Antonie Orthal

Keine letzte Rückkehr nach Ludwigsburg

Meraner Straße 3

Antonie Orthal, genannt Toni, wurde am 23. November 1887 als Tochter von Adolf und Fanny Elsas in Ludwigsburg geboren.

Am 29. Juli 1910 heiratete sie Dr. Heinrich Orthal, einen Rechtsanwalt aus Nürnberg. Ihre zwei Kinder Eugen, geboren am 1. September 1911, und Berthold, geboren am 23. August 1916, wanderten im Jahr 1935 nach Palästina aus, um in einem Kibbuz zu leben und zu arbeiten.

Der plötzliche Tod ihres Mannes Heinrich 1934 veranlasste Antonie, zurück nach Ludwigsburg zu ziehen. Zusammen mit ihr kam ihre Mutter Fanny, die nach dem Tod ihres Mannes Adolf 1933 bei Antonie in Nürnberg gewohnt hatte, ebenfalls zurück nach Ludwigsburg. Antonie Orthal lebte zuletzt in der Meraner Straße 3. Ihre Söhne besuchte sie 1937 und 1938 in Palästina, kam jedoch jedes Mal zurück nach Ludwigsburg, um ihre Mutter zu pflegen.

Nach der Pogromnacht 1938 beschlossen die beiden Frauen, ebenfalls nach Palästina auszuwandern. Im Jahr 1939 gelang Antonies Mutter unter großem Glück noch die Ausreise, Antonie dagegen musste in Deutschland bleiben.

Der zwangsweisen Umsiedlung in das jüdische «Altersheim» in Eschenau 1941 folgten kurze Aufenthalte in Stuttgart, Haigerloch und Oberdorf. Dort wurde auch ihr gesamtes Vermögen beschlagnahmt.

Am 22. August 1942 wurde sie ins KZ Theresienstadt deportiert und war dort als Krankenschwester tätig. Bei ihrer Arbeit versorgte sie unter anderem ihren Onkel Max Elsas, der zur gleichen Zeit nach Theresienstadt deportiert worden war und dort nach wenigen Wochen starb.

Am 19. Oktober 1944 wurde Antonie Orthal mit dem Todestransport «Es» nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet.

Schüler/innen und Schüler des Geschichtskurses 2007/2008 am Goethe-Gymnasium Ludwigsburg

 

Bei der Verlegung des Stolpersteins für Antonie Orthal im September 2008 trugen die Schülerin Lisa Graf und Geschichtslehrerin Verena König unter anderem vor:

«(…) Als ich begann, mich mit dem Menschen Antonie Orthal zu beschäftigen, fiel mir zuerst auf, wie hilfsbereit sie sich, ungeachtet ihrer persönlichen Situation, gegenüber anderen Menschen verhielt und wie sehr sie sich um ihre Familie kümmerte. Sie ermöglichte ihren beiden Söhnen die Auswanderung nach Palästina, blieb jedoch selbst zurück, um ihre kranke Mutter zu pflegen.

(…) Woher könnte Antonies Liebe zu den Menschen kommen? Sicher hatte sie als Tochter der angesehenen Familie Elsas in Ludwigsburg eine behütete Kindheit. Als sie 1887 geboren wird, existiert die Höhere Mädchenschule, das heutige Goethe-Gymnasium, als Städtische Schule fünf Jahre und bietet den Mädchen eine gute Bildung.

Ausgerichtet war diese auf ein Leben als Ehefrau und Mutter. Zehn Prozent aller Schüler/innen waren Töchter jüdischer Bürger der Stadt Ludwigsburg. Gerade diese wollten diese Bildung für ihre Töchter.

(…) Für uns Ludwigsburger ist besonders bemerkenswert, dass es Antonie immer wieder nach Ludwigsburg zurück zog. (…)»

Fotos oben: Portrait Antonie Orthal, Original aus dem Stadtarchiv Ludwigsburg.
Verlegung des Stolpersteins für Antonie Orthal am 27. September 2008, unter anderem mit Ludwigsburgs Erstem Bürgermeister Konrad Seigfried.

Sofie Oetinger

Eine Hausfrau wird in Grafeneck mit Gas ermordet

Schützenstraße 20


Sofie Weber wird am 8. November 1881 als drittes Kind des Weingärtners Daniel Friedrich Weber und seiner Frau Elisabeth Catharina geb. Göhring in Mundelsheim geboren.
Sie besucht die Volksschule und ist anschließend bis zu ihrer Heirat mit Gustav Oetinger aus Erdmannhausen am 9. November 1907 als Dienstmädchen tätig.
Ihr Mann dient fast 20 Jahre im Württembergischen Heer und macht den gesamten Ersten Weltkrieg mit. Spätestens ab 1925 wohnt das Ehepaar, das kinderlos bleibt, in Ludwigsburg in der Schützenstraße 20.
Bis 1920 ist Sofie eine fröhliche, ausgeglichene Frau. Ab dieser Zeit beginnen den Akten zufolge Angstzustände, Psychosen, Nahrungsverweigerung und religiöse Wahnvorstellungen, die zu kurzen Krakenhausaufenthalten führen. Immer wieder wird sie von ihrem Mann nach Hause geholt, sogar gegen ärztlichen Rat, bis sich 1929 ihr Krankheitsbild so verschlechtert, dass sie in die Heilanstalt Weinsberg eingeliefert wird. Dort lebt sie bis zu ihrer „Verlegung“. Die Diagnose lautet: „Katatonie“ (Schizophrenie mit Anfällen).
Am 19. August 1940 wird sie im Alter von knapp 59 Jahren mit etwa 70 weiteren Personen aus Weinsberg in Grafeneck ermordet. Der Familie wird eine gefälschte Todesurkunde zugestellt. So ist man zunächst der Meinung, man habe die Kranke noch nach Brandenburg an der Havel verschleppt. Dass sie ermordet wurde, ist schon bald bekannt. Später erfährt die Familie auch den richtigen Todesort – Grafeneck.

Gisela Scharlau

Margarete Michelfelder

Ein Kind auf der Liste der Mörder

Benzengasse 10

Die Verlegung dieses Stolpersteins erhielt durch die begleitende Musik von Mitgliedern der Brenz-Band unter ihrem Leiter Horst Tögel einen besonderen Rahmen. Man spürte, dass die behinderten Musiker der Band von dem Schicksal der Margarete Michelfelder tief ergriffen waren. Auch die Anwesenheit zweier Cousinen und einer Nachbarin Margaretes aus der Benzengasse, die in ihrer Kindheit mit ihr eng befreundet waren und mit ihr gespielt haben, trugen zu der außergewöhnlichen Atmosphäre der Veranstaltung bei.

Margarete Michelfelder wurde am 28. Oktober 1934 in Ludwigsburg in der Gneisenaustraße 14 nahe der Talallee geboren.
Sie erkrankte früh an einer Hirnhautentzündung, die bald zu einer geistigen Behinderung führte. Wie die noch lebenden Verwandten berichteten, war sie ein ganz liebes, nettes und umgängliches kleines Mädchen. Und auch eine noch lebende Nachbarin und Freundin aus Kindertagen bestätigte mit allem Nachdruck: Die kleine Margarete war ein ganz, ganz liebes und herzensgutes Kind.

