Elfriede Mack wurde am 8.7.1890 in Ludwigsburg in der Franzosenstraße 74 (heute Martin- Luther Straße) geboren. Ihr Großvater Georg Adolf Mack war Landwirt und Gemeinderat in Ludwigsburg. Ihr Vater war Otto Mack, Fabrikant und Inhaber einer Gipsfabrik, geboren am 24.3.1860, die Mutter war Bertha Mack, geb. Keppler. Sie hatten noch eine Tochter, Margareta, geboren 1888 und einen Sohn, Hans Otto Mack, geboren 1896, der nach dem Tod des Vaters 1927 die Fabrik übernahm. Er kam dann auch für die Anstaltskosten auf. Ab 1906 zieht die Familie in die Holzstraße 21 (heute Brenzstraße) um, die Fabrik bleibt in der Franzosenstraße 74.
Elfriede Mack als Kind mit Mutter und Schwester
Aus dem ersten ärztlichen Bericht der Universitätsklinik Tübingen für Gemüts- und Nervenkrankheiten vom 18. April 1912 erfahren wir mehr über das Leben von Elfriede Mack.
In der Anamnese heißt es: „Normale Entwicklung. In der Schule lernt die Pat. gut, sie war fleißig, zärtlich, ein liebes, folgsames Kind, nicht eigensinnig. Mit 14 Jahren kam Pat. nach England, kam nach zwei Jahren (1906) verändert zurück, sprach ein Kauderwelsch von Englisch und Deutsch, dabei Hochdeutsch. Wollte Schauspielerin, Lehrerin werden.“
Wo und bei wem sich Elfriede Mack in diesen zwei entscheidenden Jahren ihrer jugendlichen Entwicklung aufhielt, ist nicht bekannt.
Der ärztliche Bericht hält weiter fest, dass nach ihrer Rückkehr eine allmähliche Veränderung eintrat. Sie wurde „ unfreundlich, abweisend, besonders gegen die Mutter, reizbar, aß wenig.“
Elfriede hatte aber durchaus eigenen Vorstellungen von ihrer Zukunft, sie besuchte gegen den Willen der Eltern eine Vorbereitungsschule für Lehrerinnen in Stuttgart. Für eine, nach damaligem Recht noch nicht einmal volljährige, junge Frau ein ungewöhnlicher Schritt. Der Anteil weiblicher Lehrer an der gesamten Lehrerschaft war damals äußerst gering. Das Examen fiel jedoch schlecht aus, der ärztliche Bericht hält fest: „darüber abgehärmt, schlecht geschlafen, viel geweint.“ Zur Erholung fährt sie in ein Nordseebad, wo sie an einem Abend ins Meer rennt und nur mit Mühe zurückgehalten wird. Der Bericht wertet dies als einen Suizidversuch. Ende August ist sie wieder zu Hause und ab dem 16. September 1909 in der Klinik in Tübingen, wo sie drei Jahre bleibt.
(In der Familie gibt es die Legende, Elfriede hätte eine Jugendliebe gehabt, die von der Mutter absolut nicht geduldet wurde – was bis zum Einsperren ins Haus geführt hätte. Diese Belastungen hätten zu großen Depressionen geführt, was letztlich zur Einweisung in die Heilanstalt geführt habe. Mitgeteilt von der Nichte)
Unter der Überschrift „Status präsens“ hält die Tübinger Klinik fest, dass die Patientin sehr groß ist (180cm, an einer anderen Stelle sind 183 cm vermerkt), ihr Ernährungszustand, ihre Temperatur, ihre Gehirnnerven, ihrer Sensibilität, ihre Reflexe und ihre Inneren Organe zeigen alle einen normalen Befund.
Als Diagnose wird festgehalten: „Hebephrenie, Diagnose ungünstig“. Zu dieser Diagnose findet man im Klinischen Wörterbuch: „.. so genanntes Jugendirresein, Bezeichnung für eine Form der Schizophrenie, die sich zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr manifestiert. Symptome sind unter anderem Veränderung des Affekts, Zerfahrenheit, Antriebsverarmung.“
Am 23. April 1912 erfolgt die Aufnahme in der Heilanstalt Weinsberg, sie wird hier die restlichen 28 Jahre ihres Lebens verbringen.
Die dort erstellte Krankenakte enthält zunächst recht ausführliche Berichte, im weiteren Verlauf des Aufenthaltes werden die Eintragungen immer knapper und gleichförmiger, die Eintragungen für die Jahre 1936 bis 1938 umfassen z.B. nur noch ein Blatt. Beispielhaft ist ein Eintrag vom Januar 1921: „Kümmert sich nicht um ihre Umgebung, gibt höchst selten einmal auf eine Frage die Antwort “Ich weiß net“, (…) schreit und singt unbeirrt weiter, lacht viel vor sich hin, (…) die sprachlichen Äußerungen sind meist ohne Zusammenhang.“
Ferner heißt es immer wieder, dass sie „grimmasiert“, sich nicht sauber hält und ständig blutig kratzt, weshalb sie Handschuhe tragen muss. Über Besuche der Eltern freut sie sich, „schwätzte aber immer in der Unterhaltung ihre zusammenhanglosen Worte dazwischen.“ Ein anderer typischer Eintrag vom Januar 1940 hält fest: „ Jahraus jahrein dasselbe Verhalten. Liegt lächelnd Selbstgespräche führend im Bett, kratzt sich immer noch gern das Gesicht wund.“
Nach dem Tod des Vaters übernimmt der Bruder die Kosten für die Unterbringung. Diese betrugen in Weinsberg im Durchschnitt 1,80 bis 2,60 Reichsmark. Für Elfriede wurde jedoch der höchste Tagessatz von 4,-RM bezahlt.
Der letzte Eintrag vom 25. Januar 1940 lautet:“ Wurde in eine andere Anstalt verlegt“.
Dieses Datum der Ankunft in Grafeneck ist gleichzeitig das von der Gedenkstätte bestätigte Todesdatum, auch wenn das Familienregister im Stadtarchiv Ludwigsburg den 7. Februar 1940 angibt.
Ernst Gottlob Scheufler wurde am 21. Dezember 1938 in der damaligen Ernst-Weinsteinstraße 17 (heute Gartenstr.17) verhaftet und ins KZ Dachau mit dem Eingangsvermerk AZR eingeliefert.
Die Abkürzung AZR hieß im Klartext „Arbeitszwang Reich“ und bezeichnet eigentlich die März-Aktion der Gestapo und die Juni-Aktion der Kripo, um sog. „Asoziale“ oder sog. „Gemeinschaftsfremde“ zu verhaften. Darunter fielen neben Wohnsitzlose, Bettler, Landstreicher (damals „Wanderer“ genannt), mittellose Alkoholkranke, in geringerer Zahl auch Zuhälter und Personen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren. Unter den Eingelieferten waren außerdem viele Roma und Sinti.
Es handelte sich also um sehr unterschiedliche Menschen, die man unter dem Sammelbegriff „asozial“ in die Konzentrationslager verschleppte. Gemeinsam war ihnen allenfalls, dass ihre Verfolger sie als arbeitsscheu ansahen. Im öffentlichen Bewusstsein waren die „Asozialen“ gewissermaßen der harte Kern der Fürsorgeempfänger.
In der Gartenstraße 17 befanden sich bis vor einigen Jahren das evangelische Gemeindehaus und die Diakonische Bezirksstelle. Am 1. Oktober 1909 war hier in der „Herberge zur Heimat“ eine sog. „Wanderarbeitsstätte“ eröffnet worden. Sie diente mittellosen Wanderern als Übernachtungsmöglichkeit. Wer damals nicht arbeiten konnte oder wollte, musste diese Wanderherberge nach 2 Übernachtungen wieder verlassen. 1925 wurde ein Neubau des Hintergebäudes beschlossen und im 1. Stock desselben ein Christliches Hospiz (Hotel mit Gaststätte) mit 10 Zimmern und 18 Betten eingerichtet. Außerdem wurde ein „Kosttisch“ für 60-70 Menschen und in der Herberge zur Heimat 40 Betten bereitgehalten, was vom Evangelischen Verein Ludwigsburg betrieben wurde. Dem Verein wurde der Vertrag zur Wanderarbeitsstätte vom Oberamt Ludwigsburg 1938 gekündigt und es war vorgesehen, die Wanderarbeitsstätte ins Obdachlosenheim zu verlegten. Hier hatten im April 1938 noch 92 Wanderer mit 145 Verpflegungstagen übernachtet. Die Schließung erfolgte schließlich 1940.
Das „Evangelische Vereinshaus“ war auch eine Anlaufstelle für Wanderarbeiter. An dieser Stelle war später das Evangelische Gemeindehaus der Ludwigsburger Stadtkirchengemeinde. Heute steht da ein Mehrfamilien-Wohnhaus.
Wir wissen in der Regel wenig über das Leben der Wohnungslosen und Menschen, die auf der Wanderschaft waren und die Opfer der Verfolgung wurden. Bei Ernst Scheufler ist das anders: Wir wissen einerseits viel, aber andererseits wenig über seine letzten Jahre. Viel wissen wir über die Zeiten, in der er aktenkundig wurde.
Ernst Scheufler wurde als 4. Kind des Eisenbahners Jakob und seiner Frau Margarethe Scheufler, geborene Ehrhardt, am 20. August 1893 in Stuttgart geboren. Als Ernst geboren wurde, wohnte die Familie in der Forststraße 43 im Hinterhaus. Aufgewachsen ist Ernst dann aber mit seinem älteren Bruder Wilhelm und der 1896 geborenen Schwester Bertha im neuen Stuttgarter Stadtteil Ostheim in der Teckstrasse 30.
Teckstr.30 heute
Der Stadtteil Stuttgart Ostheim entstand auf Initiative von Eduard Pfeiffer. Der jüdische Kaufmann, den man nach heutigen Maßstäben als erfolgreichen Banker und Multimillionär bezeichnen würde, war auch als Politiker aktiv und war ein Philanthrop. Er war u.a. an der Gründung des „Verein(s) für das Wohl der arbeitenden Klassen“ beteilig, der den Bau von Wohnungen durchführte. Die Arbeiterfamilien sollten günstig wohnen, außerhalb der Stadt, aber doch nicht zu weit von der Arbeitsstelle liegen, um keine unnötigen Fahrtkosten zu erzeugen. Im Juli 1892 zog der erste Bewohner in Ostheim ein und am Jahresende wohnten bereits 700 Menschen aus 134 Familien dort. Die Berufe der Haushaltsvorstände waren Maschinenbauer, Handwerker wie Schuhmancher, Tagelöhner, aber auch kleine Beamte oder Angestellte.
lnschrift am Obelisk am Teckplatz – heute Eduard-Pfeiffer-Platz
In seinem 1893 angefertigten Bericht beschrieb Pfarrer Lempp eingehend die Ostheimer Verhältnisse: „Wenn irgendetwas den Charakter des Ostheimer Lebens bezeichnet, so ist‘s eben das, daß ein Gefühl des Fremdseins die Leute beherrscht. Es ist nur das äußerliche Nebeneinander, das die Leute verbindet, noch kein inneres Band.“
Aktenkundig wird Ernst Scheufler mit 18 Jahren zum ersten Mal 1911 als er zu 12 Tagen Gefängnis wegen Sachbeschädigung und wegen Beamtenbeleidigung und ruhestörenden Lärm verurteilt wird. Ernst war von Beruf Schmid und arbeitete als Zuschläger, d.h. als Gehilfe. Bis zu seiner Einberufung im September 1914 im 1. Weltkrieg finden sich weitere 6 Verurteilungen in den Akten. Im Juli 1915 wird er mit einem Durchschuß des linken Fußes verwundet. Sein Militärakte beschreibt ihn 1,76m groß, schlank und schwarzhaarig und „mit Tätowierung am rechten Goldfinger sowie am ganzen Leib“.
Offensichtlich hatte er mit Normen und Regeln Probleme: er kehrte vom Urlaub nach dem Zechen mit Freunden nicht in die Kaserne zurück und wurde wegen mehrmaligen Fernbleibens von der Truppe, aber auch Diebstahl vom Kriegsgericht zu einer Gesamtstrafe von 4 Jahren und 1 Monat verurteilt, die er in Ulm und Heilbronn zu verbüßen begann. Die Strafe wurde am 23.5.1918 ausgesetzt, damit Ernst wieder mit der Truppe ins Feld ziehen konnte. Er zog aber lieber mit Freunden in Cannstatt durch die Gaststätten, wurde im August von der Polizei wieder geschnappt und erneut verurteilt und musste im Festungsgefängnis Ulm einsitzen. Laut gerichtsärztlichem Gutachten sei Scheufler „leicht erregbar“ gewesen. Das Ende des 1. Weltkrieges brachte auch für ihn die Freiheit: am 19.November 1918 wurde aufgrund der allgemeinen Amnestie entlassen.
