen Frau Nanette geb. Wolf 1861 in Gemmingen geboren. Seine Frau Sara war 1870, ebenfalls in Gemmingen, geboren. Sie war seine Cousine, die Tochter seines Onkels Isaak und dessen Frau Babette geb. Löwenthal. Josef und Sara hatten zahlreiche Geschwister.

Kolonialwaren und Zigarrenhandel en gros

Josef hatte sich nach dem Schulbesuch zum Kaufmann ausbilden lassen. Seinen Militärdienst absolvierte er zwischen 1879 und 1880 im Train-Batallion 13 in Ludwigsburg. Er gründete gemeinsam mit Emil Ottenheimer ein «Kolonialwaren- und Zigarrengeschäft en gros», das er an verschiedenen Standorten in Ludwigsburg betrieb. Ab 1910 war der «Zigarrenhandel en gros» in der Bahnhofstraße 9 untergebracht. Josef Ottenheimers Familie und weitere Familien der Ottenheimerschen Verwandtschaft wohnten bis 1938 im Hinterhaus der Bahnhofstraße 9.
Wilhelm, Klara und Hilde, die Kinder Josef und Sara Ottenheimers, haben ihre Kinderzeit wohl hauptsächlich am Reithausplatz 3 erlebt, dem vorherigen Wohnort der Familie, denn Wilhelm wurde 1892, Klara 1895 und Hilde 1896 geboren.
Die beiden Töchter besuchten in Ludwigsburg die Mädchenrealschule, das heutige Goethe-Gymnasium. Klara arbeitete dann in der Firma ihres Vaters als Kontoristin, später war sie Prokuristin der Württembergischen Papierzentrale.
Hilde besuchte die Handelsschule und arbeitete als Bürogehilfin bevor sie mit dem Studium begann. Über ihr Leben wird im Anschluss noch berichtet.
Wilhelm starb als Kriegsteilnehmer, 26jährig, im Oktober 1918 im Feldlazarett von Aincreville. Er wurde in Aincreville beerdigt.
Josef Ottenheimer war ein angesehener Bürger der Stadt und aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde. Er war in mehreren Ehrenämtern tätig, so als Vorsteher des israelitischen Wohltätigkeitsvereins und als erster Vorsitzender des Gemeindevorsteheramts. Dem Ludwigsburger Kriegerverein gehörte er ebenfalls viele Jahre an.

Die Württembergische Papierzentrale

Den «Zigarrenhandel en gros» musste Josef Ottenheimer 1923 wegen der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse aufgeben. Es gelang ihm, zusammen mit Jakob Greilsamer, 1925 eine neue Firma zu gründen, die Württembergische Papierzentrale, Großhandel mit Packpapier und Papierwaren zu Verpackungszwecken.
In Jakob Greilsamer hatte Josef Ottenheimer einen erfahrenen Geschäftspartner gefunden. Er hatte als junger Mann mehrere Jahre für eine Karlsruher Importfirma in Algier gearbeitet. Geboren war er 1877 in Breisach. Seine Eltern waren David Greilsamer und Auguste geb. Bär. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde er von den Franzosen interniert und bis zum Ende des Kriegs im Lager festgehalten. Wo Jakob Greilsamer danach gelebt und gearbeitet hat, ist nicht bekannt. Sicher ist der Wohnort Mainz, von wo er nach Ludwigsburg anlässlich der Hochzeit mit Klara Greilsamer im März 1925 zuzog.
Ein Jahr später, am 26. Februar 1926, wurde Heinz Willy Greilsamer geboren, seit der Emigration umbenannt in Harry Grenville. Zwei Jahre darauf kam am 28. Juni 1928 Hannah zur Welt. Die Kinder besuchten die evangelische Volksschule in Ludwigsburg, mussten dann aber ab 1938 täglich nach Stuttgart zur jüdischen Schule fahren, weil ihnen, als jüdischen Kindern, der Besuch öffentlicher Schulen nicht mehr gestattet war.
Harry Grenville berichtet rückblickend, dass die Württembergische Papierzentrale bis zur Boykottierung der jüdischen Geschäfte im Jahr 1933 sehr gut lief. Sein Großvater und seine Mutter arbeiteten mit einem Gehilfen im Büro. Sein Vater bereiste ganz Württemberg und Baden, um Aufträge zu sammeln. Ab und zu durfte Heinz den Gehilfen August Veigel mit dem beladenen Schubkarren zum Güterbahnhof begleiten. «Das war jedes Mal ein Fest.»
Zuhause versorgte Großmutter Sara die Kinder und den Haushalt. Sie war eine ausgezeichnete Köchin. Besonders an seine Lieblingsspeisen Kartoffelsalat und Nudelsuppe erinnert sich ihr Enkel. Auch eine alte Ludwigsburgerin, die fast täglich bei Familie Greilsamer nach der Schule vorbei schaute und Spielkameradin von Hannah Greilsamer war, schwärmt noch heute vom guten Apfelkuchen der Großmutter. Zum großen, parkähnlichen «Bronners Garten» hatten die Kinder freien Zutritt zum Spielen. Er befand sich im Dreieck Bahnhof,- Mylius,- Schillerstraße.
1934 zog die Firma in das Hinterhaus der Myliusstraße 15 um. Noch vier Jahre konnte die Württembergische Papierzentrale von Josef Ottenheimer und Jakob Greilsamer betrieben werden, bevor die Naziherrschaft im Jahr 1938 allen noch in Ludwigsburg lebenden jüdischen Bürgern die berufliche Existenz zerstörte.