Der Besuch einer Schule war ihr allerdings verwehrt, weil ihre Behinderung zur Folge hatte, dass sie nicht sprechen konnte. Hingegen war ihr Gehör nicht beeinträchtigt, so dass sie am Geschehen des Alltags durchaus teilnahm.
Hätte es die Brenz Band schon damals gegeben, dann hätte sie sicher mit Begeisterung zugehört und sich gewünscht, auch bald ein Instrument, vielleicht eine Mundharmonika, spielen zu lernen, um dann all das, was sie mit Worten nicht sagen konnte, mit Musik auszudrücken.

Ihre Kindheit verlebte Margarete im Kreis ihrer Familie, die 1940 in das eigene Haus in der Benzengasse 10 zog (der Vater wurde während des Krieges Soldat und kam erst nach 1945 aus der Kriegsgefangenschaft wieder nach Hause). Von Pflugfelden aus erfolgten mit Mutter und Schwester häufig Besuche der Verwandtschaft in Höpfigheim.

Nach vorliegenden Unterlagen wurde Margarete Michelfelder am 16. Juni 1943 in die Landesanstalt Eichberg bei Wiesbaden eingeliefert, wobei davon auszugehen ist, dass sie direkt von Pflugfelden zwangsweise nach dort verbracht wurde. Damals sagte man dazu: Sie ist «abgeholt» worden.

Sie wurde also aus dem vertrauten Umfeld ihrer Eltern und ihrer Schwester, in dem sie wohlbehütet lebte, jäh herausgerissen. Was dieser Schock für ein Kind bedeutet, das ohnehin durch seine Behinderung ohne Unterstützung im Alltag völlig hilflos ist, kann man bestenfalls erahnen.

Die Anstalt Eichberg war im großen Umfang am so genannten Euthanasieprogramm der Nazis beteiligt. Sie unterhielt unter anderem eine «Kinderfachabteilung» – dort wurden in Wahrheit viele Kinder getötet.

Am 14. Juli 1943, also bereits einen Monat nach ihrer Einlieferung musste auch Margarete mit gut achteinhalb Lebensjahren in der Anstalt Eichberg ihr Leben lassen, weil sie den Anforderungen des verbrecherischen Naziregimes nach lebenstüchtigen und leistungsfähigen Menschen nicht genügte. Mit anderen Worten: Sie war aus der damaligen menschenverachtenden Sicht ein überflüssiger Schmarotzer, der für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft lediglich eine Belastung war und nur Geld und Nahrungsmittel kostete.

Der Mord an ihrem Kind brachte den Eheleute Michelfelder großes Herzeleid. Nur so ist es zu erklären, dass sie es erreichen konnten, dass ihnen der Leichnam des Kindes zur Bestattung herausgegeben wurde. Wie namhafte Erforscher des NS-Euthanasie-Programmes bestätigen, waren die Verantwortlichen der betreffenden Anstalten immer dann bereit, dieses Zugeständnis zu machen, wenn die Angehören hartnäckig genug die Herausgabe ihres Kindes verlangten. Der Grund war, dass man alles vermeiden wollte, was in der Öffentlichkeit zu einer Diskussion über die Tötungspraktiken hätte führen können.

So wurde es möglich, dass Margarete Michelfelder am 21. Juli 1943 nachmittags 3 Uhr im Friedhof Pflugfelden bestattet werden konnte. Die Grabrede hielt der Pflugfelder Stadtpfarrer Haug, der dafür Markus 10,14 («Lasset die Kindlein zu mir kommen») gewählt hatte.

Die offizielle Todesursache, die von der Anstaltsleitung Eichberg angegeben und von Pfarrer Haug in das Kirchenregister eingetragen werden musste, lautet: «schwachsinnig infolge Gehirnhautentzündung, Tod durch Lungenentzündung und Herzlähmung».

Diese Begriffe dürften aus den zynischen auch in den KZ üblichen Listen stammen, die von den Naziverbrechern willkürlich für die Angabe von Todesursachen verwendet wurden, wenn es darum ging, die wahre Todesursache Mord zu verschleiern.

Im gleichen Zusammenhang muss die Tatsache gesehen werden, dass nach mündlicher Überlieferung der Sarg des Mädchens nicht geöffnet werden durfte.

Dieser Stolperstein soll jeden, der an diesem Haus vorbeigeht, an das Schicksal und an den Tod des behinderten Kindes Margarete Michelfelder erinnern, das ein Opfer der verbrecherischen Nazidiktatur wurde. Und er soll zugleich Mahnung für uns alle sein, wachsam zu bleiben, damit es sich nicht wiederholen kann, dass Menschen wegen ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Behinderung verfolgt und getötet werden.

Gottfried Pampel

Fotomontage oben: Gebäude Benzengasse 10 im Jahr 2008

 

Bisher nicht bekannte Einzelheiten zum Schicksal von Margarete Michelfelder zeichnet Christian Hofmann in seiner Veröffentlichung auf:

Kinder – „Euthanasie“ und das Gesundheitsamt Ludwigsburg  

Opferschicksale aus Ludwigsburg geben Einblicke in die Bürokratie der Vernichtung im Nationalsozialismus

Ludwigsburger Geschichtsblätter Band 75/2021

Seite 140-173

Darin enthalten:  Einzelschicksale aus Ludwigsburg

Erna Wolf – Hans Mayer – Anita Henk

Margarete Michelfelder – Charlotte Schörg

 

Christian Hofmann stellt fest, dass Margarete Michelfelder, bevor sie am 16. März 1943 auf Anordnung des Reichsausschusses in Berlin in die Heilanstalt Eichberg gebracht werden musste, ab 6. März 1943 in der kirchlichen Anstalt Heggbach gelebt hat. Gegen den Willen ihrer Mutter musste sie von dort abgeholt werden.

Siegmund und Fanny Meyer

Züge in das Leben, Züge in den Tod

Richard-Wagner-Straße 1

Siegmund Meyer heiratete am 30. April 1900 Fanny, geborene Löwenthal, in Ludwigsburg. Siegmund Meyer war Viehhändler wie sein Vater Abraham Meyer aus Bibra (Thüringen) und sein Schwiegervater Albert Löwenthal aus Talheim bei Heilbronn. Geboren wurde Siegmund Meyer am 23. März 1869 in Bibra, Fanny am 5. November 1877 in Talheim.