Im Februar 1920 heiratete er Thekla Helena geb. Zwicker, aber die Ehe hielt nicht lange: 6 Jahre später wurde sie wieder geschieden. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wird als Beruf von Ernst Scheufler Tagelöhner in den Akten angegeben. Er geriet immer wieder wegen kleinkriminellen Delikten mit dem Gesetz in Konflikt: illegaler Vogelfang, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Hehlerei, Beamtenbeleidigung, grober Unfug. Schließlich wurde er 1928 wegen Zuhälterei zu 5 Monaten und 15 Tagen Gefängnis verurteilt, die er ab 3. Juli 1928 in der Haftanstalt Schwäbisch Hall und im Landesgefängnis Ulm bis zum 15. November 1928 verbüßte.
In den Strafakten ist auch eine Charakterisierung eines Zeugen zu finden: „Wenn die Mutter bei der Nachricht von der Verhaftung des Sohnes nur sagen kann: ‚Gott sei Dank, dann kann ich doch wieder ruhig schlafen‘ …Er hat in seinen Räuschen schon das ganze Haus in Atem gehalten, sodass die Leute zum Fenster hinaus nach Hilfe rufen mussten…
Ab 1933 ist Ernst Scheufler er nicht mehr in der Teckstraße gemeldet. Wir wissen nicht, ob ihn seine Eltern aus der Wohnung geworfen haben oder was der Auslöser war. Seine Mutter ist am 29. Dezember 1934 gestorben, sein Vater am 8. Januar 1937.
Danach findet sich nichts mehr von Ernst Scheufler in den Akten. Vermutlich war er wohnsitzlos und hat er sich auf Wanderschaft begeben, denn die nächste Spur, die wir gefunden haben, ist die Übernachtung hier in der Wanderherberge in Ludwigsburg in der heutigen Gartenstraße 17 – damals Ernst-Weinstein-Straße 17. Am 21.12.1938 wurde er in einer Razzia aufgegriffen und ins KZ Dachau mit dem Vermerk AZR (= „Arbeitszwang Reich“) eingeliefert. Von dort wurde Ernst Scheufler am 21.3.1939 ins KZ Mauthausen als Nr. 164 in den Block 10 gebracht. Das KZ Mauthausen gehörte zur Kategorie 3, das hieß. in der Nazisprache „Vernichtung durch Arbeit“. Bereits am 8.4.1939 wird der Totenschein mit der Todesursache Herzschlag ausgestellt. Als Alter wird fälschlicherweise 40 Jahr und 4 Monate eingetragen – tatsächlich ist Ernst Gottlob Scheufler da 45 Jahre und 8 Monate alt.
Verwendete Quellen:
Adressbücher mehrere Jahrgänge, Stadtarchiv Stuttgart
Familienregister Scheufler/Zwicker, Standesamt Stadt Stuttgart
Geburtsregister 1893, Stadtarchiv Stuttgart, Nr. 2811
Familienregister Scheufler/Erhardt, Standesamt Stadt Stuttgart, Bd. 65, Nr. 780
Sterberegister 1937, Stadtarchiv Stuttgart
Evangelische Kirchenbücher Württemberg, 1500-1985, Taufregister, Abruf bei Ancestry.com
Militärstrafverfahren des XIII. Armeekorps – Einzelfälle, HStA Stgt, M78 Bü 174 und M 80 Bü 12/98
Gefangenen-Index 1928 Strafanstalt Schwäbisch Hall, StALB E 356 a I, Nr. 64
Gefangenenhauptbuch Strafanstalt Schwäbisch Hall, StALB E 356a I, Nr. 71
Landesgefängnis Ulm, StALB E 356 g, Bü.1339
Personalien der evang. Gefangenen, StALB E 356a I, Nr. 76
Bekämpfung von Bettel und Landstreicherei, 1913-1937, StALB PL 413, Bü 294
Bekämpfung des Wanderbettels HStA Stgt PL 413 Bü 80
Regelung des Wandererwesens 1936 -1944, HStA Stgt E 151(09, Bü 481
Innenministerium, Abteilung III: Polizeiwesen, HStA Stgt E 151/03, Bü 590
Belegung der Wanderarbeitsstätten im April 1938, StALB PL 413 Bü 130
Datenbank Auszug, KZ-Gedenkstätte Dachau
Schreibstubenkarte KZ Dachau, Sign.01010607 oS / ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Listenmaterial KZ Dachau/Zugangsbuch,.Sign. 8056129 / ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Veränderungsmeldung KZ Dachau 17.01.1939 – 5.3.1940, Sign. 8056129 Dokk. 9909703 – 712/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen / ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Listenmaterial KZ Dachau/Überstellung nach KZ Mauthausen, Sign. 8057600 ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Mauthausen. Sign.01012603 oS, Listenmaterial KZ Mauthausen Sign. 01012603 oS ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Leichenschauschein Individuelle Unterlagen KZ Mauthausen, Sign. 01012603 oS / ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Verwendete Literatur:
Ayas, Wolfgang: „Asozial“ und „gemeinschaftsfremd“. Wohnungslose in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in: Wohnungslos 3/04
Ayas, Wolfgang: „ Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933 -1945, Koblenz 1998
Ayas, Wolfgang: „Asoziale“ – die verachteten Verfolgten in: Dachauer Hefte 14. „Verfolgung als Gruppenschicksal“, 14. Jg. 1998, Heft 14
Ayas, Wolfgang: Wohnungslose im Nationalsozialismus. Begleitheft zur Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Bielefeld 2007
Blessing, Elmar: Ostheim und seine Schulen, 1903-2003, hrg. von MUSE-O im Auftrag der GHS Ostheim, Stuttgart 2003
Hörath, Julia: “Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938,
Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen: Kurzgeschichte der Konzentrationslager Mauthausen und seiner drei größten Nebenlager Gusen, Ebensee und Melk, Wien o.J.
Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016 , S. 166 – 187
Weinmann, Martin (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem (CCP), Frankfurt 1990, S. 375
Ein friedliches Leben durfte nicht friedlich enden
Elmar-Doch-Str. 33
Albertine Mathilde Reichert kommt am 15. August 1866 in Ludwigsburg zur Welt. Sie ist die Tochter des Schuhmachers Michael Meffert und seiner Frau Luise. Hier, in Ludwigsburg, wächst sie auf. Sie heiratet 22-jährig im August 1887 den drei Jahre älteren Postmeister Wilhelm Reichert, ebenfalls aus Ludwigsburg. 1889 kommt ihr Sohn Rudolf zur Welt. Das 1894 geborene Töchterchen Mathilde wird nur wenige Monate alt. 1896 zieht die Familie nach Sontheim bei Heilbronn, wo im Jahr 1900 der zweite Sohn Willy geboren wird.
Weitere Informationen zu Albertine und Wilhelm Reichert sind erst wieder durch den Rückzug nach Ludwigsburg aus Willsbach im März 1925 bekannt. Wilhelm Reichert ist Postmeister a.D. und Eigentümer des Gebäudes Paulinenstrasse 33, in der heutigen Elmar-Doch-Strasse.
Im Jahr nach dem Tod ihres Mannes 1936 zieht Albertine Reichert im August 1937 zum älteren Sohn nach Stuttgart. Doch nur zwei Monate später kehrt sie im Oktober wieder in ihr Haus nach Ludwigsburg zurück. Der bis dahin einzige Hinweis auf eine Erkrankung Albertine Reicherts ist einer Fürsorgeakte im Stadtarchiv Ludwigsburg vom Juni 1938 zu entnehmen. Nach einem einwöchigen Aufenthalt im Kreiskrankenhaus Ludwigsburg wird Albertine Reichert am 21. Juni 1938 in die Heilanstalt nach Weinsberg überwiesen. Der Anlass für die Unterbringung dort wird mit der Diagnose „arteriosklerotische Demenz“ angegeben. Es ist ihr erster Aufenthalt in einer Heilanstalt.
Dort lebt sie zwei Jahre, bis zum 19. August 1940. Unter diesem Datum steht im Ausgangsbuch der Heilanstalt hinter ihrem Namen „ungeheilt entlassen“. Die Wahrheit ist, dass an diesem Tag ein Transport mit Patienten aus Weinsberg in die Tötungsanstalt nach Grafeneck gebracht wird. Darunter befindet sich auch Albertine Reichert. Noch am gleichen Tag wird sie, gemeinsam mit den anderen Patienten, in Grafeneck durch Giftgas ermordet.
Bereits seit 2011 lag der Stolperstein zur Erinnerung an Fanny Kusiel vor dem früheren Pferdehändler-Haus in der Seestraße 49. Dass nun ein neues Exemplar verlegt werden muss, liegt an Bauarbeiten, bei denen der originale Stein beschädigt worden war. Die Geschichte der Familie Kusiel ist also bereits in den beiden Broschüren „Zu Besuch bei verfolgten Nachbarn“ und auf www.stolpersteine-ludwigsburg.de dokumentiert.
Salomon und Fanny Kusiel verließen ihr Zuhause und ihre Heimat in der Not, die das Nazi-Regime einer jüdischen Familie zufügte. Ihr Sohn Siegfried, der bereits früher in die Niederlande ausgewandert war, holte seine Eltern 1939 zu zu sich. Er berichtete zwanzig Jahre später: „Meine Eltern habe ich zu mir kommen lassen, weil ein menschenwürdiges Leben für sie im damaligen Deutschland nicht mehr möglich war.“ Fanny und Salom hätten „alle Möbel hinterlassen müssen und alle Wertgegenstände wie Gold, Silber, Schmuck einliefern müssen“.
„Meine Mutter hat, als sie den Judenstern tragen musste, zuerst bei mir […in] Rotterdam gewohnt und musste im September 1940 die Küststrecke […] verlassen. Ich habe sie darum in Edam untergebracht, von wo aus sie ungefähr im April 1943 deportiert wurde. Nach Angaben des Standesamtes in Edam ist sie in Sobibor in Polen am 14. Mai 1943 ,gestorben‘“.
Ob dieses Datum genau stimmt, ist ungewiss. In einer Akte über die Entschädigung der Kusiel-Kinder für die Ermordung ihrer Eltern heißt es in klassischem Beamten-Deutsch:
„Obengenannte Person gilt als gestorben am 14. Mai 1943 in Sobibor – mit dem Vermerk, dass sich die Feststellung des Todesdatums nicht auf Aussagen von Augenzeugen oder Lagerkommandanten stützt, sondern auf Schlussfolgerungen allgemeiner Art, wozu die Studierung des Schicksals des betreffenden Judentransports beim hiesigen Büro Veranlassung gegeben hat“.
Was für eine Sprache! Im Vergleich hierzu noch ein Zitat aus dem Bericht ihrer Tochter Alice, die in höherem Alter über Fanny Kusiel schrieb:
„Meine Mutter beachtete alle religiösen Regeln, die ihr einleuchteten, sie gaben ihr Kraft in mancher schwierigen Situation. Doch niemals behinderte sie mich in meinen eigenen, liberalen Gedanken.“
Ida Möhler wurde am 17.10. 1887 in Dörzbach im Oberamt Künzelsau geboren. Sie war katholisch und hatte die württembergische Staatsangehörigkeit.
Ihre Eltern waren der Buchbindemeister Fridolin Rettich und seine Frau Anne Marie, geb. Lock aus Sulzbach.
Am 29. April 1912 heiratete sie in Dörzbach Johann Möhler, es war dessen zweite Ehe.
Dieser Ehe entstammten vier Kinder, die alle in Mockmühl zur Welt kamen.
Die Söhne Alfred, geboren 1914, und Johannes, geboren 1920, starben im Krieg in Russland, beide 1942. Sohn Eugen, geb. 1913, heiratete 1943 in Berlin- Zehlendorf eine Barbara Kern. Der Sohn Hubert Paul, geboren 1917, heiratete am 22.7.1944 in Düsseldorf Margarete Andres. Am 31.7. 1944 erfolgte die Abmeldung der Ehefrau nach Ludwigsburg –Hoheneck , wo ihr Mann noch gemeldet war. Auf der Meldekarte sind keine Kinder aufgeführt..