Emigration und Deportation

Die Württembergische Papierzentrale wurde im November 1938 «arisiert», also in deutschen Besitz gezwungen. Im Verlauf des Jahres 1938 waren die Großeltern Ottenheimer mit der Familie Greilsamer und der Familie des jüngsten Bruders der Großmutter, Albert Ottenheimer, in die Mathildenstraße 8, 1. Stock, umgezogen.

Albert Ottenheimers Söhne Hans (seit der Emigration Johnny) und Fritz (seit der Emigration Fred) waren für Heinz Greilsamer wie Brüder. Heinz Greilsamer/Harry Grenville erinnert sich an die Wohnverhältnisse: «Die Wohnung im 1. Stock war groß genug um alle 10 Personen unterzubringen, obwohl die einzelnen Zimmer etwas überfüllt waren.»

Hans Ottenheimer, geboren 1921, emigrierte nach der Gefangenschaft im KZ Dachau 1939 allein in die USA. Den Eltern und dem Bruder gelang die Emigration in die USA noch im August 1941. Hans/Johnny lebt heute hochbetagt in New York.

Als am 10. November 1938 die Synagoge in Ludwigsburg von Brandstiftern angezündet wurde, war der Rauch von der Wohnung in der Mathildenstraße aus zu sehen. Die bereits zitierte Ludwigsburgerin berichtete, dass sie von der Schule kommend weinend an der brennenden Synagoge gestanden habe. Dort traf sie auf Jakob Greilsamer. Er habe sie mit den Worten, es sei nicht gut, wenn man sie mit ihm sehen würde, weggeschickt.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln wurde für die jüdischen Familien durch Rationierungen und das Verbot in deutschen Geschäften einzukaufen, immer schwieriger. Auf eigene Gefahr war das Ehepaar Saenftl, das an der Ecke Mathilden-/Solitudestraße eine Kolonialwarenhandlung hatte, bereit, die Familien Greilsamer und Ottenheimer mit Lebensmitteln zu versorgen.

Im März 1939 fand die Bar-Mizwah-Feier von Heinz Greilsamer statt. Der israelitische Religionsoberlehrer Samuel Metzger brachte ihm den Torah-Auszug bei. Die Feier musste im Wohnzimmer der Familie Scheuer in der Seestraße stattfinden, da die Synagoge ja zerstört worden war. Zwei Monate nach Heinz Greilsamers Bar-Mizwah-Feier wanderte Samuel Metzger mit seiner Familie nach Kolumbien aus. Er war seit 1925 Vorsänger und Gemeindepfleger der jüdischen Gemeinde in Ludwigsburg gewesen.

Im Juni beziehungsweise Juli 1939 mussten Heinz und Hannah ihre Heimatstadt, ihre Eltern, Großeltern, Verwandte und Freunde verlassen. Heinz war 13 Jahre alt, Hannah stand kurz vor ihrem elften Geburtstag, als die Geschwister in getrennten Transporten zum Schulbesuch nach England gebracht wurden.