Viehhändler war aus historischer Sicht kein seltener Beruf unter der jüdischen Bevölkerung. Fast alle Juden in Deutschland durften bis zur Emanzipation (Gleichstellung mit den Christen, 1797 – 1918 ) kein Land besitzen. Zudem waren ihnen lange Zeit handwerkliche Berufe verwehrt, wodurch den Juden nur der Handel blieb, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. So wurde der Viehhandel regelrecht zum jüdischen Monopol. Die Handelstätigkeit hat wichtige Funktionen im ländlichen Bereich erfüllt. Sowohl für die christlichen Bauern, die Viehhändler und die Abnehmer des Viehs. Noch im Jahre 1917 waren von 40.000 Viehhändlern in Deutschland 25.000 Juden.

Familie Meyer wohnte zuerst in der Eberhardstraße 27, wo es im Hinterhof Stallungen für das Vieh gab, und dann in der Richard-Wagner-Straße 1. Hier war im II. Stock bis Anfang 1939 der letzte frei gewählte Wohnort. Bereits ab 17. Februar 1937 wurden jüdische Viehhändler von Viehmärkten ausgeschlossen. Siegmund Meyer war beim ersten erzwungenen Umzug in die Seestraße 75 von Mai bis November 1939 bereits 70 Jahre, seine Frau Fanny 61 Jahre alt.

Vom 30. April 1939 an wird der Mietschutz von Juden gelockert und es werden vorzeitige Kündigungen erlaubt. An Juden vermietete Wohnungen müssen gemeldet werden. Ab 8. August 1939 müssen sämtliche Juden, die in Häusern von arischen Besitzern wohnen, zum 1. Dezember 1939 eine Wohnung in jüdischem Hausbesitz suchen. Dies war nicht nur ein weiterer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte, sondern ermöglichte auch den einfachen Zugriff der Gestapo auf die Juden.

Die Seestraße 75, heute Hohenzollernstr. 3, diente nach dem organisierten Brand der Ludwigsburger Synagoge in der Reichs-Pogromnacht als jüdisches Gemeindehaus. Ab jetzt beginnen für Meyers diverse Zwangsumzüge: zur Tochter Rita nach Heilbronn vom November 1939 bis Januar 1940, anschließend von Januar 1940 bis Dezember 1941 wieder nach Ludwigsburg in die Seestraße 75.

Weitere folgen: nach Stuttgart am 16. Dezember 1941, nach Baisingen am 22. Dezember 1941, dann nach Dellmensingen 1942 und am Ende nach Theresienstadt. Ziel aller Umzüge war: den Zusammenhalt der jüdischen Familien zu schwächen, der deutschen Bevölkerung etwas vorzuspielen, die Juden zu demütigen, von der deutschen Bevölkerung zu trennen und zu ghettoisieren.

Familien werden in Not gebracht

Am 22. August 1942 werden Fanny und Siegmund Meyer von Stuttgart mit dem Transport VIII/1 in das KZ Theresienstadt verschleppt. Dieses Konzentrationslager wurde bereits 1940 nach der Besetzung Böhmen und Mährens eingerichtet. Nach der sogenannten «Wannsee-Konferenz» 1942 wurden in das Lager auch alte oder als prominent geltende Juden aus Deutschland und anderen besetzten Gebieten deportiert.

Die NS-Propaganda im Deutschen Reich verklärte Theresienstadt zum «Altersghetto». Es diente als Gestapogefängnis, Transitlager (etwa 88.000 Häftlinge wurden nach Auschwitz oder andere Todeslager gebracht) und Vernichtungslager (hier starben etwa 33.000 Gefangene).

In Theresienstadt ermordet
Siegmund Meyer ist am 2. Februar 1943 in Theresienstadt mit 73 Jahren umgekommen.

Fanny Meyer überlebte Theresienstadt. Mit dem einzigen Freiheitstransport aus dem KZ Theresienstadt am 5. Februar 1945 (Zugnummer EW 182 T) über Konstanz nach Kreuzlingen in der Schweiz. Nach unterschiedlichen Auffanglagern reist sie 1946 zuerst nach Argentinien, dann zum Sohn Arthur nach Uruguay aus. Sie stirbt am 24. Februar 1949 mit 72 Jahren.

Tochter Rita und Schwiegersohn Karl Kahn (letzter Kantor der Synagoge Heilbronn) werden ebenfalls am 22. August 1942 von Stuttgart nach Theresienstadt und 1944 nach Auschwitz weitertransportiert. Beide werden am 6. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet. Den gemeinsamen Sohn Hans Kahn (geboren am 11. Februar 1930 in Heilbronn) schicken sie am 4. Mai 1939 mit einem Kindertransport nach England und retten ihm so sein Leben.

Anmerkung des Verfassers: Meine Urgroßeltern Familie Mühlbach hatten in Marbach eine Weinstube und Bäckerei in der Marktstraße 15 und waren sowohl geschäftlich als auch privat mit den Meyers aus Ludwigsburg verbunden. Sie kauften ihr Schlachtvieh beim Viehhändler Meyer. Meine Mutter Emilie Kretschmann, geborene Klumpp, Jahrgang 1931, erzählte mir von regelmäßigen Spaziergängen mit ihren Großeltern Mühlbach über die Felder zwischen Marbach und Poppenweiler. Dort versteckte das Ehepaar Mühlbach jedes Mal Lebensmittel auf einem ihrer Felder – immer an der gleichen Stelle – für den «Jud Meyer» aus Ludwigsburg. Ende 1939 werden die Lebensmittel nicht mehr abgeholt.
Thorsten Klumpp

Foto oben: Richard-Wagner-Straße 2010. Bildmontage unter Verwendung von Portraits von Fanny und Siegmund Meyer aus dem Bestand des Stadtarchivs Ludwigsburg.
Foto unten: Stolpersteinverlegung April 2010

Franz Martin

Folteropfer im «Hotel Silber»

Bietigheimer Straße 21

Franz Anton Martin wurde am 6. März 1905 in Empfingen im Kreis Tauberbischofsheim als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren. Er erlernte den Beruf des Tischlers. Schon früh gehörte er der Gewerkschaft an und war ein aktives Mitglied der KPD.

Am 10. März 1932 heiratete er Gertrud Pfleiderer, wobei aus dieser Ehe keine Kinder hervorgingen. Das Ehepaar wohnte in der Bietigheimer Straße 21 in Ludwigsburg. Zu der Zeit war er bei der Schreinerei Jenner & Söhne in Ludwigsburg beschäftigt, wo er bis zu seiner Verhaftung blieb.

Nach der Machtergreifung der Nazis setzte Franz Martin seine politische Tätigkeit in der kommunistischen Arbeiterbewegung in der Illegalität fort. In seiner Wohnung in der Bietigheimer Straße wurden viele Jahre später, lange nach dem Ende der faschistischen Herrschaft, Unterlagen der kommunistischen Partei hinter einem Küchenschrank gefunden. Wie man sich im «Täle» berichtete, durchaus zum Schrecken seiner Vermieterin, die sich ausmalte, was passiert wäre, wenn das Material bei einer der Hausdurchsuchungen seinerzeit entdeckt worden wäre.

Bei seiner illegalen Arbeit wurde Franz Martin als Kurier und Verbindungsmann zu verschiedenen Widerstandsgruppen eingesetzt. Sein ganzes «Büro» brachte er in mehreren Streichholzschachteln unter, so dass er notfalls sämtliche Unterlagen schnell und unauffällig vernichten konnte.