Johann Möhler war Postassistent, er wurde am 24. Juni 1877 geboren und starb am 17. September 1927 in Neckarsulm. Zwei Jahre nach seinem Tod zieht Ida Möhler um nach Ludwigsburg.
Im Familienregister der Stadt Mockmühl finden wir den Eintrag: Ida Möhler „am 9.April 1929 nach Ludwigsburg-Hoheneck verzogen. Am 11.4. 29 dorthin übergeben.“
Auch das Einwohnerregister der Stadt Ludwigsburg bestätigt den Zuzug von Ida Möhler aus Mockmühl am 9.4. 1929 als Eigentümerin des Hauses in die Beihingerstr. 29.
(Allerdings wurden später bei der Umnummerierung von Bottwartalstr. und Beihingerstr. die Hausnummern verändert, aus 29 wurde die 9. Dieses Haus wird heute vom Urenkel von Ida Möhler bewohnt.)
Die Einwohnerbücher von Ludwigsburg bestätigen, dass Ida Möhler, Postassistentenwitwe, in den Jahren 1934, 1936, 1938 in der Beihingerstraße wohnte, immer zusammen mit Hedwig Mayer, ihrer Schwester.
Hedwig Mayer, geb. Rettich, war eine Hauptlehrerswitwe, sie ist am 20.7.1890 in Dörzbach geboren, sie heiratete am 30.8.1913 den Karl Mayer, der 1918 in Frankreich fiel.
Ihr Zuzug nach Ludwigsburg erfolgte am 3.10.1929. Sie war später für die Anstalt Weinsberg die zahlungspflichtige Person.
Ab Herbst 1929 wohnten also die Schwestern, beide Witwen, zusammen im Haus Beihingerstr. 29, das laut Einwohnerkarte der Ida Möhler gehört.
Über das weitere Leben von Ida erfahren wir etwas aus den Krankenakten der Heilanstalt Weinsberg, denn dort wurde Ida Möhler am 26. August 1931 zu ersten mal eingeliefert. Sechs Jahre später, am 25.2. 1937 wird sie nach Hause entlassen, aber schon einige Tage später, am 8. März 1937, ist sie wieder in Weinsberg.
Als nächstes halten die Akten fest: „Ausgetreten am 8. Mai 1940 – Wohin? In eine andere Anstalt.“
Die Gedenkstätte Grafeneck bestätigt, dass dieser Tag auch der Todestag von Ida Möhler war – sie wurde an diesem Datum in Grafeneck ermordet.
Das Standesamt in Grafeneck hat das Todesdatumund die Ursache, wie es oft geschah, gefälscht und gibt den 23. Mai an. Als Todesursache wird „Akute Hirnschwellung“ angegeben.
Neun Tage vor dem ersten Eintritt in Weinsberg, am 26.8.1931 erstellte ein Arzt am Ludwigsburger Krankenhaus, Dr. Joel, eine Anamnese, die den Krankenakten beigefügt ist. Nachdem festgestellt ist, dass es keine Geisteskrankheiten in der Familie gegeben hat, schildert er die Entstehung und Entwicklung der Geistesstörung:
„… seit zwei Jahren nicht mehr ganz richtig. Vor zwei Jahren wegen Schwermut Suicidversuch. Durchschneiden der Pulsader. Deswegen im Krankenhaus Ludwigsburg. Seitdem meist schwermütig, schimpft oft, streitsüchtig, Verfolgung- und Beziehungswahn. (…) Beschreibung der derzeitigen Geisteszustandes: glaubt vom Teufel besessen zu sein. Sie hat Gehörs- und Gesichtshalluzinationen. Glaubt, ihr Bett sei elektrisch. Sie hält sich selbst für gesund, möchte aber in die Irrenanstalt, damit man dort feststellt, dass sie nicht verrückt sei. Sie liegt stundenlang lachenden Gesichts ruhig im Bett und schimpft dabei beständig mit einer Gestalt, die sie anscheinend an der Decke sieht. (…) Suicidgefahr.“
Die Eintragungen in der Krankenakte erstrecken sich über neun Jahre und umfassen 15 Seiten, davon sieben Seiten für das Jahr 1931. Im weiteren Verlauf reichen meist zwei Seiten für zwei Jahre.
Die psychischen Probleme haben wohl schon bestanden, als Ida Möhler nach Ludwigsburg zieht. Der erste Eintrag der Krankenakte hält fest: „Der Mann sei Bahnbeamter gewesen, habe mit der Familie in Möckmühl gewohnt. Nach seinem Tod sei Pat. (Patientin) mit ihrer Schwester in Hoheneck zusammengezogen, dort habe sich gleich ein Komplott gegen sie gebildet, namentlich eine Nachbarsfrau sei ihr feindlich, aber die ganze Welt sei gegen sie.“ Dann wird beschrieben, wer ihr Böses will, dass sie Schriften mit Hinweisen an der Zimmerwand liest und dass ihr Mann wieder auferstanden sei. Beobachtungen dieser Art wiederholen sich. Der Alltag für Ida Möhler sieht wohl so aus, wie in diesem Eintrag festgehalten: „Halluziniert dauernd lebhaft, ist sonst aber gut zu haben, wenn sie auch ab und zu laut schimpft. Täglich beim Mattenflechten.“
Ihr Bruder und ihre Schwester, die Hedwig Mayer, die auch als zahlungspflichtige Person angegeben ist, versuchen 1937, sie wieder nach Hause zu holen, aber nach 12 Tagen ist sie wieder in Weinsberg.
Zwei Monate vor ihrer Verlegung in die Tötungsanstalt heißt es in einem der letzten Einträge: „Seit Monaten fleissig bei der Arbeit in der Bügelstube. Führt oft laute Selbstgespräche. Isst unregelmäßig.“
Vortrag anlässlich der Stolpersteine-Verlegung für Elise Münz von Marc Haiber
Dort wo ich lebe wurden sehr viele Menschen auf Grundlage der nationalsozialistischen Ideologie in den Tod geschickt: mehrere Hunderte Menschen von der Sammelstelle für Sinti und Roma vom Hohen Asperg in die Konzentrationslager und 120 Menschen von der Landesfürsorgeanstalt Markgröningen nach Grafeneck und in Ludwigsburg wohnten überall im Stadtgebiet Menschen die aus den unterschiedlichsten Gründen verfolgt wurden.
Es konnte jeden treffen. Und die Täter waren genauso überall – die Nazis waren nicht das abstrakte böse andere, sondern Verwandte, Nachbarn usw. Es liegt an uns in welcher Gesellschaft wir leben – wer sich nicht erinnert verliert die Orientierung.
Wir erinnern uns hier an Elise Münz mit dem Bewusstsein, dass ein Vergessen der Vernichtung Teil der Vernichtung selbst wäre.
Elise Münz wohnte hier in Ludwigsburg in der Bogenstraße 10 im 2. Stock
Sie ist geboren am 3.5.1885. Sie war römisch-katholisch getauft und Württembergische Staatsangehörige
Ihre Eltern waren Jakob und Dorothea Münz. Ihr Vater war von Beruf Schlosser. Die beiden heirateten wenige Monate vor Elises Geburt.
Elise Münz war das einzige gemeinsame Kind der beiden. Ihre Mutter starb bereits am 25.05.1890, also kurz nach Elise 5. Geburtstag.
Ihr Vater heiratete seine zweite Ehefrau, Elises erste Stiefmutter, noch im selben Jahr (am 15.11.1890). Auch diese Ehe hatte wenig Glück, denn Jacobs zweite Ehefrau verstarb keine 4 Jahre nach der Hochzeit (am 1.11.1894). Elise war zu diesem Zeitpunkt 9 Jahre alt. Die Ehe brachte drei Kinder hervor. Diese Halbgeschwister von Elise starben alle kurz nach der Geburt im Kleinkindalter. Besonders tragisch war, dass Elises Stiefmutter selbst nur 2 Tage nach der Entbindung ihres 3. Kindes starb (dieses Kind starb bereits am Tag der Geburt).
Knapp 5 Monate später heiratete Jacob ein drittes Mal. Marie Münz war nun die zweite Stiefmutter von Elise. Sie wird später in ihrer Weinsberger Patientenakte als die nächste Verwandte und Angehörige angegeben. Die Ehe zeugte drei Kinder. Diese Halbgeschwister von Elise waren zwischen 11 und 23 Jahre jünger als sie selbst. Vielleicht war die Bindung zu diesen Halbgeschwistern aufgrund der Altersunterschiede weniger eng. Zumindest wurde bei ihrer Weinsberger Patientenakte angegeben, dass sie keine Geschwister hätte. Die tragischen Todesfälle von Mutter, erster Stiefmutter und Halbgeschwister dieser Eher lassen vermuten, dass die Kindheit von Elise nicht einfach war. Es liegt nahe, dass es schwierig für sie als Kind sein musste, den Verlust von sehr wichtigen Bezugspersonen zu verkraften. Als Kind sei Elise Münz schon immer eigensinnig und herrschsüchtig gewesen.
Elise Münz war zeitlebens ledig.
Von Beruf war sie Verwaltungsangestellte (damalige Berufsbezeichnung (Kontoristin) .
Von Elise Münz liegt uns diese Fotographie vor, welches sie im Erwachsenalter zeigt.
Als erwachsene Frau hatte sie eine Körpergröße von lediglich 1,42m, bei einem Körpergewicht von ca. 50 kg. Ihre Augenfarbe war blau. Ihre Haarfarbe wird im Alter von 46 Jahre als grau angegeben. 1940 bei ihrer Deportation nach Grafeneck in den Tod wurde im Fahrverzeichnis als mitgegebenem persönlichen Besitz auch eine Brille vermerkt – vermutlich wurde sie also im Laufe ihres Lebens zur Brillenträgerin.
Elise Münz Vater Jacob starb 64-jährig am 28.7.1926. Elise Münz war zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt und wohnte im gleichen Haus wie er in der Bogenstraße 10.
Psychische Auffälligkeiten zeigten sich bereits in der Jugend – mit 16 Jahren war sie als Kindermädchen in Paris gewesen. Wegen Verrücktheit musste sie dort allerdings wieder zurück gehen. In ihrem 18. Lebensjahr, 1913, unternahm sie einen Suizidversuch. Elise Münz übergoss sich mit Spiritus und zündete sich selbst an. So ist sie dann aus dem Fenster gesprungen und hatte sich beide Beine gebrochen. (Behandelt wurde sie dann im Cannstatter Krankenhaus). Aufgrund der Verbrennungen hatte sie dann von der linken Halsseite bis zur Achsel eine große Narbe, ebenso war ihre Brust großflächig vernarbt. Ihre Füße wurden später in Weinsberg dann als verkrüppelt mit versteiften Fußgelenken beschrieben – auch dies war eine Folge des Suizidversuchs. Ihr Gang war deshalb auch entsprechend gestört. Von November 1914 bis September 1915 war Elise Münz, nach Einweisung durch das Bürgerhospitals, dann in der Heilanstalt Winnental. Diagnostiziert wurde bei Elise Münz chronische Paranoia, Schizophrenie und Melancholie. Von dort wurde sie mit gebesserter Gesundheit entlassen und kam zurück nach Ludwigsburg. Von 1928 – 1929 war sie 1 ½ Jahre als Verwaltungsangestellte beim Orient-Okzident Verlag angestellt. Zumeist war sie wohl aber ohne Anstellung.
Zwei Jahre später wurde in Ludwigsburg von einem Dr. Joel am 11.11.1931 eine Paranoia diagnostiziert und es erfolgte auf seine Veranlassung eine Aufnahme in die Heilanstalt Weinsberg zum 19.11.1931.
Elise Münz hatte Wahnvorstellungen und glaubte sie sei die Prinzessin von Württemberg. Als diese hätte sie Arbeiten geschrieben zur Lösung der wirtschaftlichen Not. Zudem würde sie wegen ihrer großen Leistungen und ihrer aristokratischen Abstammung verfolgt werden. Mit modernen Apparaten würde man alles von ihr abhören. Sie litt also auch unter einem Verfolgungswahn. Zudem kündigte sie das Ausscheiden aus dem Leben an, wenn man ihre Leistungen nicht anerkennen würde. Deshalb wurde als besonders wichtig bei der Aufnahme eine Suizidgefahr vermerkt.