Heinz und Hannah wurden von einer englischen Familie in Cornwall aufgenommen. Aus Heinz wurde zuerst Henry, später Harry. Harry Grenville erinnert sich an die Zeit bei der Pflegefamilie als eine glückliche Zeit. Obwohl die Geschwister sehr unter der Trennung von den Eltern litten, war ihnen bewusst, dass es ihnen besser ging als anderen Flüchtlingskindern.

Die Juden wurden durch die Nationalsozialisten immer mehr schikaniert und durch Entziehung ihres Wohnraums, Einweisung in die Judenhäuser oder Altenheime «zusammengetrieben». Großvater Josef Ottenheimer entging der Deportation durch seinen Tod am 19. Februar 1940. Ein jahrelanges Nierenleiden hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Er wurde auf dem neuen israelitischen Friedhof in Ludwigsburg bestattet.

Im Zuge der Einweisung älterer jüdischer Menschen in Altenheime musste Sara Ottenheimer 1941 nach Dellmensingen übersiedeln.

Jakob und Klara Greilsamer zogen im Juni 1941 von der Mathildenstraße 8 in die Marstallstraße 4 in das Haus von Max Elsas um. Vermutlich mussten sie die Wohnung in der Mathildenstraße zwangsweise verlassen. Im Dezember 1941 erfolgte die Einweisung in das Stuttgarter «Judenhaus» in der Blumenstraße 2.

Am 22. August 1942 wurden Jakob und Klara Greilsamer vom Stuttgarter Nordbahnhof aus nach Theresienstadt deportiert. Auch Sara Ottenheimer wurde gezwungen, an diesem Transport teilzunehmen.

Sara Ottenheimer ist am 19. Oktober 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet worden.

Jakob und Klara Greilsamer sind am 28. Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht worden und sind ebenfalls dort umgekommen.

Auf der großen Gedenktafel der Gedenkstätte am Stuttgarter Nordbahnhof sind auf der langen Liste der Deportierten auch die Namen von Sara Ottenheimer, Heinz und Klara Greilsamer eingraviert.

Zur Stolperstein-Verlegung am 7. Oktober 2009 wurde Harry Grenville von seiner Tochter Jane, der Schwiegertochter Maureen, der Enkelin Anna und den Söhnen Andrew und John begleitet.

Die Begegnung mit Familie Grenville hat bei uns, den Mitgliedern der Stolperstein-Initiative Ludwigsburg, einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Harry Grenville und seine Familie haben uns die Hand zur Aussöhnung gereicht.

Harry Grenville unterrichtet Schülerinnen und Schüler in England über die politischen Zusammenhänge des Nationalsozialismus und über die Geschichte seiner Familie. Einen Text hierzu hat er uns zur Verfügung gestellt; Sie finden ihn hier.

Gudrun Karstedt

Fotomontage oben: Gebäude Mathildenstraße 8 im Jahr 2004, Foto Jakob und Klara Greilsamer mit Sohn Heinz aus Familienbesitz Harry Grenville

Ein Foto aus Auschwitz – Hier finden Sie die Geschichte, wie Harry Grenville Gewissheit über den Todesort seiner Familie bekam…

Familie Frischauer

Hans Frischauer
Meta Frischauer
Robert Frischauer
Walter Frischauer

In keiner Heimat gab es Sicherheit

Asperger Straße 34

«In der Inflationszeit blühte sein Weizen, und bald konnte er sich als Lieferant von staatlichen Behörden eine pompöse Villa bauen.» Der hier in der nationalsozialistischen Hetzschrift ‹Flammenzeichen› angeprangert wird, ist Hans Frischauer, ein tschechischer Jude in Ludwigsburg. Sein Vater hatte 1905 das Asperger Zweigwerk der Chemischen Fabrik Weil & Eichert aus Ludwigsburg aufgekauft und die Leitung seinem Sohn Hans übergeben.

1920 heiratet Hans Frischauer mit 36 Jahren in Ludwigsburg die 25jährige Meta Weil, hier geborene Tochter des Fabrikdirektors der Firma Weil & Eichert. Ein Jahr später wird die Tochter Gertrud Karoline geboren – sie wird die Mädchenrealschule in Ludwigsburg besuchen und 1938/39 ein «Töchterinstitut» bei Sankt Gallen in der Schweiz.