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen wurde er am 10. November 1935 durch die Gestapo verhaftet und in der Gestapo-Zentrale im «Hotel Silber» in der Stuttgarter Innenstadt festgehalten.

Als Grund für die Schutzhaft wurde angegeben: «Das Ergebnis der Ermittlungen ergab, dass der Beschuldigte sich illegal für die KPD betätigt hat. Seine Tätigkeit bedeutet Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.»

Die folgenden 20 Monate verbrachte Franz Martin in Untersuchungshaft, hier besuchte ihn Gertrud, seine Frau.

Die Folgen der Haft waren schlimm. Schwere Misshandlungen durch die Gestapo führten zu einer zersplitterten Kniescheibe. Er konnte sich nur noch hinkend fortbewegen. Das Landgericht Stuttgart urteilte: «Verurteilung wegen Vorbereitung zum Hochverrat» – Franz Martin wurde politisch verfolgt wegen antifaschistischer Betätigung als überzeugter Kommunist.

Seine Verurteilung führte zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus in Ludwigsburg. Nachdem das Zuchthaus durch fortlaufende Verhaftungswellen überfüllt war, wurde Franz Martin für drei Monate ins KZ Welzheim verschleppt.

Im Jahre 1939 wurde er für fünf Monate ins KZ Dachau und danach ins KZ Mauthausen für vier Monate gebracht.

Am 5. Januar 1940 starb Franz Martin dort, die angebliche Todesursache: «Nichteinhaltung der Diät».

Seine Beisetzung erfolgte auf dem neuen Friedhof in Ludwigsburg, wo sein Grab sich noch heute befindet.

Nach Kriegsende wurde eine Entschädigung für «Schaden an Leben und Freiheit» in Form von Zahlungen an die Witwe geleistet. Diese wurde Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), um die Ziele ihres Mannes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie wurde Trägerin der Ehrenmedaille des deutschen Widerstands.

Isabel Eckel / Jochen Faber

Quellen:
Entschädigungsakten im Staatsarchiv Ludwigsburg Stadtarchiv Ludwigsburg Informationen der VVN-BdA Gespräch mit Günther Vogt, Verein Untere Stadt

Fotomontage oben: Gebäude Bietigheimer Straße 2008, Portrait Franz Martin aus «Streiflichter»

Oskar Mannheim

Sicher ist fast nur das Furchtbare

Schloßstraße 23

Oskar Mannheim – in Ludwigsburg zu Hause. Manchen einzelnen Hinweis geben die Akten über diesen Mann her, vieles bleibt Spekulation. Mit der Verlegung des Stolpersteins in der Schloßstraße wird die Erinnerung daran erhalten, dass er einer von uns war.

Sicher ist, soweit die amtlichen Unterlagen nicht trügen: Oskar Mannheim wurde am 21. Juni 1902 in Straßburg geboren. Sein Vater hieß Adolf Mannheim, seine Mutter Sofie Dorothea war eine geborene Leusch und kam aus St. Johann/Saarbrücken. Soweit bekannt, war sein Vater jüdischer Abstammung, er selbst war Mitglied der katholischen Kirche. Oskar Mannheim hatte eine Schwester namens Johanna und zwei Brüder, Kurt und Paul.

Sicher ist auch, dass Oskar Mannheim am 9. März 1934 heiratete: Maria Stemmer aus dem Kreis Saulgau wurde seine Frau. Die beiden wohnten in der Schloßstraße 23 in Ludwigsburg, die damals Vordere Schloßstraße hieß.

Ebenso ist sicher, dass Oskar Mannheim einen kaufmännischen Beruf hatte und in Feuerbach bei Bosch arbeitete – zuletzt allerdings nur in einem unaufälligen Bereich als Hilfsarbeiter.

Ob Oskar Mannheim tatsächlich der SPD nahestand, wie eine Quelle angibt, ist nicht genau belegt – entsprechende Unterlagen wurden während des Faschismus großteils vernichtet, auch um vor Verfolgung zu schützen.

Sicher ist: Am 29. November 1942 ist der offizielle Todestag von Oskar Mannheim, als Todesursache wurde Herzmuskeltrophie angegeben. Höchst wahrscheinlich starb er im Konzentrationslager Auschwitz – doch in einer Karteikarte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) wird als Todesort das KZ im österreichischen Mauthausen angegeben.

Vieles ist Spekulation: Kam Oskar Mannheim bei Bosch unter, weil die Firma in der NS-Diktatur sehr zweigleisig reiste? Einerseits präsentierte Bosch eine stattliche Anzahl höchst engagierter Nazis gerade auch in den oberen Rängen des Unternehmens, andererseits unterstützte es insgeheim die jüdische Gemeinde mit großen Geldsummen für die Flucht zahlreicher Stuttgarter Juden ins Ausland, und schließlich beschäftigte das Unternehmen auch etliche jüdische Mitarbeiter. Freilich zeigte das Unternehmen keinerlei Hemmungen, für die Vernichtungsfeldzüge der Nazis seine Produkte zu liefern oder Gefangene des NS-Regimes beispielsweise im Ludwigsburger Zuchthaus ebenso wie Zwangsarbeiter/innen aus dem Osten als Sklaven auszubeuten.

Wie auch immer – 1942 gab es für Oskar Mannheim keinen sicheren Schutz mehr.

Was der Anlass für ein Gerichtsverfahren gegen ihn war, ließ sich bisher nicht klären: Welchen Umfang der Vorwurf hatte, ob ihm politisches Engagement gegen die Nazis vorgeworfen wurde, ob es ein vorgeschobenes kaufmännisches Vergehen war, um ihm wegen seiner jüdischen Abstammung zu schaden – Spekulation.

Vieles ist also unsicher, wenn von Oskar Mannheim die Rede ist. Doch eines ist eben sicher: Die Nazis verfolgten ihn, sperrten ihn ein und ermordeten ihn schließlich, als er gerade 40 Jahre alt war – den Ludwigsburger aus der Schloßstraße 23.

Recherche: Max Bleif

Fotomontage oben: Schloßsstraße 2010, Portrait Oskar Mannheim nach Angaben der VVN aus „Streiflichter“

Emma, Frieda und Regina Laupheimer

Drei Schwestern im Herzen der Stadt

Holzmarkt 6

Im September 1919 übernahmen Emma Laupheimer, geboren 1874 und Regina Laupheimer, geboren 1868, die Firma Stöhr, Manufakturwaren und Aussteuerartikel, am Holzmarkt 6 in Ludwigsburg. Emma blieb bis Ende 1938 Inhaberin des Geschäfts. Regina arbeitete als Kontoristin und Verkäuferin im Laden mit. Ihre Schwester Frieda, geboren 1872, führte den Haushalt in der Wohnung über dem Laden, am Holzmarkt 6.

