Richard Werner

42jähriger Oßweiler wurde ermordet

Hermann-Löns-Straße 13

Richard Werner kam am 10. Mai 1898 zur Welt. Er heiratete Lina Kunst, eine Fabrikarbeiterin. Das Paar lebte in Oßweil in der heutigen Hermann- Löns-Straße 13.

Aus den Akten des Vormundschaftsgerichts wissen wir, dass er am 10. September 1925 „infolge einer Geistesstörung“ in die Heilanstalt Weinsberg eingeliefert wurde. Ein Antrag auf Invalidenrente wurde gestellt, laut ärztlichem Gutachten sei eine Verständigung mit Richard Werner nicht möglich gewesen. Da sein Bruder die Pfl ege nicht übernehmen wollte oder konnte, wurde ein gewisser Karl Stuber per Handschlag verpfl ichtet. Dieser ließ notariell beglaubigen, dass Werner außer der Kleidung und Dingen persönlichen Gebrauchs nichts besaß, ein Vermögensverzeichnis wurde daher nicht erstellt.

Regelmäßig erstattete Karl Stuber Berichte für das Vormundschaftsgericht, dass sich an der Vermögenslage nichts geändert habe. Die Rente wurde nach Weinsberg überwiesen, er selbst habe weder Einnahmen noch Ausgaben. Der Bericht für 1940 fehlt, denn am 19. August 1940 wurde Richard Werner nach Grafeneck „verlegt“ und dort am gleichen Tag ermordet.

Christian Rehmenklau

 

 

Karl Merkle

Der junge Mann wurde „leutscheu“

Baltenstraße 28

Karl Heinrich Merkle wurde am 16. Juli 1881 in Oßweil geboren. Er lebte mit seiner Familie in der Baltenstraße 28.

Im Februar 1935 wurde im Kreiskrankenhaus Ludwigsburg die Diagnose „Schizophrenie“ gestellt. Seine Schwester berichtet, der Bruder sei zwanzig Jahre lang normal gewesen, „im 20. Lebensjahr wurde er leutscheu“, habe Angstzustände bekommen, man habe befürchtet, er würde sich das Leben nehmen.

Im März 1901 kam er in die Heilanstalt Weinsberg. Die Einträge in der Krankenakte waren zunächst ausführlich, wurden dann immer sporadischer und gleichförmiger. „Außerordentlich stumpf und teilnahmslos, schwere Demenz, pfl egebedürftig.“ So und ähnlich lauteten die Berichte.

Am 16. Juli 1940 wurde er nach Grafeneck „verlegt“ (dieser vermeintlich unauff ällige Begriff steht in der Geschichte der NS-Krankenmorde für „zur Tötung weggebracht“) und am gleichen Tag ermordet. Die Nazi-Behörden verschleierten Todestag und Sterbeort, damit das System ihrer Taten nicht erkennbar werden sollte. Auf diese Art sollte verhindert werden, dass sich Protest hätte entwickeln können.

Christian Rehmenklau

 

 

Pauline Schenk

Ein Leben in Arbeit und Anstalten

Hospitalstraße 39

Pauline Helene Schenk wurde am 5. Januar 1880 in Ludwigsburg geboren. Sie war erst drei Jahre alt, als ihr Vater starb. Ihre Mutter verdiente von nun an als Waschfrau alleine den kärglichen Unterhalt für sich und ihre sieben Kinder.

Nach Abschluss der Volksschule trug Pauline als Dienstmädchen zum Lebensunterhalt der großen Familie bei. Gegen Ende ihres 16. Lebensjahres litt sie zum ersten Mal unter schizophrenen Schüben. Im Januar 1897 wurde sie in die Heilanstalt Winnenthal eingeliefert.

Sie war verwirrt und litt unter lebhaften Sinnestäuschungen. Sie glaubte bald in Stuttgart, bald in Ludwigsburg zu sein. Manchmal war sie heiter und lachte, aber meist war sie ängstlich und manchmal weinte sie. Sie interessierte sich nicht für ihre Umwelt und versteckte sich meist unter ihrer Bettdecke. Im Winter 1903 wurde sie ungeheilt in der Anstalt Göppingen aufgenommen. Ihr Zustand und ihr Verhalten änderte sich nicht.