Ende 1922 kommt Robert Leopold zur Welt. Er besucht in Ludwigsburg das Gymnasium und feiert im Dezember 1935 seine Bar-Mizwah. Nachdem ihm der Schulbesuch in Ludwigsburg wegen seiner jüdischen Religion unmöglich gemacht wird, wird auch er in der Schweiz unterrichtet.

1929 schließlich wird Walter Leopold geboren – wie seine Geschwister geht auch er in Ludwigsburg zur Schule, bis das Nazi-System ihm dies verwehrt. Bis zur Flucht nach Prag besucht er zuletzt die jüdische Schule in Stuttgart.

Hans Frischauer produziert ab 1933 Nitrozellulose-Lacke und ist damit auf der Höhe der chemisch-technischen Entwicklung seiner Zeit. Seine Kunden sind die Deutsche Reichsbahn, Landesunternehmen und kommunale Einrichtungen.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 beginnen sehr bald die Beschränkungen und Repressalien, speziell gegen jüdische Geschäftsleute und Bürger. Ein Beispiel ist die Kontingentierung von Leinöl, einem Grundstoff für Farben und Lacke, bei denen Frischauers Fabrik benachteiligt wird. In der NS-Hetzschrift ‹Flammenzeichen› ist 1937 zu lesen: « … er beliefert immer noch verschiedene Behörden und zählt auch noch einen großen Kreis von Handwerkern zu seiner Kundschaft. Wäre es nicht möglich, dass sich der Frischauer auf den Export nach Palästinahäfen umstellt?»

Im Mai 1938 wird bei der Firma Frischauer eine Betriebsprüfung durchgeführt. Begründung: Ungenehmigte Verkäufe von Materialien ins Ausland und Steuerhinterziehung. In der Folge wird eine Steuernachzahlung in Höhe von 130.000 Reichsmark eingefordert und mit einem Strafverfahren gedroht. Das veranlasst Hans Frischauer zu einer überstürzten Flucht nach Prag – denn noch hat er einen tschechischen Pass.

Das ist den Nationalsozialisten gerade recht. Nun können sie jeglichen Besitz von Frischauer einziehen. Dazu gehört die Asperger Firma mit verschiedenen Außenbüros und die Villa in der Asperger Straße 34 in Ludwigsburg. Aus der Wohnungsmeldekartei von Meta Frischauer ist ersichtlich, dass sie am 5. April 1939 das Haus der Familie verlassen muss. Sie zieht – vermutlich mit dem jüngsten Sohn Walter – zur Familie Hirschfeld in das Haus Asperger Straße 39.

Im Frühjahr 1939 hat Hans Frischauer in Prag so viel Geld zusammen, dass er seine Familie nachkommen lassen kann. Aber gerade dort laufen die Frischauers den Nationalsozialisten ganz bald wieder ins Netz, denn noch im März marschieren deutsche Truppen in Prag ein. Im September müssen die Frischauers in das Prager Juden-Ghetto umziehen. Dort verbringen sie zweieinhalb Jahre mehr schlecht als recht. Dann werden sie im April 1942 nach Theresienstadt deportiert. Schon sechs Tage später geht es weiter nach Izbica, einem Durchgangslager auf dem Weg in das Ermordungslager Belzec.

Als einzige der Familie überlebt die Tochter Gertrud den Holocaust, weil die Eltern sie rechtzeitig nach England schicken. Dort heiratet sie später und kommt in den 1990er-Jahren noch einmal mit einer Gruppe ehemaliger jüdischer Mitbürgerinnen und -bürger nach Ludwigsburg.

Heinz Weißgerber

Fotomontage oben: Gebäude Asperger Straße 34 im Jahr 2005, Portraits Familie Frischauer (Stadtarchiv Ludwigsburg)