Die Töchter des seit mehreren Generationen in Laupheim ansässigen jüdischen Metzgers Michael Laupheimer und seiner Frau Bertha, waren einige Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs nach Stuttgart gekommen. Die besseren wirtschaftliche Bedingungen in den Großstädten veranlassten viele zum Wegzug aus den jüdischen Landgemeinden Württembergs.

Mina Laupheimer, eine der fünf Schwestern, betrieb in Bad Cannstatt ein Wäschegeschäft, das sie nach ihrer Heirat, gemeinsam mit ihrem Ehemann Adolf Spengler, bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiterführte. In „Mischehe“ lebend, entkam sie als einzige von sieben Geschwistern der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten. Sie überlebte zwar die Kriegszeit, verstarb jedoch im Jahr 1946 in Bad Cannstatt.

Lina Laupheimer, die als Näherin ebenfalls in Bad Cannstatt arbeitete, heiratete 1913 den Cannstatter Kaufmann Otto Richter. Das Ehepaar zog nach Hannover, von wo aus Otto Richter als Handelsvertreter unterwegs war. Otto Richter gehörte, wie auch sein Schwager Adolf Spengler, der evangelischen Kirche an.

Die Heirat Minas im Jahr 1919 war wohl der Anlass der ledigen Schwestern von Bad Cannstatt nach Ludwigsburg zu ziehen und dort eine neue Existenz zu gründen. Die Frauen verfügten dank ihrer langjährige Berufserfahrung über detaillierte Kenntnisse. Beim Angebot ihres Sortiments bestehend aus Aussteuerartikeln, Stoffen und Kurzwaren ergaben sich, so ist anzunehmen, persönliche und familiäre Verkaufsgespräche. „Wir haben alle unsere Sachen bei den Fräulein Laupheimer eingekauft“ wird später ein Nachbar erzählen. „Meine Oma und meine Mutter waren immer bei den Laupheimers im Laden“ berichtete mir dieser Tage der Enkel bzw. Sohn alter Ludwigsburgererinnen.

Nach jahrelangen Schikanen durch die Naziherrschaft mussten die Frauen im November 1938 ihren Laden schließen. Die Nationalsozialisten verdrängten alle jüdischen Geschäftsleute aus ihren Betrieben. Ohne Aussicht auf Lebensunterhalt verließen die Schwestern Laupheimer Ende November 1938 notgedrungen ihre Wahlheimat Ludwigsburg. Ihr erzwungener Wegzug wurde mit dem Kommentar: „Die kommet nimmer“ von Nachbarsleuten registriert. Die Schwestern fanden
zum Teil Unterkunft bei den Laupheimer Verwandten. Emma Laupheimer konnte vorübergehend im ererbten väterlichen Haus in der Kapellenstr. 30 in Laupheim wohnen. Noch im Dezember 1938 wurden die Schwestern mit der Nachricht vom Tod ihres Bruders Sigmund konfrontiert. Er war als einziger der jüdischen „Schutzhäftlinge“, die nach der Pogromnacht im November 1938 von Laupheim ins KZ Dachau gebracht worden waren, nicht zurückgekehrt. Männer der Lagerbesatzung hatten ihn erschlagen.

In Ludwigsburg war die seit 1937 verwitwete Schwester Lina Richter zurückgeblieben. Sie hatte erst im März 1938 von Hannover kommend eine Wohnung in der Leonberger Str. 18 bezogen. Lina Richter wollte im Sommer 1939 von hier aus in die USA emigrieren. In den Restitutionsakten im Staatsarchiv in Ludwigsburg befinden sich die Listen mit den Gegenständen ihrer Wohnungseinrichtung, die sie am 1. August 1939 zum Beladen eines Umzugscontainers aufgeführt hat. Erst im Oktober 1939 wird der Container von einer Stuttgarter Spedition nach Rotterdam gebracht. Er soll nach New York verschifft werden. Lina Richter wird jedoch noch Ende Oktober 1939 im Zuge der jüdischen „Landumsiedlung“ nach Laupheim ausgewiesen. Die Auswanderung ist nicht mehr möglich. Ihr Container mit der Wohnungseinrichtung wurde wegen des Kriegsausbruchs nicht in die USA verschifft, sondern 1941 wieder zur Spedition nach Stuttgart zurückbefördert. Dort wird er einem Altwarenhändler zum Verkauf übergeben. Ob Lina Richter je einen Bruchteil des Inhalts, der mit einem Wert von 10 000 Reichsmark angegeben worden war, erhalten hat, ist nicht mehr zu ermitteln.

Laupheim, die Stadt mit der einst größten jüdischen Gemeinde in Württemberg, vertrieb im Oktober 1941 alle ihre noch dort lebenden jüdischen Mitbürger aus ihren Wohnungen und Häusern, angeblich wegen „drohender Wohnungsnot“. Regina Laupheimer wurde ins überfüllte jüdische Altersheim eingewiesen.
Frieda und Emma Laupheimer, auch Lina Richter, mussten bitterarm auf engstem Raum im Barackenlager in der Wendelinsgrube leben. Es gab dort weder Wasser noch Strom. „Die alten Juden haben ja nichts Brauchbares mehr besessen. Alles was sie verkaufen konnten, haben sie gegen Essen und Lebensmittel getauscht, weil sie ja nichts mehr kaufen konnten…“ sagt ein Laupheimer Bürger nach dem Krieg aus.

In vier Deportationen wurden die Laupheimer Juden vom dortigen Westbahnhof aus in den „Osten“ gebracht. Mit dem letzten Transport am 19. August 1942 kamen die vier Schwestern Regina, Frieda, Emma und Lina ins Ghetto nach Theresienstadt.

Regina Laupheimer, Frieda Laupheimer und Emma Laupheimer wurden am 26. September 1942 in Treblinka ermordet.

Lina Richter wurde am 21. November 1943 im Ghetto in Theresienstadt ermordet.

Die jüngste der Schwestern, Luise, wurde im Juli 1942 mit ihrem Mann Arthur Grab von Laupheim aus nach Auschwitz deportiert. Luise und Arthur Grab sind dort ermordet worden.

Manfred Laupheimer, der ältere der beiden Brüder, wurde ebefalls am 19. August 1942 nach Theresienstadt deportiert. Er wurde am 29. September 1942 in Treblinka ermordet.