Im Dezember 1922 wurde sie in die Anstalt Weissenau überwiesen, wo sie von da an 18 Jahre verbringen sollte. Im Sommer 1924 erkrankte sie an Tuberkulose, die sie jedoch überstand. Ihr körperlicher Zustand war dann wieder so gut wie zuvor. Am 28. August 1940 wurde sie in einem der grauen Busse in die Tötungsanstalt Grafeneck deportiert und dort am selben Tag in der Gaskammer ermordet.

andreas nothardt

 

 

Mathilde Spindler

Sie glaubte, ihr gehöre das Weltall

Lindenstraße 1

Mathilde Spindler wurde am 15. Februar 1877 in Hof und Lembach bei Großbottwar geboren. Nach ihrer Schulzeit war sie als Köchin und als Dienstmädchen in Stellung. Im Lauf des Jahres 1902
wiesen nach ärztlicher Ansicht erste Anzeichen geistiger Verwirrtheit, verbunden mit Wahnvorstellungen, darauf hin, dass sie an Schizophrenie erkrankt sei.

Im Dezember 1912 zog die ganze Familie nach Ludwigsburg. Fünf Jahre später wurde Mathilde Spindler in die Heilanstalt Göppingen eingewiesen, wo sie fünf Jahre verbrachte. In der Krankenakte wird festgehalten, dass sie körperlich gesund sei, aber immer wieder an Größenwahn grenzende Ideen äußere. Sie phantasiere zum Beispiel, dass sie Millionen besitze, dass sie
ein Recht auf das Schloss in Stuttgart habe, dass sie Weltallbesitzerin sei.

Schließlich wurde Mathilde Spindler im Dezember 1922 in die Heilanstalt Weissenau aufgenommen, wo sie die letzten 18 Jahre ihres Lebens in voller körperlicher Gesundheit, aber ohne Besserung ihres geistigen Zustandes verbringen sollte. Ihr Größenwahn nahm immer groteskere Züge an. Sie hielt sich für die Reichskanzlerin. Sie erklärte: „Jetzt lasset me no amol nach Berlin, damit au Schwung in die Regierung kommt. Meinet denn dui, si könnet schlofa? I bin dem Hitler sei Frau, i bin d‘ Hitlere.“

Mathilde Spindler wurde am 16. Oktober 1940 mit einem der berüchtigten grauen Busse von der Anstalt Weissenau in die Tötungsanstalt Grafeneck transportiert. Sie wurde dort am gleichen
Tag in der Gaskammer ermordet.

andreas nothardt

 

 

Julius Weber

Weitgereist und eingesperrt

Bahnhofstraße 29

Julius Edward Christian Weber zog im Alter von 54 Jahren nach Ludwigsburg. Er war am 19. Juni 1868 in Oldenburg geboren worden.

Er lebte zwischen 1922 und 1925 in Ludwigsburg, seine letzte Adresse war die Bahnhofstrasse 29. Danach begannen lange Jahre in der Psychiatrie: Von seiner Ludwigsburger Wohnung wurde er im Januar 1926 in die Heilanstalt Weinsberg gebracht. Im Alter von 72 Jahren wurde er am 16. Juli 1940 nach Grafeneck „verlegt“, dieser Tag ist auch sein Todestag, er wird in Grafeneck ermordet.

Über sein Leben, bevor er nach Ludwigsburg kam, wissen wir wenig. Im Archiv seiner Geburtsstadt ist überliefert, dass er Oldenburg 1892 verließ und im September 1913 von Paris zurückkehrte.
Danach lebte er in München und dann in Stuttgart. Als Beruf ist angegeben: „1. Stadtrat a.D.“ – diese Bezeichnung fi ndet sich auch im Stadtarchiv Ludwigsburg.

Christian Rehmenklau

 

 

Veranstaltungshinweis

Samstag, 30. Juni 2018, 17.30 Uhr, Stadtpalais, Konrad-Adenauer-Straße 2, Stuttgart
Film-Uraufführung: Stetten. Grafeneck. 1940
Der neue Allmende-Film aus der Reihe „Projekt Dorfgedächtnis“.