Karl Essig

Ermordet wegen einer Erkrankung

Friedrichstraße 35

Karl Essig wurde am 16. September 1887 in Ludwigsburg geboren. Sein Vater (geboren 1855) hieß ebenfalls Karl Essig und war Notariatsdiener mit Geburtsort Benningen, die Mutter Margarete Essig, geborene Scharpf, war 1860 in Eybach im Oberamt Geislingen zur Welt gekommen. Das evangelische Ehepaar hatte noch einen weiteren Sohn, den vier Jahre jüngeren Friedrich Wilhelm.
Seit 1909 wohnte die im Jahr zuvor verwitwete Mutter als Eigentümerin in der Friedrichstr. 35 – dies war somit auch der Wohnsitz des Sohnes Karl, bevor er in die Anstalt kam.
Karl erkrankte mit sechs Jahren an Scharlach, mit 14 Jahren sei er „schnell hochgeschossen“, später wird in der Anstalt seine Größe mit 187 Zentimeter und das Gewicht mit 65 Kilogramm angegeben.
Er besucht die Realschule, wo er „immer still für sich“ war. Mit 22 Jahren besteht er die Prüfung zum Notariatsassistenten. Das ärztliche Zeugnis vermerkt, dass er sich viel mit Hypnose beschäftigt und wenig Umgang gehabt habe.
Im November 1911 erkrankt er, man stellt bei dem 24jährigen Erregungszustände, Verfolgungsideen und Sinnestäuschungen fest. Er versucht zweimal, aus dem Fenster zu springen. Vom Dezember 1911 bis Juli 1912 ist er zweimal für einige Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt Weinsberg. Die Diagnose aus dieser Zeit lautet „Demenzparanoiker“.
Am 18. August 1913 kommt er von der Krankenanstalt Ludwigsburg in die Heilanstalt Christophbad bei Göppingen, von da wird er am 16. August 1920 auf Wunsch der Angehörigen nach Winnental verlegt.
Vier Tage nach seiner Einweisung schreibt er an die Mutter: „Bin von Christophbad Göppingen hieher gekommen (…) Ich habe immer den schrecklichen Gesundheitszustand zu Beginn meiner Krankheit Oktober 1911. Gesund werden ist ausgeschlossen.“
Der Austritt erfolgt am 30. Juni 1921 als „gebessert“. Zur vorherigen Diagnose kommt Katatonie hinzu (also Schizophrenie mit Krampfzuständen).
Zehn Jahre später, am 9. Oktober 1931 wird Karl Essig auf Ansuchen der Angehörigen erneut in Weinsberg aufgenommen. Fast neun Jahre lang bleibt er dort. Am 21. Juni 1940 wird er mit dem Eintrag „ungeheilt“ und dem Vermerk „verlegt“ aus der Patientenliste gestrichen. Am gleichen Tag werden 65 Menschen ohne Angabe des Zielortes „verlegt“.
Die Einwohnerkarte in Ludwigsburg endet mit dem Eintrag: Gestorben am 18. Juli 1940 in „Sonnenstein“ – in Schloss Sonnenstein in Pirna nahe Dresden war eine der Ermordungsanstalten der Nazis. Doch dieses bis heute offiziell vermerkte Datum ist mit großer Sicherheit ebenso wie der angegebene Ort falsch. Fachleute für Krankenmorde aus der Stuttgarter Stolperstein-Initiative wiesen uns darauf hin, dass der Transport, der am 21. Juni Weinsberg verließ, nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb führte und dass die dorthin gezwungenen Menschen noch am selben Tag dort ermordet wurden.
Um ihre Morde zu verschleiern, verschickten die NS-Täter und ihre Handlanger/innen die gefälschten Sterbedaten und -orte sowie falsche Todesursachen. Dass in den Akten der Einwohnermeldeämter beziehungsweise der örtlichen Archive die von Kriminellen manipulierten Daten immer noch offiziell zu sehen sind, könnte nur auf zwei Weisen behoben werden: Für jede Person müsste ein einzelner richterlicher Beschluss vorliegen – oder der Bundestag müsste die Korrektur durch ein Gesetz veranlassen. Da die Opfer von Krankenmorden nach wie vor keine große politische Lobby haben, ist dies bisher nicht geschehen. Und so passieren Fehler wie auf dem Stolperstein für Karl Essig: Hier stehen falsche Daten zu seinem Tod aus einer offiziellen Quelle. Zumindest an dieser Stelle berichtigen wir sie mit diesem Bericht.

Zahlungspflichtig für die Unterbringung von Karl Essig in Weinsberg war übrigens seine Mutter. Margarete Essig wurden beispielsweise für die letzten 81 Tage des Lebens ihres Sohnes in der Anstalt Weinsberg 234,09 Reichsmark berechnet. Im März 1943 starb sie in Ludwigsburg.

Christian Rehmenklau, Jochen Faber