Mit dem letzten Transport vom 19. August 1942 war das jüdische Leben in Laupheim augelöscht.
Gudrun Karstedt

Quellen:
Joachim Hahn Jüdisches Leben in Ludwigsburg Karlsruhe Braun Verlag 1998
(erhältlich beim Stadtarchiv Ludwigsburg)
Stadtarchiv Ludwigsburg
Staatsarchiv Ludwigsburg
Stadtarchiv Stuttgart
„Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung“
erstellt von einer Arbeitsgruppe der
„Gesellschaft für Geschichte und Gedenken e.V., Laupheim 2008
Christoph Schmid Laupheim
Cornelia Hecht Antje Köhlerschmidt Die Deportation der Juden aus Laupheim
Eine kommentierte Dokumentensammlung
Laupheim 2004

Fanny und Salomon Kusiel

Pferdehändler gehörten zu Ludwigsburg

Seestraße 49


Im März 2011 haben wir für Fanny und Salomon Kusiel Stolpersteine vor dem Haus Seestraße 49 verlegt – mit gravierenden Fehlern auf dem Stein für Salomon Kusiel: Die damaligen Rechercheur/innen hatten sich auf sehr seriöse Quellen gestützt, in die allerdings in den 1960er-Jahren eine Falschinformation geraten war: Salomon Kusiel sei „1943 im KZ Schribroek ermordet“ worden. Wenigstens das falsche Todesdatum taucht in späteren Arbeiten richtig auf: Salomon Kusiel starb 1940.

Nicht einmal die Schreibweise des Ortsnamens war in den alten Angaben korrekt. In den Unterlagen des Staatsarchivs Ludwigsburg wurde stets das Schreiben von Siegfried Kusiel (geboren 1901) übersehen, dem Sohn der Kusiels, der bereits in den frühen 1930er-Jahren nach Holland ausgewandert war: „Mein Vater hat bei mir gewohnt, damals Adrianalaan 11, Schiebroek/Rotterdam. Gestorben am 20. 6. 1940 an obenstehender Adresse.“ Als Todesursache gab der Sohn in anderen Unterlagen „Krankheit / Herzleiden“ an.
In Schiebroek hat es nie ein Konzentrationslager gegeben. Neben dem Stolperstein für seine in Sobibor ermordete Frau Fanny erinnert seit April 2013 ein neuer Stein mit korrigiertem Text an Salomon, der im Exil starb.

Als Pferde noch der Motor der Zeit waren

In einer Stadt wie Ludwigsburg, in der Militär nicht nur das gesellschaftliche, sondern auch das wirtschaftliche Leben wesentlich mitprägte, waren Pferdehändler wichtige Leute, als motorisierte Wagen noch nicht den Verkehr beherrschten. Zu ihnen gehörte Salomon Kusiel; er handelte mit kräftigen belgischen und französischen Arbeitszieren „sowie eleganten Wagenpferden“, wie eine Zeitungsanzeige verkündete.

Salomon Kusiel wurde als Sohn von Simon und Jette Kusiel 1866 in Hochberg am Neckar geboren. Er führte die Familientradition des Pferdehandels fort und war ab 1905 auch Inhaber einer Textilwaren-, Pferde- und Futtermittelhandlung in Ludwigsburg. Von 1928 bis 1933 wohnte er mit seiner Familie in der Seestraße 49, von 1934 an in der damaligen Schlageterstraße 13 (vor und nach der Zeit des NS-Regimes Bahnhofstraße) in Ludwigsburg. Das Haus in der Seestraße ist nach wie vor durch einen Pferdekopf aus Blech an der Fassade gut zu erkennen (wenn er nicht gerade repariert werden muss); im Hinterhof ist noch zu sehen, wo die Stallungen waren.

Am 1. Oktober 1933 musste Salomon Kusiel seine Handlung aufgeben. Im Rahmen sehr langwieriger und zermürbender Schriftwechsel über möglichen finanziellen Ausgleich für den Schaden, der der Familie Kusiel durch das NS-Regime entstanden war, schrieb Siegfried Kusiel 1956: „Mein Vater, Salomon Kusiel, hat einen Pferdehandel in Ludwigsburg bei Stuttgart betrieben, hat seit dem Hitlerregime nichts mehr verdienen können. Da die Juden verfolgt wurden und ich in Holland wohnte, habe ich meine Eltern nach Rotterdam kommen lassen und haben sie bei mir, damals Adrianalaan 11, Rotterdam N., gewohnt.
Sie gingen mit gerade zehn Reichsmark über die Grenze, haben alles hinterlassen müssen und haben Silbersachen, Zinn und andere Wertgegenstände einliefern müssen. Ob ein Banksaldo oder Lebensversicherung damals bei Auswanderung anwesend war, ist mir nicht bekannt.Auch die Möbel haben sie hinterlassen müssen.“

Durch den Hinweis von Wim van Stiphout aus Schiebroek erfuhren wir, dass auf dem Friedhof Schiebroeker Friedhof noch immer der Grabstein für Salomon Kusiel zu sehen ist – ein weiterer Beleg dafür, dass er nicht direkt durch NS-Terror starb.

Eine kluge und gebildete Frau

Fanny Gutmann wurde am 5. Januar 1869 in Ichenhausen geboren und heiratete später Salomon Kusiel. Sie hatten die drei Kinder Alice, Peppi und Siegfried. Nach ihrer gemeinsamen Auswanderung nach Rotterdam 1939 lebte sie zunächst mit ihrem Mann zusammen bei Sohn Siegfried.
Der schrieb 1959: „ Meine Mutter hat, als sie den Judenstern tragen musste, zuerst bei mir, damals Adrianalaan 11 Schiebroek/Rotterdam gewohnt, musste im September 1940 musste im September 1940 die Küststrecke (wozu nach den damalige Maßnahmen auch Schiebroek gerechnet wurde) verlassen. Ich habe sie darum in Edam untergebracht, von wo aus sie deportiert wurde.“
Ungefähr im April 1943 aus Edam deportiert. Nach Angaben des Standesamtes in Edam in Sobibor in Polen am 14. Mai 1943 „gestorben“ – sprich: ermordet.

Das Niederländische Rote Kreuz bestätigte 1960, dass: „Fanny Kusiel […] aus rassischen Gründen (wegen jüdischer Abstammung) am 23. April 1943 im K.L. Vught (Holland) inhaftiert, von dort am 9. Mai 1943 ins K.L. Westerbork Holland eingeliefert und am 11. Mai 1943 von K.L. Westerbork nach K.L. Sobibor deportiert wurde.“

Im Formular des Roten Kreuzes steht weiter: „Obengenannte Person gilt als gestorben am 14. Mai 1943 in Sobibor.“ Ein roter Stempel, der augenscheinlich häufig benötigt wurde, erklärt in bester Bürokratiesprache Näheres „mit dem Vermerk, dass die Feststellung des Todesdatums nicht auf Aussagen von Augenzeugen oder Lagerkommandanten stützt, sondern auf Schlussfolgerungen allgemeiner Art, wozu die Studierung des Schicksals des betreffenden Judentransports beim hiesigen Büro Veranlassung gegeben hat“.