Stuttgarter Uraufführung im Rahmen der Veranstaltungswoche „Schlaf, Kindlein, Schlaf“.403 Behinderte aus der Anstalt Stetten und der 1939 nach Stetten ausgelagerten badischen Anstalt Kork wurden 1940 mit den „Grauen Bussen“ nach Grafeneck transportiert und dort vergast.
70 Jahre später fand in Stetten eine Gedenkaktion statt. Im Dorf wurden 403 Stühle mit den Namen der Ermordeten aufgestellt, mit Hussen, die von Familienangehörigen, Schulklassen und KünstlerInnen gestaltet wurden. Im Rahmen der Gedenkaktion wurden zahlreiche Interviews mit ZeitzeugInnen aus dem Dorf, VertreterInnen der Einrichtung, Verwandten und Nachkommen der Toten geführt. So entstand ein Kaleidoskop der Erfahrungen und unterschiedlichen Reaktionen auf die „Euthanasie“.
Eintritt frei.

Einladung zur Gedenkfeier

am 27. Januar 2018

für die 120 Menschen aus der Landesfürsorgeanstalt Markgröningen,
die nach Grafeneck deportiert und dort umgebracht wurden.

Beginn 19 Uhr
mit einer Gedenkminute am Mahnmal

19:15 Uhr Gedenkveranstaltung im Mehrzwecksaal des Behindertenheims
Markgröningen

Die Nazis und ich

Harry Grenville

Ich begann mein Leben nicht als Harry Grenville, sondern als Heinz Greilsamer. Als ich noch während des Zweiten Weltkriegs in der Britischen Armee diente, musste ich meinen Namen ändern – wäre jemand mit einem deutsch klingendem Namen gefangen genommen worden, dann wäre nicht nach dem Kriegsgefangenen-Status gefragt worden – man wäre erschossen worden.

Ich will versuchen, die Geschichte des Nazismus so kurz wie möglich zu halten, ehe ich von meinen eigenen Erfahrungen mit diesem Regime aus den Jahren 1933 bis 1939 berichte. Es war schon etwas sonderbar: In dem Maß, in dem die Juden im Europa des 19. Jahrhunderts mehr Bürgerrechte erhielten, wuchs auch eine gewisse Judenfeindlichkeit. Juden war es bis in die 1860er-Jahre nicht erlaubt gewesen, in Städten zu wohnen – genau das tat, sobald es möglich war, die Familie meiner Mutter: Ein großer Clan von Leuten namens Ottenheimer zog nach Ludwigsburg – meine Heimatstadt in der Nähe von Stuttgart.

Mein Großvater Josef Ottenheimer war, wie die meisten Juden des Mittelstands, ein begeisterter deutscher Patriot. In den 1880er-Jahren leistete er seinen nationalen Dienst in der Deutschen Armee; sein einziger Sohn Wilhelm wurde im Ersten Weltkrieg getötet. Großvater erlebte die Lebensmittel-Rationierung in diesem Krieg; sein Zigarren-Import ging in der großen Inflation von 1923 unter. Diese Inflation war die Folge des Versailler Friedensvertrags, der Deutschland wirtschaftlich ruinieren sollte. 1925 gründete mein Großvater ein neues Geschäft: Er versorgte kleine Läden mit Packpapier und Papiertüten. Sein Partner war sein Schwiegersohn Jakob Greilsamer und meine Mutter Klara sorgte dafür, dass im Büro alles rund lief. Meine Großmutter Sara besorgte für beide Familien den Haushalt.

Ich weiß ziemlich wenig über die Familie meines Vaters, doch interessanter Weise war mein Großvater väterlicherseits 1871 in Paris, als dieses von den Preußen belagert wurde. Mein Vater arbeitete vor dem Ersten Weltkrieg in Algier im Kapok-Export und wurde von den Franzosen während des Kriegs festgenommen. Kapok war eine Naturfaser wie Baumwolle, aus der Kissenbezüge und Matratzen gemacht wurden.