Von nun an lebte Elsie bis zu ihrer Ermordung etwas mehr als acht Jahre in Weinsberg. Unter Psychosen litt sie in dieser Zeit immer wieder phasenweise. Insgesamt hatte sie aber auch sehr viele gute Zeiten in Weinsberg, in denen sie sich wohl fühlte und es ihr gut ging.
Auffallend ist, dass Elise Münz als sehr wortgewandt beschrieben wurde und sich sehr gut ausdrücken konnte. Sie wurde aufgrund ihrer geringen Körpergröße von 1,42 m als winzige Person mit großem Mundwerk wahrgenommen. Ihre Wahnvorstellungen hatten für die behandelnden Ärzte auffallend gute Zusammenhänge und wurden lt. Weinsberger Patientenakte wohlformuliert von ihr vorgetragen. Auch in ihrer Wahn-Welt wirkte sie auf ihre Umgebung geordnet und selbstbewusst.
Als Patientin in Weinsberg war sie oft freundlich zu ihren Mitmenschen. Ihre aristokratische Wahnvorstellungen hatte sie immer wieder – so hatte sie z.B. auch mal die Annahme, dass ihr als Gräfin von Münsingen wichtige Briefe vorenthalten würden. Arbeiten in Weinsberg führte sie oftmals aus, obwohl sie sich als Gräfin oder Königin dazu eigentlich nicht verpflichtet fühlte.
Phasenweise hatte sie in Ihrem Wahn aber auch schlimme Angstzustände.
So wurde sie wegen Unverträglichkeit dann auch mal in Bettbewachung gehalten. Manchmal zog sie sich in ihrem Wahn auch von selbst zurück.
Während ihren viele gute Phasen in Weinsberg ohne Psychosen, nahm sie aktiv am dortigen Leben teil. Dann beteiligte Elise Münz sich auch gerne am kulturellen Leben und nahm im Festsaal an Veranstaltungen mit Kuchen und Tanz oder Märchenvorstellungen teil. Sie bekam auch Verwandtschaftsbesuch von der Stiefmutter und einer Base (vielleicht wurde in der Patientenakte mit Base aber auch eine Halbschwester gemeint – vielleicht waren die Verwandtschaftsverhältnisse dem dortigen Personal nicht so klar).
Vor allem wurde in Weinsberg, über all die Jahre auffallend häufig, sehr positiv ihre Arbeitsleistungen beschrieben. So half sie beim Gemüseputzen, aber vor allem arbeitete sie sehr gut und sehr gerne in der Nähstube und beim Stricken. Offensichtlich war sie sehr geschickt bei Handarbeiten. Sehr fleißig zeigte sie sich beim Wäsche ausbessern. Über ihre ganze Zeit in Weinsberg, auch bis zu den letzten Einträgen in ihrer Patientenakte zum Jahreswechsel 1940, wird immer wieder ihre tägliche fleißige Arbeit beim Flicken, Löcher stopfen oder anderen Handarbeiten beschrieben.
Der letzte Eintrag erfolgte am 25. Januar 1940: „Keine Änderung. Verlegt in eine andere Anstalt“. Vermutlich wusste damals in Weinsberg noch niemand, dass Elise Münz in Grafeneck noch am selben Tag in einen qualvollen Tod durch Ersticken im Gas geschickt wurde. Die Vernichtung des so genannten unwerten Lebens hatte soeben erst begonnen – Elise Münz gehörte damit zu den ersten von über 10 000 Mordopfern in Grafeneck. Sie wurde nur 54 Jahre alt. Um die Massenermordungen in Grafeneck zu verschleiern, wurde dort auch das Todesdatum vertuscht. Bei Elise Münz wurde es auf den 11. Februar 1940 gefälscht.
Josef Michelbacher wurde am 7. Februar 1906 in Gisingen, heute ein Ortsteil der 800 Einwohnergemeinde Wallerfangen im Saarland geboren.
Das heutige Wallerfangen liegt an der Grenze zu Frankreich und war im Laufe der Geschichte immer wieder umkämpft und gehörte lange zum Herzogtum Lothringen. Nach den napoleonischen Kriegen wird die Gegend im zweiten Pariser Friedenvertrag 1815 zur preußischen Rheinprovinz zugeschlagen. Infolge des deutsch-französischen Krieges 1870/71 und der Abtretung von Elsaß-Lothringen an Deutschland ist der Kreis nicht mehr Grenzgebiet. Viele Menschen wandern in die nun deutschen Kohle- und Erzreviere in Lothingen aus, um dort zu arbeiten. Die Familie von Josef bleibt in Gisingen. Als Schüler erlebt nun Josef, dass das Saargebiet 1919 im Frieden von Versailles unter die Verwaltung des Völkerbundes kommt, aber zu französischen Wirtschaftraum gehört, da die Kohlegruben und ihre Ausbeutung sowie die Eisenbahnen westlich der Saar als Reparationen des 1. Weltkrieges Frankreich zugesprochen wurden. Elsaß-Lothringen gehört nun auch wieder zu Frankreich. Damit ist die Bürgermeisterei Kerlingen, zu der Wallerfangen gehört, faktisch wieder eine Grenzregion.
Josef stammt aus armen Verhältnissen. Der Großvater Mathias väterlicherseits hatte noch eine Landwirtschaft gehabt und der Großvater Johann mütterlicherseits war Maurer und Tagelöhner. Josefs Vater Johann wurde als sechstes von acht Kindern geboren und war auch Tagelöhner und seine Mutter Maria, geb. Kastel wuchs als viertes von sieben Kindern auf. Die Eltern heiraten im August 1903 und der ältere Bruder Johann Mathias wird 1904 geboren. Fast alle Familienmitglieder stammten aus Gisingen und sind auch dort geblieben, auch der zwei Jahre ältere Bruder von Josef.
Wallerfangen war Ende des 18 Jahrhunderts eine der Wiegen der heute weltberühmten Firma Villeroy & Boch. Während des Ersten Weltkrieges wurde die Produktion vorübergehend eingestellt. Da eine Belieferung des Deutschen Reichs aus dem nach Kriegsende abgetrennten Saargebiet nur erschwert möglich und die Beschaffung der Rohstoffe (v. a. Brennmaterial und Tone) schwierig war, erwarb Villeroy & Boch 1920 Fabriken bei Bonn und bei Breslau, wo es in der Zeit zwischen den Weltkriegen die Produktion wieder aufnahm. Im Saargebiet wird dann hauptsächlich für den französischen Markt produziert. Die Produkte der Wallerfanger Fabrik erhalten nun auf ihrem Stempel den Zusatz „Made in Saar-Basin“. 1931 wird die Fabrik nach der Weltwirtschaftskrise geschlossen und über 600 Beschäftigte werden arbeitslos. Zwischen 1935 und 1937 werden auch die Fabrikgebäude abgerissen.
Josef Michelbacher scheint der Einzige in der Familie gewesen zu sein, der sein Glück in der Fremde suchte. Wir können leider nicht mehr nachverfolgen, wo er gewesen ist. Die erste Spur, die wir gefunden haben, war seine Verhaftung in Ludwigsburg.
Josef Michelbacher war knapp 10 Tage, vom 15. Juni 1938, 17.15 Uhr bis zum 25. Juni 1938, 9.30 Uhr in der Zelle 13 des Ludwigsburger Gefängnisses inhaftiert. Danach scheint er in der „Herberge zur Heimat“ und Wanderarbeitsstätte in der damaligen Ernst-Weinstein-Straße 17 (heute Gartenstraße 17) untergekommen zu sein. Leider sind die Belegungsbücher dieser Einrichtung nicht mehr vorhanden.
Arbeitslose Wanderer, Wanderarme, Landstreicher, Vagabunden, Nichtseßhafte, Bettler – die Bezeichnungen für wohnsitzlose Menschen waren so vielfältig wie die Ursachen für ihre schlechte soziale Lage. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise waren mehrere hunderttausend Wanderer unterwegs
Eigentlich war in der Weimarer Republik jede Gemeinde verpflichtet, Wohnsitzlose zu versorgen. In den sog. „Herbergen zur Heimat“ und Wanderarbeitsstätten durften diese nur wenige Tage bleiben.
Bereits Mitte Juli 1933 ergriff der Reichspropagandaminister die Initiative für eine umfassende Bekämpfung des sog. „Bettelunwesens“ und ließ entsprechende Pressmitteilungen veröffentlichen. Die Wohlfahrtsverbände Caritas (für die katholische Kirche) und Innere Mission (für die evangelische Kirche) wurden im August 1933 vom Innenministerium über die geplanten Razzien unterrichtet, man war sich der Loyalität dieser Verbände sicher.
Vom 18. -25. September 1933 wurden dann allein in Württemberg fast 5000 Menschen verhaftet und wegen Bettelei und Landstreicherei mit Haft bis zu 6 Wochen bestraft. Viele von ihnen hatten bereits Vorstrafen wegen dieser oder anderer Delikte der Armen wie Diebstahl, Betrug, Prostitution u.ä.
Das offen geäußerte Ziel der nationalsozialistischen Sozial- und Gesundheitspolitik war die sog. „rassische Erneuerung“ des deutschen Volkes. Deshalb sollte der „arische Volkskörper“ von Juden und Zigeuner befreit und Erbkrankheiten und Minderwertige „ausgemerzt“ werden – wie es hieß.
Erklärter Feind waren die nicht oder eingeschränkt Leistungsfähigen. Im Denken der Nazis war der sog. „arbeitsscheue Asoziale“ der Antityp der Volksgemeinschaft. „Asozialität“ sei vererbbar und zeige sich in „asozialen Sippen“, die von der Vermehrung ausgeschlossen werden müssten. In Fachdiskussionen wurden offen Zwangssterilisationen von Wohnungslosen propagiert.
Die Wanderfürsorgeverbände begrüßten das schärfere Vorgehen gegen die Wohnungslosen. Am 27. August 1936 verhängte der württembergische Innenminister den Zwang, ein Wanderbuch mit sich zu führen. Gleichzeitig wurden die Wohnsitzlosen gezwungen, bestimmte sog. Wanderstraßen zu benutzen.
Eine einmalige Gestapo-Aktion im Frühjahr 1938 führte reichsweit zu 2000 Verhaftungen. In der Sommer-Aktion (Juni 1938) griff das Reichskriminalamt zu. Dazu wurden die entsprechenden Erlasse und Richtlinien herausgegeben. Als Ziel sollte in jedem Kriminalpolizei-Leitstellen-Bezirk 200 männliche arbeitsfähige Personen in Vorbeugehaft genommen werden.
In diesen zwei Verhaftungswellen, die als „Aktion Arbeitsscheu Reich“ bezeichnet wurden, verloren Tausende von arbeitslosen Wohnsitzlose, aber auch Sinti und Roma, mittellose Alkoholkranke, Zuhälter und Personen, die mit der Zahlung ihrer Alimente im Rückstand waren, ihre Freiheit. Viele von ihnen waren fassungslos und verstört über ihre plötzliche Verhaftung.
Es waren ganz unterschiedliche Menschen, die von den Nationalsozialisten unter dem Sammelbegriff „Asoziale“ in die KZs verschleppt wurden und dort einheitlich den schwarzen Winkel an die Häftlingskleidung erhielten. Wohnungslose hatten unter ihnen den größten Anteil.
In den Wochen nach diesen Razzien wurde der Umgang mit ihnen in die Verwaltungsroutine vieler Kommunen überführt: missliebige Klienten der Sozialämter wurden offen mit Formularen in Vorbeugehaft der Kripo genommen und von dort in die KZs geschickt. Bis Kriegsende blieb die Kripo – nicht die Gestapo – federführend bei den Verhaftungen der von den Nazis sogenannten „Asozialen“.
Diese Häftlingsgruppe war bis dahin in den KZs unbekannt und bis zu den November-pogromen 1938 gegen die Juden wurde diese Häftlingsgruppe vorrübergehend die größte (Schätzungen zufolge bis zu 70%) in den KZs. Für die SS-Wachmannschaften war diese Häftlingsgruppe bis zum massenhaften Eintreffen der Juden in den KZs auf der untersten Stufe der Häftlings-Hierarchie und wurde von ihnen auch entsprechend behandelt. Unter denen, die bei den württembergischen Aktionen 1938 ins KZ transportiert wurden, waren die meisten gelernte Handwerker oder Fabrikarbeiter – also überwiegend aus dem Arbeitermilieu. Einige wenige wurden wieder aus dem KZ entlassen, unter anderem einer der drei am 27. Juni 1938 in Ludwigsburg Verhafteten. Er wurde am 28.4.1939 anlässlich der Amnestie zum 50. Geburtstag von Hitler wieder aus dem KZ Dachau entlassen. Dies geschah zum Teil, weil sie zum Wehrdienst gebraucht wurden. Andererseits geht man davon aus, dass bei den „Asozialen“ bis zum Beginn des 2. Weltkrieges die höchste Todesrate in der KZs herrschte.