Die beiden Töchter Alice (geboren 1893) und Peppi (Geboren 1899) wanderten in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. Als Alice bereits Enkelkinder hatte, schrieb sie für diese Erinnerungen aus ihrer Kinderzeit auf. Damals wohnte die Familie Kusiel noch nicht in Ludwigsburg (nur die Arbeit brachte den Vater täglich in die vergleichsweise große Stadt), sondern in Hochberg am Neckar. Aus diesen Aufzeichnungen erfahren wir vieles über die Eltern und das leben einer jüdischen Familie um die Jahrhundertwende:

„Ich weiß nicht mehr, wann genau ich zu sprechen anfing. Ich erinnere mich aber sehr gut, dass meine Mutter mir Geschichten und kleine Gedichte vorlas; letztere konnte ich zum Erstaunen aller Erwachsener bald rezitieren. Gleichzeitig brachte sie mir bei, Französisch zu verstehen und zu sprechen. Meine Mutter war eine wundervolle, kluge und bestens erzogene Frau, die als Jugendliche für fünf Jahre bei einer Tante in Paris gewohnt hatte, dort zur Schule gegangen war und natürlich fließend Französisch sprach.

Mein Vater hatte sein Geschäft in Ludwigsburg – von Hochberg aus konnte man dorthin nur mit Pferd und Kutsche kommen. Er importierte eine spezielle Rasse schwerer belgischer Pferde aus Belgien. In diesen Tagen, als an Lastkraftwagen noch nicht einmal gedacht war, wurden diese Pferde an Brauereien, Umzugsunternehmen, Bauhandwerker – kurz, an alle Berufsgruppen verkauft, die schwere Güter zu transportieren hatten.

Wenn Papa am Abend nach Hause kam, gab es Abendessen und danach spielte er mit mir, während Mutter das Geschirr abwusch. […] Am allerbesten erinnere ich mich bei diesen häuslichen Vergnügungen daran, dass wir mit Freuden zusammen sangen. Vokslieder, verrückte Lieder und sogar patriotische Lieder. Das muss für mich ein besonderes Vergnügen gewesen sein.

Wir lebten in einer Wohnung im Dachgeschoss des Rathauses, das war ein dreistöckiges Gebäude mit der Feuerwache im Erdgeschoss. Die bestand aus einem Löschwagen und Pferden – natürlich wurde der Wagen von Pferden gezogen und alle Feuerwehrleute waren Freiwillige. Papa war einer von ihnen.

Unsere Wohnung im zweiten Stock bestand aus einem großen Wohnzimmer, einem größeren und einem kleineren Schlafzimmer und einer Toilette. Ein Badezimmer oder auch nur fließendes Wasser hatten wir nicht. Wenn wir ein Bad nehmen wollten, wurde Wasser auf dem Herd heiß gemacht und in einen hölzernen Zuber gekippt. Jeder Raum hatte einen eisernen Ofen und es war eine regelrechte Schinderei, das Holz und die Kohlen zum Heizen den ganzen Winter lang jeden Tag heraufzuschleppen, um die Wohnung warm zu halten.“
Rahel Boell, Stolperstein-AG des Goethe-Gymnasiums Ludwigsburg
Jochen Faber

Portraitbilder Fanny und Salomon Kusiel: Stadtarchiv Ludwigsburg
Aufnahme des Grabsteins von Salomon Kusiel: Wim van Stiphout

Quelle für dem Schriftwechsel zur „Wiedergutmachung“: Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 350 I Bü 37652
Quelle für die Aufzeichnungen von Alice Ottenheimer, geb. Kusiel: Center for Jewish History, New York, http://www.cjh.org

Hugo Kümmerle

Der Eintrag „Polit.“ als einziger Hinweis

Solitudstraße 52

Am 26. Oktober 1897 wird Hugo Karl Kümmerle in Nordheim geboren, als ältestes von acht Geschwistern. Das Standesamt seiner Heimatstadt hält im Familienregister nur noch seinen Tod fest: Auschwitz, 5. Januar 1943.
Die Einwohnerdatei der Stadt Ludwigsburg nennt ihn zum ersten Mal am 20. August 1928. Von diesem Zeitpunkt bis ins Jahr 1939 hat er sieben verschiedene Wohnsitze in Ludwigsburg, ist zwischenzeitlich auch als „ohne festen Wohnsitz“ geführt. Der letzte Eintrag vor dem Sterbeeintrag besagt, dass er am 19. August 1939 zum Militär eingezogen wird. Da ist er schon 42 Jahre alt.
Dann taucht Hugo Kümmerle erst wieder am 7. März 1940 im „Gerichtlichen Gefangenenbuch“ der Haftanstalt Mannheim auf, wo als für ihn zuständige Behörde das Reichssicherheitshauptamt genannt wird. Der Haftgrund ist „Sch“, das bedeutet Schutzhaft – eine Haftform, die mit Schutz nun überhaupt nichts zu tun hatte.
Bis heute ist nicht zu ermitteln, was ihm genau vorgeworfen wurde und warum er in Haft kam. Von Mannheim wird er nach Ravensbrück verlegt, das dortige Nummernbuch gibt einen einzigen Hinweis: es nennt als Haftgrund „Polit.“, das heißt, er könnte ein sogenanntes „Politisches Vergehen“ begangen haben.
Was auch immer das gewesen sein mag, wir wissen es nicht. Von Ravensbrück kommt er im Oktober 1942 nach Auschwitz. Er wird dort als Zimmermann eingesetzt, erkrankt, erhält Medikamente. Das Standesamt Auschwitz verzeichnet als Todesdatum den 5. Januar 1943.
Sein letzter frei gewählter Wohnsitz war in der Solitudestraße 52, einem Haus, das längst abgerissen und durch einen Parkplatz ersetzt ist.

Christian Rehmenklau

Adolf Kehrer

Als könnten Menschenrechte krank werden

Hermann-Wißmann-Straße 19

Adolf Kehrer wurde am 17. März 1883 im damals noch selbstständigen Eglosheim geboren. Er arbeitete bei der Eisenbahn als Zugführer. Kehrer war mit der Neckarweihingerin Emma, geborene Hirsch, verheiratet. Das Ehepaar hatte drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter.

In den 1930er-Jahren erkrankte Adolf Kehrer, und seit Dezember 1933 lebte er in der Heilanstalt Weinsberg. Bei der Aufnahme war er 50 Jahre alt. Im Rahmen der «Euthanasie»-Aktion «T4» wurde Adolf Kehrer am 16. Juli 1940 mit weiteren Weinsberger Patienten auf die Schwäbische Alb gebracht und am selben Tag in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet. Er war verdienstvoller Erster-Weltkrieg-Soldat, aber auch das rettete ihn nicht. Adolf Kehrer wurde nur 57 Jahre alt.

Damit der Sterbeort Grafeneck bei Münsingen in den Heimatortschaften der Opfer nicht ins Gerede kam, wurden viele Sterbeurkunden gefälscht. Bei Adolf Kehrer stand: Anstalt Sonnenstein in Pirna bei Dresden. Das Sterbedatum war auf den 29. Juli 1940 datiert.

Danach bekamen die Angehörigen einen sogenannten «Trostbrief», der völlig verlogen war. Es stimmte nicht der Ort, das Datum, die Todesursache und ganz gewiss nicht das Bedauern über die plötzliche Krankheit des Verstorbenen. So wurde der Mord vertuscht.