Die Nazi-Partei, genauer gesagt die NSDAP, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei (was das Ganze politisch ein wenig linkslastig klingen ließ), existierte schon kurz, ehe Adolf Hitler beitrat. Bald beherrschte er sie völlig. Um die Nazis zu verstehen, muss man sich Wien im frühen 20. Jahrhundert vorstellen: Es war die ebenso große wie marode Hauptstadt von Österreich-Ungarn – und das strahlende Zentrum des kulturellen Lebens in Europa, in dem Juden eine große Rolle spielten.

Hitler war gebürtiger Österreicher und Opfer eines herrschsüchtigen Vaters. Er hielt sich für einen aufsteigenden Künstler – nur war er leider ohne jedes Talent. Wieder und wieder versuchte er, an einer Kunstschule aufgenommen zu werden, doch er endete als Herumtreiber auf dem Weg nach unten, der seine schlecht gemalten Bildpostkarten auf der Straße zu verkaufen versuchte. Diese Phase seines Lebens wurde von August Kubizek festgehalten, der ihm zu helfen versuchte.

Seine Chance kam im Ersten Weltkrieg, als er sich in der deutschen Armee als Frontbote verdingte. In den frühen 1920er-Jahren landete er im München, der Hauptstadt des politisch sehr unbeständigen Bayern. 1923 führte er den so genannten Hofbräuhaus-Putsch an, um mit der Nazi-Partei an die Macht zu kommen. Die Polizei schlug den Putsch nieder, Hitler wurde angeklagt und zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Es ging mit der Nazipartei mal bergauf und mal bergab, Straßenschlachten mit den Kommunisten waren an der Tagesordnung. Doch 1933 wurden die Nazis die größte Partei im Reichstag, dem deutschen Parlament – und Hitler wurde zum Reichskanzler gemacht. Der alte preußische General Hindenburg war Reichspräsident; nach seinem Tod erklärte Hitler sich zum Führer mit diktatorischer Macht. Am 1. April 1933 zettelten Sturmtruppen der Nazis einen Boykott gegen alle jüdisch betriebenen Geschäfte an: Sie wollten die Deutschen davon abhalten, dort einzukaufen.

Zweifellos war Hitler ein charismatischer Führer mit hypnotischer Macht über die Deutschen. Man hat das oft in den Filmaufnahmen der Hasstiraden gesehen, die er vor seinen Parteigetreuen hielt. Wer an seiner geistigen Verfassung zweifelt, sollte das hier lesen – ein Zitat aus einem Buch über die Tischgespräche im Führerhauptquartier: „ein Alptraum von der Verführung hunderter und tausender von Mädchen durch abscheuliche, krummbeinige jüdische Bastarde (…) Mit satanischer Freude in seinem Gesicht lauert der schwarzhaarige junge Jude auf das arglose Mädchen, um sein Blut zu schänden. Das letzte Ziel der Juden ist die Entnationalisierung (…) durch die Bastardisierung anderer Nationen soll deren höherer rassischer Rang hinabgezerrt werden (…) mit dem insgeheimen Ziel, die weiße Rasse zu zerstören.“
Es war nur ein kleiner Schritt von solchen Schauerphantasien zu den Nürnberger Gesetzen von 1935, die es Juden verboten, Nicht-Juden zu heiraten oder sie auch nur als Hausangestellte zu beschäftigen. Im November 1938 kam die „Reichskristallnacht“, die Nacht der zerbrochenen Fensterscheiben, in der fast alle Synagogen in Brand gesteckt wurden, in der braune Horden die Fenster jüdischer Geschäfte einwarfen und in die Häuser von Juden eindrangen, in der viele Juden verhaftetet und in Konzentrationslager geschickt wurden. Dort wurden schon zu dieser Zeit einige ermordet, andere begingen Selbstmord. Wieder andere kamen endlich wieder frei. Alle jüdischen Unternehmen wurden bei geringer oder gar keiner Entschädigung enteignet – auch unser kleiner Familienbetrieb.