In der Gartenstraße 17 in Ludwigsburg befand sich das Christliche Hospiz bzw. die Herberge zur Heimat mit Wanderarbeitsstätte, die vom Evangelischen Verein Ludwigsburg betrieben wurde.
Personal im „Evangelischen Vereinshaus“ Quelle: Stadtarchiv LB
Dort wurde auch Josef Michelbacher im Zuge der Juni-Razzia der Kriminalpolizei am 27. Juni 1938 verhaftet und mit weiteren 200 aus Württemberg ins KZ Dachau gebracht. Im Eingangsbuch des KZ Dachau ist er mit Haftgrund AZR (= „Arbeitszwang Reich“) und mit Wohnort Ernst-Weinsteinstraße 17 (heute Gartenstraße 17), Ludwigsburg sowie als Beruf Erdarbeiter vermerkt. Er wurde unter der Häftlingsnummer 17586 im Block 14/4 als Neuzugang registriert. Er war nicht verheiratet und katholischer Religionszugehörigkeit.
Als nächstes Dokument liegt uns nur noch unter der Sterberegisternummer 139 die Sterbeurkunde des Hilfsarbeiters Josef Michelbacher vor. In ihr wird als Todesursache am 26. März 1939 um 7.40 Uhr Herz- und Kreislaufschwäche angegeben, eine Todesursache, die vielen KZ-Häftlingen attestiert wurde.
Verwendete Quellen:
Bernt Winter: Die Einwohner von Bedersdorf, Gisingen und Kerlingen vor 1906“, Band 34 der „Quellen zur Genealogie im Landkreis Saarlouis und angrenzenden Gebieten , Saarlouis 2004
Standesamt der Gemeinde Wallerfangen
Verzeichnis der Untersuchungsgefangenen, StALB E 356 d II_Bd 40
Schreibstubenkarten KZ Dachau, 1.1.6.7 / 10708567/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Individuelle Unterlagen KZ Dachau, 1.1.6.2 / 10204379/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Listenmaterial KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9909296/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Individuelle Unterlagen KZ Dachau, 1.1.6.2 / 10204380/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Individuelle Unterlagen KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9931744/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Listenmaterial KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9931919/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Listenmaterial KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9931156/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Listenmaterial KZ Dachau, 1.1.6.1 / 9931158/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Bekämpfung von Bettel und Landstreicherei HStA Stgt PL 413 Bü 294
Bekämpfung des Wanderbettels HStA Stgt PL 413 Bü 80
Verwendete Literatur:
Ayas, Wolfgang: „Ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin“, Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 6, Berlin 1988, S. 43-74
Ayas, Wolfgang: „Asozial“ und „gemeinschaftsfremd“. Wohnungslose in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in: Wohnungslos 3/04
Ayas, Wolfgang: „ Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933 -1945, Koblenz 1998
Ayas, Wolfgang: „Asoziale“ – die verachteten Verfolgten in: Dachauer Hefte 14. „Verfolgung als Gruppenschicksal“, 14. Jg. 1998, Heft 14
Ayas, Wolfgang: Wohnungslose im Nationalsozialismus. Begleitheft zur Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Bielefeld 2007
Hörath, Julia: “Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft – Band 222, Göttingen 2017
Kolata, Jens: Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in Württemberg und Hohenzollern. Eine Verhaftungsaktion aus regionaler Perspektive, in: Becker, Michael/ Bock, Dennis/ Illig, Henrike (Hrsg.): Orte und Akteure im System der NS-Zwangslager, Berlin 2015, S.118 -141
Kolata, Jens: Zwischen Sozialdisziplinierung und „Rassenhygiene“. Die Verfolgung von „Asozialen“, „Arbeitsscheuen“, „Swingjugend“ und Sinti, in: Bauz, Ingrid/Brüggemann, Sigrid/ Maier, Roland (Hrsg.) Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 2013, S.321-337
Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016 , S. 166 – 187
Wikipedia: Geschichte Wallerfangens, https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Wallerfangens#Saargebiet, Abruf 16.11.2020
Karl August Ebel wurde am 8. März 1895 geboren. Seine Geburt wurde im Rathaus Münster, wo damals die Gemeindeverwaltung saß, vom Standesbeamten am 12.3.1895 beurkundet. Karl wuchs als vierter und jüngster Sohn in der Guckelmühle im Laubustal in Weyer in der preußischen Provinz Hessen-Nassau auf. Heute ist Weyer ein Ortsteil von Vilmar im Kreis Limburg-Weilburg. Die hügelige Gegend wird im Norden vom Lahntal, im Süden und Osten vom Taunus und im Westen vom Limburger Becken umrahmt. Weyer gehörte damals zu den reicheren Gemeinden. Am Laubusbach waren aufgrund seines starken Gefälles mehrere Mühlen errichtet worden, u.a. auch die vom Vater Adam Ebel betriebene Guckelmühle.
Zu Zeiten der Geburt von Karl Ebel war dies ein großes Anwesen, zu dem neben der eigentlichen Mühle auch eine Landwirtschaft und eine Bäckerei gehörten. Die Räume im Wohnbereich seien groß gewesen und die Familie galt als wohlhabend. Dies drückt sich auch in einer Anekdote aus, nach der die Mutter Elisabeth Anna, geborene Hasselbach allmorgendlich frisches Kaffeewasser vom Brunnen holen ließ. Die Bäckerei lieferte mit Pferdewagen Brot bis in die Nachbarorte aus und die Weyrer kamen zum Backen ihrer Kuchen in die Guckelmühle. Außerdem war die Mühle auch ein sonntägliches Ausflugsziel.
Karl war gerade erst zehn Jahre alt, als sein Vater 1905 starb. Seine beiden noch lebenden älteren Brüder waren 24 und 27 Jahre. Die Mühle wurde verkauft und nach einer Fotografie aus dem Jahre 1906 (Schriftzug am Haus: „Sommerfrische zur Erholung – Besitzer: Adam Ebel Wwe. – Ausschank alkoholfreier Getränke) wurde das Ausflugslokal durch seine Mutter weiterhin betrieben.
Quelle: Heimatbuch 1200 Jahre Weyer
Zwar hatte Weyer eine bis ins Mittelalter zurückreichende Bergwerkstradition – allein auf der Gemarkung Weyer waren auf 17 Feldern Eisenstein, Dachschiefer, Ton und Buntmetalle gewonnen worden. Aber bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der weitere Abbau zu aufwendig geworden und immer wieder unterbrochen worden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Bemühungen, die Bergwerke in Gang zu bringen und ausbeutbare Gesteinsschichten zu erschließen, eingestellt.
Ab 1840 sind dann etliche Weyrer nach Amerika ausgewandert. Die Einwohnerzahl von Weyer war nach einem Höchststand von fast 1000 im Jahr 1865 bis 1910 auf ca. 750 stark und im Weiteren bis 1930 auf ca. 700 abgesunken. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage in der Landwirtschaft, die die Wirtschaft dominierte, wanderten viele Menschen aus Weyer ins Ruhrgebiet aus. Neben der Landflucht trugen auch die Folgen des Ersten Weltkrieges zu dieser Abwanderung bei.
Karl Ebel hat im 1. Weltkrieg ab 18.08.1914 als Unteroffizier gekämpft. Als Soldat der 1. Ersatzkompanie Pionierbataillon 16 Metz, 28. Reserve Division ist von ihm ein Aufenthalt im Kriegslazarett 34 in Sedan Station Colbert III vom 12.05. bis 22.07.1918 registriert. Danach wurde bis zum 31.07.1918 ins Kriegslazarett nach Caquettes/Sedan verlegt und anschließend als „kriegsverwendungsfähig“ wieder zur Truppe entIassen. Nach Kriegsende hat der Kaufmann Karl Ebel irgendwann sein Heimatdorf Weyer verlassen. Was dazu der Auslöser war, lässt sich nicht mehr ermitteln.
Gesichert ist, dass es Karl August Ebel nach Württemberg zog; allerdings blieb er nie lange an einem Ort. Er war vom 19. August 1930 bis zum 17. Februar 1932 als Kaufmann und Fotograf in Ebingen in der Langestraße 36 im III. Stock gemeldet. Allerdings ist er bereits ab 4. Februar 1932 aus Ebingen kommend in Ludwigsburg in die Leonberger Straße 32 gemeldet, wo in der damaligen Zeit wohl ein Übernachtungsheim für Ledige war. Möglicherweise war er bereits von Ebingen nach Ludwigsburg abgereist, als ihn sein Vermieter abgemeldet hatte. Bereits am 16.2.1932 meldete er sich von Ludwigsburg nach Stuttgart ab. Die nächste Anmeldung in Ludwigsburg ist „aus (Stuttgart-)Cannstatt kommend“ am 1. Februar 1936 in der Hospitalstraße 17. Günstige Übernachtungsmöglichkeiten gab es zu dieser Zeit in Stuttgart in der „Herberge zur Heimat“ und Wanderarbeitsstätte in der Tunzhoferstr.8 sowie die Volksgaststätte Reeffhaus, „Herberge und Ledigenheim“ in der Gerberstr. 2A und B. In Bad Cannstatt betrieb der CVJM eine Gaststätte und Herberg „Wartburg“ in der Brunnenstraße 49. Die Meldekarteien im Stadtarchiv Stuttgart, die ggf. darüber Auskunft geben könnten, sind aufgrund der massiven Bombenschäden im 2. Weltkrieg größtenteils vernichtet worden. Unter den wenigen noch vorhandenen ist Karl Ebel nicht verzeichnet.)
Am 8. August 1936 erfolgte die Abmeldung von Karl Ebel in Ludwigsburg mit dem Vermerk: „neuer Wohnort unbekannt“. Am 26. 3.1937 starb seine Mutter Elisabeth in Weyer. Einen Monat später war er laut Eintrag des Gerichtsgefängnisses Ludwigsburg wegen Hausfriedensbruch vom 21. 4. bis 5.5.1937 „nachmittags um 14.55 Uhr“. in Untersuchungshaft. Am 7. 7.1937 war er offiziell „von Reisen“ zurück in Ludwigsburg und wohnte wieder in der Leonberger Straße 32 bis zum 26. Oktober. Dann meldete er sich endgültig mit unbekanntem Wohnsitz ab.
Am 27. Juni 1938 wurde Karl Ebel unter der Häftlings-Nr. 17564 im KZ Dachau registriert und im Block 17/B untergebracht. Weitere 200 Mithäftlinge, überwiegend aus Süddeutschland, kamen an diesem Tag nach Dachau. Als Haftgrund wurde >AZR< (=„Arbeitszwang Reich“) bzw. >AZRJ< (= „Arbeitszwang Reich, Jude“) vermerkt, nur vier Personen waren sog. Schutzhäftlinge. Außer Karl Ebel wurden an diesem Tag in Ludwigsburg mindestens zwei weitere ledige Männern verhaftet: Georg Bärthlein, ein 30jähriger Maler und Anstreicher sowie Josef Michelbacher, ein 32 jähriger Erdarbeiter. Bei allen drei ist als Verhaftungsgrund AZR vermerkt und als letzter Wohnort Ludwigsburg, Ernst-Weinstein-Straße 17 – wie die Gartenstraße ab 1936 nach einem in Stuttgart erschossenen NS-Veteranen umbenannt wurde.
Quelle: Stadtarchiv LB
In diesem Gebäude war am 1. Oktober 1909 in der „Herberge zur Heimat“ eine sog. „Wanderarbeits-stätte“ eröffnet worden. Sie diente mittellosen Wanderern als Übernachtungsmöglichkeit. Wer keine Ausweispapiere hatte, wurde ins sog. Spital in der Talstraße verwiesen (das Gebäude ist heute Sitz der AWO). Wer nicht arbeiten konnte oder wollte, musste die Herberge nach 2 Übernachtungen wieder verlassen. 1925 wurde der Neubau des Hintergebäudes beschlossen und im 1. Stock desselben ein Christliches Hospiz (Hotel mit Gaststätte) mit 10 Zimmern und 18 Betten eingerichtet. Außerdem wurde ein „Kosttisch“ für 60-70 Menschen und in der Herberge zur Heimat 40 Betten bereitgehalten, was vom Evangelischen Verein Ludwigsburg betrieben wurde. Dem Verein wurde der Vertrag zur Wanderarbeitsstätte vom Kreis zum 1.4.1938 gekündigt und es war vorgesehen, die Wanderarbeitsstätte ins Obdachlosenheim zu verlegten. Hier hatten im April 1938 noch 92 Wanderer mit 145 Verpflegungstagen übernachtet.