In Weinsberg gibt es keine Krankenakte über Adolf Kehrer, auch nicht in Grafeneck. Sie wurde nach dem Tod des Patienten vernichtet. Im Staatsarchiv Ludwigsburg befindet sich sein Aufnahmeblatt von 1933, auf dem am 16. Juli 1940 vermerkt ist: ungeheilt verlegt nach unbekannt. Dass es sich um keine reguläre Verlegung handelt, ist daran zu erkennen, dass kein neuer Aufnahmeort angegeben wurde. Alle Euthanasieopfer in Württemberg wurden nach dem gleichen Schema eingetragen – und alle im Jahr 1940.

Die Planer dieser Tötungsbürokratie saßen in Berlin, in der Tiergartenstraße 4, daher die Bezeichnung «T4». Dort entschieden über 300 Beamte und Angestellte am Schreibtisch über Leben und Tod der Patienten, ohne sie je gesehen zu haben. Die Leiter der Heilanstalten hatten kein Mitspracherecht und kein Vetorecht.

Angekündigt wurden die «Verlegungen» jeweils durch einen Erlass des Württembergischen Innenministeriums, der folgenden Wortlaut hatte: «Unter Bezugnahme auf meinen Runderlass vom 23. November 1939 ordne ich die Verlegung der aufgeführten Kranken aus Ihrer Anstalt an. Die Abholung der Kranken erfolgt durch die Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH. Der Transport ist von der Abgabeanstalt vorzubereiten; unruhige Kranke sind mit entsprechenden Mitteln für einen mehrstündigen Transport vorzubehandeln. Die Kranken sind soweit möglich, in eigener Kleidung zu übergeben. Privateigentum kann bis zum Gewicht von 10 KG mitgegeben werden. Die Krankenakten sind dem Transportleiter auszuhändigen. gez. Dr. Stähle.» – Kein Wort über den neuen Aufenthaltsort und den Grund der Verlegung stand in diesem Schreiben.

Möglichst unauffällig sollte alles vor sich gehen. Denn was auf der Höhe über dem Lautertal hinter Bretterzaun und Stacheldraht geschah, von Hunden bewacht, war so grausam, dass es zur «Geheimen Reichssache» erklärt wurde.

Schloss Grafeneck – bislang ein Heim für «krüppelhafte Männer» – war im Herbst 1939 beschlagnahmt und in Windeseile umgebaut worden. Im Januar 1940 traf bereits der erste Transport ein. Dort, wo bislang Behinderte Pflege bekamen, ermordete man sie. Nicht im Schloss – da wohnte das Personal. Ein Schuppen daneben war zur Gaskammer umgebaut worden. Nur wenige Meter vom Vergasungsort entfernt richtete man ein Krematorium ein.

Die Kranken wurden aus ihren Heimen mit den berüchtigten grauen Autobussen abtransportiert. Die Fenster der Fahrzeuge waren bis oben grau gestrichen, damit niemand hinaus und keiner hinein sehen konnte. Meistens täuschte man den Patienten einen Ausflug vor. Vor der Abfahrt wurde mit Tintenstift eine Zahl auf den Rücken oder Arm der Reisenden geschrieben. Diese Ziffern standen auch auf der Krankenakte und später auf der Urne.

Kam ein Transport in Grafeneck an, wurden die Kranken in einer Baracke ausgezogen, gemessen und begutachtet. Danach führte der Weg in die Gaskammer – angeblich ein Duschraum, der 75 Personen fassen konnte. War die Tür verriegelt, strömte Kohlenmonoxid-Gas herein. Nach 20 Minuten war alles Leben in der Kammer erloschen. Danach wurden die Toten verbrannt. Tag und Nacht rauchten die Schornsteine.

Das blieb der Bevölkerung nicht verborgen. Die Leute drohten mit Sätzen: «Halt den Mund, sonst gehst auch den Kamin hoch!» oder «Du kommst noch mit den grauen Wagen fort!» Wenn im Eisenbahnzug, der nach Münsingen fuhr, das Schloss Grafeneck ins Blickfeld kam, verstummten die Gespräche und die Leute schauten wie gebannt hinauf zum Schloss.

Von Januar bis Dezember 1940 wurden in Grafeneck laut neuester Forschung 10.824 Menschen getötet. Danach wurde die Vernichtungsanstalt geschlossen und das Personal nach Hadamar in Hessen versetzt. Dort gingen die Krankenmorde unvermindert weiter. Später kamen weitere Tötungsanstalten dazu, insgesamt waren es sechs.

Als «Anstalt A» war Grafeneck Modell für den systematischen Mord an Behinderten. Im gesamtem war die später so genannte «Aktion T4» die Generalprobe dafür, unerwünschte Menschengruppen zu vernichten. Das selbe Personal baute später die großen Vernichtungslager in Polen.

Die Krankenmorde zeigen die menschenverachtende Politik und Ideologie des NS-Regimes und seiner Verantwortlichen. Sie töteten, weil sie Nahrungsmittel sparen wollten, Platz für Lazarette benötigten und weil sie sich von der Ermordung der Kranken eine Gesundung des «Volkskörpers» versprachen. Die Opfer bezeichneten sie als «unwertes Leben», «seelenlose Menschenhülsen» oder «unnütze Esser».

Im August 1941 endeten diese Gas-Morde; der Russlandfeldzug hatte begonnen und es musste die Loyalität von Bevölkerung und Wehrmacht sichergestellt werden. Nach der zentral gelenkten «Euthanasie»-Aktion folgte eine dezentrale, in der bis 1945 in einer Vielzahl von Anstalten weiter gemordet wurde, die «wilde Euthanasie». Insgesamt starben in Deutschland mehr als 100.000 kranke Menschen.

Heute ist Grafeneck für geistig Behinderte und psychisch Kranke wieder ein Ort des Lebens. Auf dem Rasen vor dem Eingang und auf den Wegen herrscht ein vielfältiges Treiben, denn nach dem Krieg wurde Grafeneck wieder zum Pflegeheim.

Lange Zeit wurden die Gräuel der NS-Zeit verdrängt. Erst in den 1960er-Jahren entstand beim Grafenecker Friedhof eine kleine Gedenkstätte. Bis 1982 sollte es dauern, ehe auch eine Tafel an die Opfer erinnerte.

Heute gibt es in Grafeneck, wie auch in den anderen Todesanstalten, ein sehenswertes Dokumentationszentrum und auf dem kleinen Friedhof eine eindrucksvolle Gedenkstätte mit einem Namensbuch. Tausende Namen sind dort bereits registriert und viele Schicksale aufgearbeitet.

Dieser Stolperstein würdigt Adolf Kehrer. Nur 10 x 10 cm misst der Stein, aber es geht eine große Wirkung von ihm aus. Sie sollen – natürlich nur symbolisch – über ihn stolpern, innehalten, lesen, nachdenken – und vielleicht wird dann aus dieser kleinen Aktion auch mehr.

Karin Kohler

Fotomontage oben: Gebäude Hermann-Wißmann-Straße 2009,
Portrait Adolf Kehrer aus Privatbesitz