Nachdem der Zweite Weltkrieg begonnen war, kam Hitlers Plan zur Vernichtung aller Juden in Gang. Ein markantes Ereignis war dabei die Wannseekonferenz vom Januar 1942, bei der eine Gruppe von Nazi-Beamten aller Ministerien, der Reichsbahn und Industrievertreter aus den Bereichen Chemie und Anlagenbau im Detail ausarbeiteten, wie der Völkermord an den Juden industriell umgesetzt werden soll. Juden aus ganz Europa sollten in Ermordungslager in Polen transportiert werden, dort sollten sie durch Giftgas getötet werden und ihre Leichen sollten in riesigen Öfen verbrannt werden. Diese Methode sollte rationeller und billiger sein als die Menschen zu erschießen. Das Vorhaben war nicht ganz abgeschlossen, als die Rote Armee 1945 einige Überlebende befreite, doch die Zahl von sechs Millionen Menschen, die auf diese Weise ermordet wurden, ist allgemein anerkannt – die meisten von ihnen Juden, doch auch Sinti und Roma, Homosexuelle und politische Widerstandskämpfer waren darunter. Meine Eltern und meine Großmutter überlebten das Ermordungslager in Auschwitz nicht. Meine Tante, die in Berlin gelebt hatte, wurde 1942 in Riga ermordet.

1933 war ich sieben Jahre alt und verstand sehr wenig von dem, was geschah. Doch der Boykott der jüdischen Geschäfte in der Stadt machte einen bleibenden Eindruck auf mich. Zu diesem Zeitpunkt hatten Juden keinen Grund zur Annahme, dass ihr Leben bald bedroht sein würde, und nur wenige kamen auf die Idee auszuwandern. Eine Ausnahme war die Familie eines jüdischen Arztes, zu der meine Großmutter Kontakt hatte. Diese Familie lebte in Nürnberg und der Arzt wurde aus dem Haus gezerrt und musste in einer öffentlichen Grünanlage mit vielen anderen zusammen Gras mit den Zähnen ausreißen. Der Doktor wanderte im Sommer 1933 mit Frau und Sohn nach Südafrika aus.

Meine ersten zwei Jahre in der Grundschule waren langweilig. Ich konnte schon lesen, ehe ich zur Schule kam, und mein Klassenlehrer war ein blasser Pedant. 1934 und 1935 kam ich dann unter den Einfluss von Herrn Kuhn – ein brillanter und faszinierender Lehrer. Einige seiner Kopfrechentricks verwende ich bis zum heutigen Tag. Wir bekamen Einblicke in deutsche Literatur, obwohl wir erst acht und neun Jahre alt waren. An jedem Tag wurde eine Unterrichtsstunde vom Klassenlehrer gestaltet – Heimatkunde. Herr Kuhn nutzte diese Zeit, um mit uns Übersetzungen klassischer griechischer und römischer Literatur zu lesen.
Andere Lehrer nutzten diese Stunden, um ihre Schüler mit den Überzeugungen der Nazis zu indoktrinieren. Ich erlebte zunächst ziemlich wenig anti-jüdische Haltung von meinen Klassenkameraden, doch wäre ich länger in dieser Schule in Ludwigsburg geblieben, hätte sich das sicher geändert. 1936 wurde ich auf eine weiterführende Jüdische Schule in Stuttgart geschickt, eine zwanzigminütige Zugfahrt und einen fünfzehnminütigen Fußweg entfernt. In dieser Zeit lernte ich, immer auf der anderen Straßenseite zu gehen, wenn kleine Abteilungen der Hitlerjugend dahermarschierten.

Es gab eine ganze Reihe von inspirierenden Lehrern an der Jüdischen Schule. Einer von ihnen ragte besonders heraus: Herr David, der uns biblisches und modernes Hebräisch sowie Deutsch lehrte. Er war ein begeisterter Zionist und plante dorthin zu emigrieren, was damals noch das britische Mandatsgebiet Palästina war und was später der Staat Israel werden sollte. Nach dem Pogrom der Kristallnacht tötete er seine Frau und ihren kleinen Sohn und beging Selbstmord. Meine Eltern und Großeltern taten ihr Bestes, dies vor mir zu verbergen, doch irgendwie wusste ich es doch. Die Schule war auf dem Grundstück der großen Stuttgarter Synagoge, die niedergebrannt worden war – daher hatten wir für einige Monate keine Schule. Als sie wieder eröffnet wurde, waren die Klassen kleiner, weil zahlreiche Schüler und auch Lehrkräfte emigriert waren.