Im Stadtarchiv Ludwigsburg findet sich statt der Meldekartei in der Gartenstraße 17 nur einen Handzettel mit der Aufschrift „siehe besonderer Ringordner“ – und dieser Ringordner wurde wohl bei Übergabe der Kartei ans Stadtarchiv von niemand als archivwürdig erkannt, so dass heute die konkrete Belegung der Gartenstraße 17 nicht mehr nachvollziehbar ist.
Arbeitslose Wanderer, Wanderarme, Landstreicher, Vagabunden, Nichtseßhafte, Bettler – die Bezeichnungen für wohnsitzlose Menschen waren so vielfältig wie die Ursachen für ihre schlechte soziale Lage. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise waren mehrere hunderttausend Wanderer unterwegs
Eigentlich war in der Weimarer Republik jede Gemeinde verpflichtet, Wohnsitzlose zu versorgen. Bereits Mitte Juli 1933 ergriff der Reichspropagandaminister die Initiative für eine umfassende Bekämpfung des sog. „Bettelunwesens“ und ließ entsprechende Pressmitteilungen veröffentlichen. Die Wohlfahrtsverbände Caritas (für die katholische Kirche) und Innere Mission (für die evangelische Kirche) wurden im August 1933 vom Innenministerium über die geplanten Razzien unterrichtet, man war sich der Loyalität dieser Verbände sicher.
Vom 18. -25. September 1933 wurden dann allein in Württemberg fast 5000 Menschen verhaftet und wegen Bettelei und Landstreicherei mit Haft bis zu 6 Wochen bestraft. Viele von ihnen hatten bereits Vorstrafen wegen dieser oder anderer Delikte der Armen wie z.B. Diebstahl, Betrug, Prostitution.
Das offen geäußerte Ziel der nationalsozialistischen Sozial- und Gesundheitspolitik war die sog. „rassische Erneuerung“ des deutschen Volkes. Deshalb sollte der „arische Volkskörper“ von Juden und Zigeuner befreit und Erbkrankheiten und Minderwertige „ausgemerzt“ werden – wie es hieß.
Erklärter Feind waren die nicht oder eingeschränkt Leistungsfähigen. Im Denken der Nazis war der sog. „arbeitsscheue Asoziale“ der Antityp der Volksgemeinschaft. „Asozialität“ sei vererbbar und zeige sich in „asozialen Sippen“, die von der Vermehrung ausgeschlossen werden müssten. In Fachdiskussionen wurden offen Zwangssterilisationen von Wohnungslosen propagiert.
Die Wanderfürsorgeverbände begrüßten das schärfere Vorgehen gegen die Wohnungslosen. Am 27. August 1936 verhängte der württembergische Innenminister den Zwang, ein Wanderbuch mit sich zu führen. Gleichzeitig wurden die Wohnsitzlosen gezwungen, bestimmte sog. Wanderstraßen zu benutzen.
Basis dafür war der „Grundlegende Erlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ (14.12.1937). Am 4.4.1938 hatte das Reichskriminalpolizeiamt eine detaillierte Definition der Personengruppe „Asoziale“ vorgelegt. Das wäre z.B. ein Mensch der „gemeinschaftswidrig […] sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will“, wie z.B. „Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollten“. Explizit wurden u.a. Personengruppen wie Bettler, Landstreicher und Menschen ohne festen Wohnsitz benannt. Daraufhin führte die Gestapo eine erste, kleinere Razzia im Frühjahr 1938 durch.
Diese einmalige Gestapo-Aktion führte reichsweit zu 2000 Verhaftungen. In der Sommer-Aktion (Juni 1938) griff das Reichskriminalamt zu. Am 1.6.1938 sandte Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei (Kripo und politische Polizei) einen streng vertraulichen Schnellbrief an die Kriminalpolizeileitstellen des Reiches. Darin erklärte er, dass jede von ihnen vom 13.-18.6.1938 „mindestens 200 männliche arbeitsfähige Personen (asoziale) in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen“ habe, wobei u.a. Personen, die durch Straftaten wie Hausfriedensbruch aufgefallen waren, ausdrücklich benannt wurden. Diese zweite, reichsweite Aktion durch die Kriminalpolizei wurde im Juni 1938 durchgeführt, wobei Kriminalpolizeibeamte meist in den frühen Morgenstunden Nachtasyle oder Herbergen zur Wanderfürsorge durchsuchten.
In diesen zwei Verhaftungswellen, die als „Aktion Arbeitsscheu Reich“ bezeichnet wurden, verloren Tausende von arbeitslosen Wohnsitzlose, aber auch Sinti und Roma, mittellose Alkoholkranke, Zuhälter und Personen, die mit der Zahlung ihrer Alimente im Rückstand waren, ihre Freiheit. Viele von ihnen waren fassungslos und verstört über ihre plötzliche Verhaftung.
Es waren ganz unterschiedliche Menschen, die von den Nationalsozialisten unter dem Sammelbegriff „Asoziale“ in die KZs verschleppt wurden und dort einheitlich den schwarzen Winkel an die Häftlingskleidung erhielten. Wohnungslose hatten unter ihnen den größten Anteil. Da die drei in der Gartenstraße 17 Verhafteten bereits mit NS-Gesetzen in Konflikt geraten waren, ist davon auszugehen, dass die Verhaftungen im Rahmen sogenannten Aktion „Arbeitsscheu Reich/Asoziale“ 1938 durchgeführt wurden.
In den Wochen nach diesen Razzien wurde der Umgang mit ihnen in die Verwaltungsroutine vieler Kommunen überführt: missliebige Klienten der Sozialämter wurden offen mit Formularen in Vorbeugehaft der Kripo genommen und von dort in die KZs geschickt. Bis Kriegsende blieb die Kripo – nicht die Gestapo – federführend bei den Verhaftungen der von den Nazis sogenannten „Asozialen“.
Diese Häftlingsgruppe war bis dahin in den KZs unbekannt und bis zu den November-pogromen 1938 gegen die Juden wurde diese Häftlingsgruppe vorrübergehend die größte (Schätzungen zufolge bis zu 70%) in den KZs. Für die SS-Wachmannschaften war diese Häftlingsgruppe bis zum massenhaften Eintreffen der Juden in den KZs auf der untersten Stufe der Häftlings-Hierarchie und wurde von ihnen auch entsprechend behandelt. Unter denen, die bei den württembergischen Aktionen 1938 ins KZ transportiert wurden, waren die meisten gelernte Handwerker oder Fabrikarbeiter – also überwiegend aus dem Arbeitermilieu. Einige wenige wurden wieder aus dem KZ entlassen, unter anderem Georg Bärthlein, einer der drei am 27. Juni 1938 in Ludwigsburg Verhafteten. Er wurde am 28.4.1939 anlässlich der Amnestie zum 50. Geburtstag von Hitler wieder aus dem KZ Dachau entlassen. Dies geschah zum Teil, weil sie zum Wehrdienst gebraucht wurden. Andererseits geht man davon aus, dass bei den sogenannten „Asozialen“ bis zum Beginn des 2. Weltkrieges die höchste Todesrate in der KZs herrschte. Die Hauptursachen dafür waren Hunger, Erfrieren, Erschießen oder Folgen von Mißhandlungen.
Nach der Aufnahme im KZ Dachau findet sich die nächste Spur von Karl August Ebel in der Zu/Abgangsstelle des KZ Mauthausen, das nahe der Stadt Linz in Österreich liegt. Hierhin wurde Karl August Ebel überführt und am 9. Mai 1939 mit der Häftlingsnummer 1271 registriert. Das KZ Mauthausen war neben Flossenbürg im Sommer 1938 als neues Konzentrationslager gegründet und errichtet worden. Beide dienten dazu, die für die geplanten „Führerbauten“ notwendigen Stein- und Tonmengen aus den Steinbrüchen zu liefern. In Mauthausen (und im Nebenlager Gusen) waren Granitsteinbrüche. Zwangsarbeit in Steinbrüchen galt als besonders schwere Strafe und deshalb sollten vorbestrafte und „asoziale“ Insassen in die KZs mit den schlimmsten Arbeitsbedingungen geschickt werden. Mauthausen war ein Konzentrationslager der Kategorie III, das bedeutete Vernichtung durch Arbeit. Die Ernährung in Mauthausen bestand aus: 0,5 Liter Ersatzkaffee (schwarz, ohne Zucker), selten die gleiche Menge Extraktsuppe am Morgen – 1 Liter Steckrübeneintopf (=Futterrüben, etwas Kartoffeln und angeblich 25 g Fett und Fleisch) mittags und 330 g Brot und 250 g Wurst, selten statt der Wurst 250 g Margarine. Damit hatte das Essen etwa 1450 Kalorien – bei der schweren körperlichen Arbeit im Steinbruch wären 4500 Kalorien notwendig gewesen.
Am Sonntag, den 24.9.1939 um 7.15 Uhr starb der Häftling Karl Ebel im Konzentrationslager Mauthausen – einer von 28, die in diesem September im KZ Mauthausen starben. Der diensthabende SS Obersturmführer Dr. Becker führte die Leichenschau durch: Karl Ebel soll an einer eitrigen Bronchitis und doppelseitigen Lungenentzündung gelitten haben, bis er an einem Lungenabszess starb. Laut Totenschein war er ledig, evangelisch, 34 Jahre und sechs Monate alt. Tatsächlich wurde Karl August Ebel, der am 8.3.1895 geboren wurde, allerdings 44 Jahre alt.
Nach den medizinischen Angaben des KZ-Arztes hätte Karl Ebel nur kurze Zeit später, nämlich ab Mitte Juli gesundheitliche Probleme gehabt. „Tod durch Arbeit“ war das Ergebnis der unmenschlichen mörderischen Arbeit in den nahegelegenen Steinbrüchen des KZ.
Verwendete Quellen:
Standesamt Gemeinde Selters (Taunus)
Standesamt Münster Geburtsnebenregister 1895, HStAM, Bestand 912, Nr.4362
Standesamt Münster, Sterbenebenregister 1905, HStAM Bestand 912, Nr. 4456
Bundesarchiv Bestand B578 Krankenbuchlager, B578/46670, S. 097 und B578/46686, S. 009
Adressbücher mehrere Jahrgänge und Meldekartei, Stadtarchiv Ludwigsburg
Meldekartei, Stadtarchiv Albstadt
Adressbücher mehrere Jahrgänge ,Stadtarchiv Stuttgart
Verzeichnis der Untersuchungsgefangenen, StALB E 356 d II_Bd 40
Oberamt Ludwigsburg, StALB PL413, Bü 33
Bekämpfung von Bettel und Landstreicherei, 1913-1937, StALB PL 413, Bü 294
Oberamt Ludwigsburg (in Ludwigsburg), PL 413, Bü 33
Regelung des Wandererwesens 1936 -1944, HStA Stgt E 151(09, Bü 481
Bekämpfung von Bettel und Landstreicherei HStA Stgt PL 413 Bü 294
Bekämpfung des Wanderbettels HStA Stgt PL 413 Bü 80
Innenministerium, Abteilung III: Polizeiwesen, HStA Stgt E 151/03, Bü 590
Datenbank Auszug, KZ-Gedenkstätte Dachau
Schreibstubenkarte KZ Dachau, 1.1.6.7/10636495/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Listenmaterial KZ Dachau/Zugangsbuch, 1.1.6.1./ 9892433/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Listenmaterial KZ Dachau/Überstellung nach KZ Mauthausen, 1.1. 6.1/9913067/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen. und 1.1. 6.1/9913068/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Listenmaterial KZ Mauthausen, 1.1. 26.1/1292078/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Individuelle Unterlagen KZ Mauthausen, 1.1.26.3 / 1426213/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Listenmaterial KZ Mauthausen, 1.1.26.1 / 990774901/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Listenmaterial KZ Mauthausen / Totenbuch, 1.1.26.1 / 1289173/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Leichschauschein Individuelle Unterlagen KZ Mauthausen, 1.1.26.3/1426214/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
Verwendete Literatur:
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Ayas, Wolfgang: „Asozial“ und „gemeinschaftsfremd“. Wohnungslose in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in: Wohnungslos 3/04
Ayas, Wolfgang: „ Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933 -1945, Koblenz 1998
Ayas, Wolfgang: „Asoziale“ – die verachteten Verfolgten in: Dachauer Hefte 14. „Verfolgung als Gruppenschicksal“, 14. Jg. 1998, Heft 14
Ayas, Wolfgang: Wohnungslose im Nationalsozialismus. Begleitheft zur Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Bielefeld 2007
Erhardt, Klaus Dieter: Die Mühlen in Weyer in: (Red. Karl Ludwig Bleicher … ) Zsgst. Vom Ausschuß für Historie, Öffentlichkeitsarbeit und Presse Weyer: Heimatbuch zur 1200 Jahrfeier, S. 201 ff
Hörath, Julia: “Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft – Band 222, Göttingen 2017
Klum-Roth, Dorothee: Einwohnerzahlen und Bevölkerungsentwicklung in Weyer in: (Red. Karl Ludwig Bleicher … ) Zsgst. Vom Ausschuß für Historie, Öffentlichkeitsarbeit und Presse Weyer: Heimatbuch zur 1200 Jahrfeier, S.58 ff
Kolata, Jens: Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in Württemberg und Hohenzollern. Eine Verhaftungsaktion aus regionaler Perspektive, in: Becker, Michael/ Bock, Dennis/ Illig, Henrike (Hrsg.): Orte und Akteure im System der NS-Zwangslager, Berlin 2015, S.118 -141
Kolata, Jens: Zwischen Sozialdisziplinierung und „Rassenhygiene“. Die Verfolgung von „Asozialen“, „Arbeitsscheuen“, „Swingjugend“ und Sinti, in: Bauz, Ingrid/Brüggemann, Sigrid/ Maier, Roland (Hrsg.) Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 2013, S.321-337
Österreichische Lagergemeinschaft Mauthausen: Kurzgeschichte der Konzentrationslager Mauthausen und seiner drei größten Nebenlager Gusen, Ebensee und Melk, Wien o.J.
Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bonn 2016 , S. 166 – 187
Weinmann, Martin (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem (CCP), Frankfurt 1990, S. 375
Wolter, Karl Dietrich: Bergbau in der Gemarkung Weyer in : (Red. Karl Ludwig Bleicher … ) Zsgst. Vom Ausschuß für Historie, Öffentlichkeitsarbeit und Presse Weyer: Heimatbuch zur 1200 Jahrfeier, S. 30 ff
Lina Peukert, geborene Bauer, wurde am 1. November 1887 in Neuenhaus geboren. Neuenhaus ist seit einer Gemeindereform von 1975 ein Stadtteil von Aichtal und liegt im Landkreis Esslingen. In den meisten Akten und Ämtern wird sie offiziell mit dem kurzen Namen Lina geführt. Ihr voller Name ist allerdings Karoline Friederike Peukert.
Sie war das jüngste von 12 Kindern der Familie. 5 Kindern sind schon „klein“ gestorben. Ihre Eltern waren Marie Katharine, geborene Schlecht und Ernst Ludwig Bauer. Von Beruf war er Wirt. Nachdem sie 14 Jahre alt war, arbeitete Lina Peukert in der Wirtsfamilie. Sie war wohl sehr fleißig und arbeitete viel und gut. Auch in der Schule zuvor sei sie fleißig und eine gute Schülerin gewesen. Bis zu ihrer psychischen Erkrankung 1935 war sie nach eigener und den Angaben ihrer Tochter Emilie beim Aufnahmegespräch in Weinsberg gesund, robust und hatte nur selten mal Erkrankungen (grippale Infekte…). Allerdings hatte sie 1933 eine Einweisung ins Ludwigsburger Krankenhaus aufgrund einer Basedow´sche Erkrankung mit starkem Gewichtsverlust (Autoimmunerkrankung der Schilddrüse). Zudem hatte ihr auch schon 1932 Herr Dr. Welsch vom Bezirkskrankenhaus Ludwigsburg bescheinigt, dass sie eine akute Nervenschwäche hätte und deshalb keiner Arbeit nachgehen könne.
Lina heiratete am 14. Januar 1913 den Friseur Adolf Peukert. Bereits vor der Hochzeit am 11. Dezember 1912 bekamen sie ihre gemeinsame Tochter Emilie. Lina brachte allerdings ein Kind schon mit in die Beziehung mit Adolf. Der Vater dieses Kindes ist mir unbekannt. Emilie hatte also eine ältere Halbschwester die wie ihre Mutter Lina hieß. Auch hier wir in den meisten Akten dieser Kurzname behördlich geführt. Der vollständige Name ist eigentlich Georgine Karoline. Sie wurde am 19. Mai 1911 geboren.
Linas Mann Adolf kam aus Reichenberg, dem heutigen Liberec in Nordböhmen und wurde am 11. Dezember 1893 geboren. Die Stadt gehörte nach dem 1. Weltkrieg zur Tschechoslowakei. Durch den Friedensvertrag von Trianon vom 4. Juni 1920 akzeptierte die vormalige Realunion und Doppelmonarchie Ostereich-Ungarn diesen Gebietsverlust nach dem verlorenen Krieg endgültig. Adolf Peukert wurde tschechoslowakischer Staatsbürger. Durch die Ehe war nun auch Lina Peukert keine deutsche Staatsbürgerin mehr und zumindest auch ihre Tochter Emilie bekam die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. Von Emilies Halbschwester ist mir die Staatsbürgerschaft in dieser Zeit nicht bekannt.
Der 1. Weltkrieg brachte sehr viel Unglück in das Leben der Familie und diese Erfahrungen wurden als Hauptursache für die spätere psychische Erkrankung von Lina angenommen. 1 Schwester von ihr ist 39 jährig in den Kriegsjahren 1914 – 1918 an Unterernährung und Erschöpfung gestorben. Ihr Mann musste in den Krieg. Er kam wohl 1916 in russischer Kriegsgefangenschaft und kam erst 1919 zurück. Bereits 1912 ist die Familie wohl zunächst nach Osweil gezogen und 1917 dann nach Ludwigsburg. Der Grund für den Wegzug aus Neuenhaus ist mir unbekannt. In den Kriegsjahren war Lina alleine mit den 2 Kindern auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das änderte sich in den Folgejahren dann bei Lina auch nicht mehr.
Vor dem 1. Weltkrieg sei die Ehe von Lina und Adolf gut gewesen. Ihr Mann verkraftete aber sein erlebtes Leid nicht. Er sei nach seiner Rückkehr 1919 nun nervös gewesen, behandelte seine Familie schlecht, beschimpfte diese oft und sorgte nicht für sie. Er konnte offensichtlich auch keiner regelmäßigen Arbeit mehr nachgehen. In Ludwigsburg hatte er immer wieder nur ganz kurze Anstellungen. Unter anderem beim städtischen Tiefbauamt oder aber auch mal 3 Wochen bei der Buchhandlung Aigner. Er war arbeitslos und verließ die Familie endgültig am 16. Januar 1926. Nun ging Adolf in mehrere Länder (u.a.Österreich, Schweiz, Italien). 1928 wurde die Ehe geschieden. Der Mann bekam sein Leben nicht mehr in den Griff, er starb 1929 „abgestürzt“.
Die Peukerts wohnten in Ludwigsburg in unterschiedlichen Mietwohnungen. Zuerst in der Bärenstraße 5, anschließend in der Lindenstraße 36 und danach in der Talstraße 24. Am 17. April 1923 zog man dann in die Mörikestraße 2 in ein großes Mietshaus. Die Wohnung lag später dann in der Nähe der Arbeitsstätte der Tochter Emilie und man zog deshalb auch nicht mehr um. Diese war Kontoristin / kaufmännische Angestellte. 1927 arbeitete Emilie zunächst bei der Wilhelm Bleyle oHG, allerdings in Stuttgart und nicht in der Ludwigsburger Zweigstätte. Ihr anschließender Arbeitgeber war dann die Metallwarenfabrik Wagner & Keller in Ludwigsburg.
1935 erkrankte Lina Peukert. Ihre älteste Tochter war zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet, lebte in Frankfurt am Main und hieß nun Karoline Glasbrenner. Mit ihrem Ehemann Albert bekam sie am 30. Juli 1933 eine Tochter.
Lina Peukert hatte Angstzustände, war selbstmordgefährdet und wurde daran gehindert, sich von einem Zug überfahren zu lassen. Zunächst war sie im Ludwigsburger Krankenhaus. Dort lief sie davon und war dann wieder zuhause. Sie schlief vor Angst nur im Bett ihrer Tochter Emilie und war auch mal bei Bekannten untergebracht. In ihrer Angst suchte sie auch Kontakt zu Emilie während derer Arbeitszeit. Emilie ging mit ihr dann zur Aufnahme nach Weinsberg. Für die Tochter war die Situation belastend. Ihrer Mutter ging es sehr schlecht und ihr Arbeitgeber verlangte keine Störungen während ihrer Arbeitszeit.
In der Heilanstalt Weinsberg wurde sie am 25. Februar 1935 eingewiesen. Der Hausarzt Dr. med. M. Grubel befürwortete mit Schreiben vom 24. Februar 1935 die Aufnahme in einer Heilanstalt aufgrund „Selbstmordgedanken“ und „Irresein“. Lina Peukert wollte das eigentlich nicht. Sie unterschrieb mit vielem Zureden die Einweisung. In den nächsten Jahren war sie immer wieder auch von Heimweh geplagt und wollte wieder nach Hause. Lina Peukert hatte blaue Augen, braune Haare, war 1,57 m groß und wog bei der Einweisung 54 Kg. Bei ihrer Entlassung aus Weinsberg 1939 wog sie 8 kg mehr und hatte inzwischen auch eine Brille.
Lina Peukert bekam Schizophrenie diagnostiziert. In den nächsten Jahren hörte sie immer wieder Stimmen, hatte Wahnvorstellungen, fühlte sich verfolgt und hatte dadurch auch an Angstzuständen gelitten. Sie war oftmals unruhig und gereizt und hatte Aggressionen in den Weinsberger Jahren. Phasenweise zog sie sich auch zurück und kam nicht aus dem Bett. In Weinsberg hatte sie häufig über das Essen geschimpft. In guten Phasen hatte sie sich in Weinsberg aber auch an der Hausarbeit beteiligt. Lina Peukert beschäftigte sich dort zudem gerne mit Handarbeiten und fühlte sich im Garten wohl. In schlechten Momenten haute sie durch diesen mehrmals ab und wurde im Ort verwirrt gefunden.
Insgesamt hat sich ihr Zustand in Weinsberg leider nicht verbessert.
Am meisten Freude bereitete ihr der Kontakt zu den Angehörigen. Vor allem ihre Tochter Emilie kümmerte sich sehr fürsorglich um sie. Ihr Handeln hatte Emilie zudem, um das Wohl ihrer Mutter, häufig mit der Anstaltsleitung abgeglichen. So fragte sie in vielen Postkarten, ob es gut ist, wenn sie ihre Mutter besuchen kommt oder ob es ihrer Mutter nicht schadet, wenn sie ihr jede Woche Briefe schreibt. Die Verantwortlichen von Weinsberg zeigten sich dabei immer sehr kooperativ und genehmigten auch Besuche außerhalb der Besuchszeiten. Für Linas Lebensqualität war wohl der Kontakt zu den Angehörigen am wichtigsten und bot ihr am meisten Halt.
Sie selbst schrieb deshalb auch viele Briefe. Manchmal hatten diese verwirrte Inhalte. Immer wieder äußerte sie in diesen Briefen den Wunsch, dass man sie doch bitte aus der Einrichtung nehme, weil sie doch grundlos hier sein müsse. Dies hatte dann mehrmals besorgte Briefe von Angehörigen an die Leitung zu folge. Verständnisvoll erklärte diese dann zum Beispiel einer Schwägerin aus Neuenhaus oder auch der älteren Tochter in Frankfurt, dass man Lina keineswegs mit gutem Gewissen in die Obhut von Verwandten entlassen könne. Ihre Tochter Lina Glasbrenner in Frankfurt verhandelte sogar auch Anfang 1937 mit dem Ludwigsburger Fürsorgeamt. Für eine Reichsmark täglich könnte sie in ihrer Frankfurter Wohnung sich um ihre Mutter kümmern. Da die Unterbringung in Weinsberg fast das Dreifache kostete, hatte das Fürsorgeamt auch nichts dagegen. Allerdings die Heilanstalt Weinsberg. Diese argumentierte, dass dies nicht zu verantworten sei und Lina Peukert blieb dann dort. Lina Glasbrenner wollte damit gut gemeint dem Wunsch ihrer Mutter nachkommen. Zudem war sie aus der Ferne sicherlich auch besorgt. Ihre Halbschwester Emilie, bisher engster Kontakt der Mutter, war nämlich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Deutschland..