Die Kristallnacht führte auch in Ludwigsburg dazu, dass die Synagoge niedergebrannt wurde. Ich habe ein Foto des brennenden Gebäudes, das 1978 in der jährlichen Veröffentlichung des Ludwigsburger Historischen Vereins gedruckt wurde. Damals konnte ich den Rauch von unserer Wohnung aus sehen. Am nächsten Tag kam die Gestapo, um meinen Großvater zu verhaften, aber irgendwie konnte meine Großmutter sie davon überzeugen, dass er zu krank war, um transportiert zu werden.

In der selben Wohnung wohnte Albert Ottenheimer, der jüngere Bruder meiner Großmutter mit seiner Frau Alice und zwei Söhnen. Der ältere war 17 und hieß Johnnie (ursprünglich Hans) – er wurde verhaftet und sechs Wochen lang in das berüchtigte Konzentrationslager Dachau gesperrt. Ich erinnere mich bis heute an seine fürchterlich erfrorenen Hände, als er zurückkam. Bald darauf konnte er nach New York kommen und ist nun, 2013, da ich diese Erinnerungen aufschreibe, 92 Jahre alt. Seine Eltern und sein jüngerer Bruder Fred (damals Fritz) kamen irgendwie aus Deutschland heraus und konnten über Lissabon ausreisen und Johnnie in New York wiedertreffen. Inzwischen sind alle drei gestorben.

Nach der Kristallnacht versuchten erwachsene Juden, nicht mehr auf der Straße gesehen zu werden. Mein Vater war damals gerade auf einer Geschäftsreise und blieb extra einige Tage länger fort, bis die Lage nicht mehr ganz so aufgewühlt war. Die Erwachsenen trauten mir zu, Ärger zu umgehen, und schickten mich nach Stuttgart, um über einen Verwandten Tabletten zu besorgen, die mein Großvater brauchte. Als ich auf dem Rückweg im Zug saß, kamen einige Arbeiter von der Bosch-Zündkerzenfabrik in den Waggon und nahmen mich offensichtlich als zwölfjährigen Juden wahr. Sie hatten größte Freude daran, sich unter lautem Gelächter darüber zu unterhalten, dass sie in der letzten Nacht die Synagoge dieses Jungen niedergebrannt hätten, während ich versuchte, so unverdächtig wie irgend möglich auszusehen.

Es bleibt dem britischen House of Commons auf ewig hoch anzurechnen, dass sie bis zu 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei ohne Begleitung Erwachsener nach England kommen ließen – den so genannten Kindertransport. Meine Mutter arbeitete zu dieser Zeit im Büro der Stuttgarter Jüdischen Gemeinde. Meine Eltern fassten dann den furchtbar schweren Entschluss, meine Schwester und mich für den Kindertransport anzumelden. Hannah war knapp elf Jahre alt, ich selbst dreizehn. Wir reisten im Sommer 1939 ab und waren überglücklich, von einer freundlichen nicht-jüdischen Familie in Nord-Cornwall aufgenommen zu werden. Sie hatten zwei eigene Söhne, die inzwischen in den 80ern sind und mit denen ich nach wie vor in regelmäßigem Kontakt stehe.

Die Nazis behinderten diese Ausreise von Juden in keiner Weise, sieht man von einer erheblichen Finanzabgabe für künftigen Steuerausfall ab. Das Problem waren die Zielstaaten, die konsequent ihre Einwandererzahlen beschränkten. Großbritannien verlangte solide finanzielle Garantien, ebenso die Vereinigten Staaten von Amerika, zusätzlich zu streng einzuhaltenden jährlichen Zahlungen. Noch schwieriger war es, in das Mandatsgebiet von Palästina zu kommen, die Quote für legale Einreisende war sehr klein und illegale Einwanderer wurden sofort in Zwischenlager nach Zypern geschickt.
Meine Eltern ließen sich beim US-Konsulat in Stuttgart für die Einreise in die USA registrieren. Mit ihren Registrierungsnummern hätten sie eigentlich im Sommer 1942 einreisen können, doch Ende 1941, nach den Angriffen auf Pearl Harbour, war Amerika in den Zweiten Weltkrieg eingetreten und alle vorherigen Zusagen galten nicht mehr. Ich bezweifle auch, ob meine Eltern je meine Großmutter zurückgelassen hätten.

Ich muss etwas über Nazis und Nicht-Nazis in Deutschland sagen. Mein Klassenlehrer Kuhn war eindeutig kein Nazi und ebenso erinnere ich mich an Herrn Bronner, der einen großen Gemüsehandel betrieb und einen parkartigen Garten ganz in der Nähe unserer Wohnung hatte. Er sagte uns, dass wir immer zum Spielen in seinem Garten willkommen seien. Soweit ich weiß, wurde er einmal für kurze Zeit eingesperrt, weil er etwas Abfälliges über Mussolini gesagt hatte und sein eigener Sohn ihn bei seinem Hitlerjugend-Anführer denunziert hatte.

Mein großer Held war Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler der neuen westdeutschen Regierung von 1949 bis 1963. Er setzte sich stark dafür ein, den neuen Staat Israel finanziell und politisch zu unterstützen. Er bestand auch darauf, dass überlebende Opfer der Naziverbrechen persönlich entschädigt werden sollten. Er wird als einer der Gerechten Nicht-Juden in Yad Vashem, dem Holocaust-Museum, gewürdigt. Er war der hoch angesehene Oberbürgermeister von Köln gewesen und zweimal verhaftet worden, doch ähnlich wie in den letzten Jahren Aung San Suu Kyi in Myanmar keine brutale Gewalt erdulden musste, kam auch er durch die 1930er-Jahre.

Nun, zwei Generationen später, glaube ich, dass die Deutschen ihre Vergangenheit nicht länger verdrängen und leugnen. Vielmehr stellen sie sich dem Schrecken. Ganz persönlich habe ich die Erinnerungsveranstaltung von 2009 als großen Trost empfunden, als auf dem Gehweg vor dem Zuhause meiner Eltern und meiner Großeltern „Stolpersteine“ verlegt wurden, wie auch schon im Jahr zuvor vor dem Haus, in dem meine Tante Florina Ottenheimer gewohnt hatte.

Vor einigen Tagen habe ich ein Gedicht von Lotte Kramer gelesen – sie kam selbst mit dem Kindertransport nach England und ist heute 89 Jahre alt. In diesem Text zeichnet sie eine Parallele zwischen einerseits der biblischen Geschichte von Moses‘ Mutter, die ihn in einem Körbchen auf dem Nil aussetzte und hoffte, dass jemand ihn finden und retten würde (was die Tochter des Pharaos dann ja auch tat), und andererseits dem Opfer, das jüdische Eltern brachten, indem sie ihre Töchter und Söhne mit dem Kindertransport fortschickten:

Exodus

Allen Müttern voller Angst,
die ihre Kinder
in einen kleinen Korb legen,

die den Fluss sie wiegen lassen
zu freundlichen Händen,
die sie liebevoll erziehen,

die sie versorgen und schützen
in einer feindlichen Welt,
ihnen gilt unser stetiger Dank.

So wurden in diesem letzten Jahrhundert
die vollgestopften Züge,
die uns fortfuhren von zuhause,

unsere ratternden Kinderkörben,
die uns in fremde Länder brachten,
auf unserem Exodus vom Tod.
Exodus

For all mothers in anguish
Pushing out their babies
In a small basket

To let the river cradle them
And kind hands find
And nurture them

Providing safety
In a hostile world:
Our constant gratitude.

As in this last century
The crowded trains
Taking us away from home

Became our baby baskets
Rattling to foreign parts
Our exodus from death.

 

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