Sicherlich nicht einfach für Lina Peukert war nämlich, dass Emilie heiratete und nach New York zog. Aus Fräulein Emilie Peukert wurde Mrs. Emily Jordan. Bis zum Wegzug war die jüngere Tochter die wichtigste Bezugsperson, welche sich am meisten um Lina kümmerte und sie am häufigsten besuchte. Nun hatten die beiden nur noch Briefkontakt und die Post aus Ludwigsburg kam sicherlich vor dem Umzug auch bedeutet schneller als aus Übersee. Vielleicht wurden auch deshalb ungefähr ab dieser Zeit Linas gute Zeiten immer weniger. Emily hatte den in Dublin am 16. Juni 1904 geborenen deutschen Staatsbürger Friedrich Jordan geheiratet. Erst über Calw und dann in Spaichingen wohnend, zog er am 29. Oktober 1936 mit in die Ludwigsburger Wohnung in der Mörikestraße 2. Am 3. Dezember 1936 war Hochzeit und am 31. Dezember 1936 zog der 8 Jahre ältere Notariatspraktikant mit seiner frisch vermählten Ehefrau nach New York.
In den Weinsberger Jahren zeigte sich der Nazi-Terror bei den Peukerts in unterschiedlichen Facetten. Bereits seit 1934 bemühte sich Emilie Peukert um die deutsche Staatsbürgerschaft. 1935 wurde ihr diese und ihrer Mutter verwehrt. Oberamtsarzt Holzapfel stellte einen negativen Befund aufgrund der psychiatrischen Behandlung von Lina Peukert aus. Der Nazi-Staat befürchtete den Einfall von erbkranken Menschen in den deutschen Volkskörper. Fassungslos schilderte Emilie Peukert in einem Brief an die Weinsberger Leitung die Ablehnung ihres Antrags durch den Nazi-Staat. Was könne den ihre Mutter und sie dafür, dass der erste Weltkrieg so viel Unglück über sie erbrachte. Dies habe doch ihre Mutter krank gemacht und sie selbst sei es ja überhaupt nicht. Zudem sei sie und ihre Mutter noch nie in der Tschechoslowakei gewesen. Sie könnten auch die Sprache nicht.
Zudem machte Nazi-Deutschland eine vertragliche Vereinbarung am 8. Februar 1936 mit der Tschechoslowakei. Tschechoslowakische Staatsbürger/innen müssten, wenn eine dauerhafte Anstaltsbehandlung zu erwarten sei, ausgewiesen werden. 1937 wies das Städtische Fürsorgeamt Ludwigsburg darauf hin, dass diese Regelung für Menschen mit körperlichen und geistigen Gebrechen gelte. Eine Ausnahme könne aber gemacht werden, wenn die Unterbringung lediglich altersbedingte Gründe hätte. Ob dies denn nicht vielleicht bei Lina Peukert zutreffen würde. Sie wäre doch schließlich schon 50 Jahre alt. Diesen vermutlich gutgemeinten Wink mit dem Zaunpfahl griff Weinsberg allerdings nicht auf. Der dortige Obermedizinalrat bescheinigte nach der Ludwigsburger Anfrage, dass ihre Geisteskrankheit keineswegs als Alterserscheinung aufzufassen wäre und zudem mit dauernder Anstaltspflege zu rechnen sei.
Der Ludwigsburger Oberbürgermeister Karl Frank beantragte nun am 29. September 1937 die Ausweisung aus Deutschland von Lina Peukert beim Landrat. Dieser widersetzte sich der Ausweisung, auch wenn diese seiner Ansicht nach formell richtig wäre. Er argumentierte in einem Schreiben an den Oberbürgermeister vom 2. November 1937, dass Lina Peukert „blutmäßig Deutsche“ sei. Nur durch eine unglückliche Regelung im Friedensvertrag von Trianon sei sie „Tschechin“ geworden. Seiner Meinung nach müsste bei einer Deutschstämmigen die hilfsbedürftig wird, der Gedanke der Volksgemeinschaft Gestalt gewinnen. Die Verpflichtung Volksdeutscher fremder Staatsangehörigkeit wäre doch als selbstverständlich gesetzt. Umgekehrt sei seiner Meinung nach dann aber die Volksgemeinschaft gegenüber „in Not geratenen Gliedern“ auch anzuerkennen. Erst recht im Falle von Lina Peukert. Sie hätte sich doch auch schon 1928 scheiden lassen. Offensichtlich hatte der Landrat hier moralisch und ideologisch etwas andere Ansichten als der nationalsozialistische Staat. Dieser wollte ja alles „Schwache“ und „Kranke“ zum Wohle des „Deutschen Volkskörper“ ausmerzen. Dieser ideologische Wahnsinn ermöglichte ja Grafeneck 1940.
Zwei Jahre vor der von Karl Frank versuchten Ausweisung Lina Peukerts, 1935, kam die Anfrage vom Oberamtsarzt aus Ludwigsburg nach Weinsberg, ob man die damals 48 jährige Lina Peukert nicht doch auch noch zwangssterilisieren müsste. Die Nazis wollten bei ihrem Terror nach Innen doch möglichst gründlich sein und offensichtlich gab es hierfür entsprechend willige Beamte. Weinsberg bescheinigte hier aber zugunsten von Lina Peukert.
Zudem bereite der Tochter Emilie Peukert 1935 ein zu erwartendes neues Erbtauglichkeitsgesetz Sorgen. Die Fülle an menschenverachtenden Verordnungen und Gesetze, welche die Nazis immer schneller voran trieben, waren nicht so leicht zu durchschauen und zu verstehen. Sie hatte Angst, dass sie unter dieses bald zu erwartende Gesetz falle. Kurz vor dem zu erwarteten Herauskommen eines solchen Gesetzes, wendete sie sich mit einem Brief am 4. November 1935 an einen Weinsberger Arzt. Dieser antwortete ihr verständnisvoll, dass das Gesetz wohl keine Auswirkungen auf sie haben werde. Seiner Ansicht nach werde dies nicht für Töchter von Betroffenen gelten. Zudem sei die Mutter ja eigentlich nicht erbkrank. Es gäbe andere Faktoren für den Ausbruch der psychischen Erkrankung der Mutter und nach einer wissenschaftlichen Statistik seien nur 0,8 – 1 Prozent der Kinder von schizophren Erkrankten ebenfalls von dieser Krankheit betroffen. Es gab offensichtlich Ärzte in Weinsberg, die sich nicht von der Ideologie der Nazis vollständig vereinnahmen ließen. Wie die Geschichte leider in zig Fällen aber zeigte, ließen und lassen sich Nazis leider meistens nicht mit Argumenten und Fakten überzeugen.
Am 2. Januar 1939 werden die älteste Tochter Lina Glasbrenner und das Städtische Fürsorgeamt Ludwigsburg informiert, dass auf Veranlassung des Innenministeriums Lina Peukert in die Staatliche Heilanstalt Zwiefalten versetzt werden sollte. Das Schreiben wurde an die Frankfurter Adresse von Lina Glasbrenner versendet. Die Familie Glasbrenner ist wohl schon ca. 1937 nach Kiel umgezogen. Dem Fürsorgeamt Ludwigsburg war aber auch dieser Umzug aber erst Mitte 1939 bekannt. Es wollte überprüfen, ob Lina Glasbrenner vielleicht nicht inzwischen für ihre Mutter aufkommen müsste und machte sie für das Ausfüllen eines Fragebogens in der Lange Straße 36 im Kieler Stadtteil Friedrichtsort ausfindig.
Eine Begründung für die Versetzung von Lina Peukert nach Zwiefalten konnte ich nicht finden. Auch kein Hinweis, dass diese Entscheidung Weinsberg voran getrieben hätte. Am 5. Januar 1939 wird sie von der Oberpflegerin Schauwecker und 2 zusätzlich begleiteten Pflegerinnen dorthin verbracht und eingewiesen. Dort war sie dann allerdings nicht sehr lange. Bereits am 8. September 1939 wurde Lina Peukert aus platztechnischen Gründen in die Heilanstalt Schussenried verlegt.
Am 29. Oktober 1940 muss Lina Peukert in einen der sogenannten grauen Busse nach Grafeneck steigen. Selbst die Scheiben der Busse waren grau gestrichen. Niemand sollte auf der Fahrt hinein oder hinaus schauen können.
Lina Peukert wurde in Grafeneck in einem umgebauten Geräteschuppen ermordet. Insgesamt wurden 317 Menschen aus Bad Schussenried zwischen dem 7. Juni und dem 1. November 1940 in insgesamt 9 Fahrten nach Grafeneck in den Tod deportiert. Nach ihrer Ankunft dort musste sie sich wie die anderen Opfer ausziehen. Alle wurden dann ärztlich begutachtet. Dies hatte für die Nazis den Zweck, hinterher eine fiktive Todesursache für die Todesurkunde erstellen zu können. Lina Peukert wurde dabei auch wie alle anderen von den Ärzten zur Beruhigung mit Morphium gespritzt. Unter dem Vorwand des Duschens wurde Lina dann im Vergasungsraum ermordet. Das Vergasen der Opfer dauerte 20 Minuten und war für sie wie für alle Opfer ein qualvoller Kampf mit dem Tod. Die Leichen wurden anschließend in zwei Verbrennungsöfen verbrannt.
Die Nazis versuchten ihre Ermordungen im Namen der „Euthanasie“ zu verschleiern. Sie fälschten Todesursache, Todesdatum und Todesort. Das Fürsorgeamt Ludwigsburg wusste offensichtlich nicht offiziell vom Tode Lina Peukert. Mit Schreiben vom 10. Februar 1941 erkundigte sich man in Grafeneck nach dem Verbleib von ihr. Ob sie den seit dem 29. Oktober 1940 immer noch in Grafeneck wäre. Antwort bekam dann Ludwigsburg nicht von Grafeneck, sondern von der offiziell betitelten Landesanstalt Hartheim bei Linz. Diese Tötungsanstalt war im Gegensatz zu Grafeneck noch 1941 „in Betrieb“. Während in Grafeneck nach über 10 000 Opfern im Dezember 1940 die Ermordungen eingestellt wurden, lief die Gaskammer in Hartheim noch bis zum 1. September 1941 auf Hochtouren. In 16 Monaten wurden dort 18 269 Menschen in der Gaskammer getötet. Lina Peukert starb angeblich dort nach Mitteilung vom 17. Februar 1941 der „Landesanstalt Hartheim“ an das Fürsorgeamt Ludwigsburg „am 11. November 1940 infolge akuten Darmverschluss und Bauchfellentzündung“.
Richard Werner kam am 10. Mai 1898 zur Welt. Er heiratete Lina Kunst, eine Fabrikarbeiterin. Das Paar lebte in Oßweil in der heutigen Hermann- Löns-Straße 13.
Aus den Akten des Vormundschaftsgerichts wissen wir, dass er am 10. September 1925 „infolge einer Geistesstörung“ in die Heilanstalt Weinsberg eingeliefert wurde. Ein Antrag auf Invalidenrente wurde gestellt, laut ärztlichem Gutachten sei eine Verständigung mit Richard Werner nicht möglich gewesen. Da sein Bruder die Pfl ege nicht übernehmen wollte oder konnte, wurde ein gewisser Karl Stuber per Handschlag verpfl ichtet. Dieser ließ notariell beglaubigen, dass Werner außer der Kleidung und Dingen persönlichen Gebrauchs nichts besaß, ein Vermögensverzeichnis wurde daher nicht erstellt.
Regelmäßig erstattete Karl Stuber Berichte für das Vormundschaftsgericht, dass sich an der Vermögenslage nichts geändert habe. Die Rente wurde nach Weinsberg überwiesen, er selbst habe weder Einnahmen noch Ausgaben. Der Bericht für 1940 fehlt, denn am 19. August 1940 wurde Richard Werner nach Grafeneck „verlegt“ und dort am gleichen Tag ermordet.