Karl Müller

Er hatte zu Hoffnungen Anlass gegeben

Jägerhofallee 2

Am 16. Juli 1940 wurden 18 Menschen aus dem Landkreis Ludwigsburg in grauen, fensterlosen Bussen in die Anstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb gebracht und dort ermordet – einer von ihnen war Karl Müller, geboren am 5. Juli 1904 in Ludwigsburg.

In der Jägerhof-Allee 2, im ersten Stock, lebte Karl Müller mit seiner Mutter, bis er 1927 in die Anstalt Weinsberg aufgenommen wurde. Mit 16 stürzte er beim Turnen auf den Kopf, seither hatte er epileptische Anfälle. Nach dem Tuberkulose-Tod seines Brudes im Jahr 1926 habe der sehr religiöse junge Mann sich stark verändert: „Aufgeregtes Wesen, tobsüchtig, gewalttätig. Kein Anfall. Wird in weinerlichem Zustand gebracht, ist dabei völlig klar und orientiert. Grübelt am nächsten Tag still vor sich hin, liest in der Bibel (…) während der folgenden Woche annähernd normales Verhalten ohne auffälliges Wesen. Dann nachts plötzlich schwerster Erregungszustand, geht auf Zimmergenossen los unter völliger Verkennung der Umgebung, halluziniert lebhaft.“ Weiter heißt es:  „Grund der Anstaltsbedürftigkeit: Pflegebedürftig, gefährlich für andere.“

Über Karl Müller erfahren wir in den Akten, dass er in der Schule schnell gelernt habe, aber mit den Kameraden oft Streit gehabt habe. Nach der Schule machte er eine Lehre als Flaschner, ein Beruf, in dem auch der Vater gearbeitet hatte. Er sei später Angestellter, bei „schwerem Geschäftsgang“ auch mal arbeitslos gewesen.

Andere Hilfen als ein Leben in der Anstalt erschienen nicht möglich. In einem typischen Eintrag im Krankenbericht im Oktober 1937 heißt es: „Das Zustandsbild des Patienten ist ziemlich stabil: Er kann längere Zeit ganz ruhig und geordnet sein, dann kommen plötzlich endogene Verstimmungszustände, er wird erregt, als Abschluss immer Anfälle.“ Die Akte endet am 16. Juli 1940 mit dem handschriftlichen Vermerk: „In andere Anstalt verlegt“.

Christian Rehmenklau

Wilhelm Ziegler

Kriegsfreiwilliger, Kaufmann, krank – umgebracht

Friedrichstraße 30

Wilhelm Ziegler wurde am 9. Mai 1884 in Ludwigsburg geboren. Seine Eltern sind Wilhelm und Karoline, geb. Etter. Am 2. Dezember 1919 heiratet er in Heilbronn Elisabeth Klein, die drei Jahre jünger ist als er. Sein Beruf wird mit Kaufmann angegeben. Das Ehepaar wohnt spätestens ab 1920 in der Friedrichstraße 30 im zweiten Stock.
Während des Ersten Weltkriegs ist Wilhelm Ziegler Kriegsfreiwilliger in einer Artillerieeinheit, zuletzt in einem Artilleriedepot.
Seit 1924 ist Wilhelm Ziegler immer schwerer erkrankt. 1930 verschlechtert sich sein Zustand dermaßen, dass er selbst seine Zustimmung zur Einlieferung in die Heilanstalt Weinsberg gibt.
Seine Frau erklärt am selben Tag: „Der Zustand meines Mannes ist derart, dass ein Zusammenleben mit ihm unmöglich ist. Er leidet an Wahnvorstellungen und bedroht mich öfter….“
Nach seinem Einzug am 28. Februar 1930 lebt er zehn Jahre lang in der Heilanstalt Weinsberg.
Bis zu seiner „Verlegung in eine andere Anstalt“, im Klartext: bis zu seiner Ermordung in Grafeneck am 19. August 1940 bleibt er in Weinsberg.
Als Todesort ist im Totenschein Hartheim/Oberdonau angegeben – solche Falschinformationen gehören zur Verschleierungstaktik der Nazis.

Gisela Scharlau

Hermann Wißmann

Der antifaschistische Athlet starb jung

Obere Gasse 16

Diese Ehrung ist für ein Opfer des Nationalsozialismus, das schon 1933 starb. Manchmal wird gesagt: Der Krieg begann doch erst 1939. Der Krieg ja, aber die Verfolgung und Ausschaltung der politischen Gegner begannen viele Jahre früher.

Wir erinnern uns: Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler.

Am 27. Februar 1933 wurde der Reichstag in Berlin in Brand gesteckt, Kommunisten wurde der Vorwurf der Brandstiftung gemacht. Nur einen Tag später wurde die «Reichstagsbrandverordnung» erlassen. Damit wurden die Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt und der Weg für die legalisierte Verfolgung der politischen Gegner der NSDAP frei gemacht. Die sofort eingeleiteten Verhaftungen begannen mit einer Reihe von hohen Funktionären der linken Parteien.

Am 5. März 1933 war die Reichstagswahl. Schon in den frühen Morgenstunden des darauf folgenden Tages kam es in Deutschland zu zahlreichen Verhaftungen. Hermann Wißmann und viele Genossen von KPD und SPD wurden in Ludwigsburg verhaftet und zum Militär-Arresthaus gebracht, das sich in der Hindenburgstraße befand. Die Verhaftungswelle ging weiter: Unter den Gefangenen waren Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Arbeitersportler, Zeugen Jehovas und andere Missliebige des Regimes.

Wer war Hermann Wißmann?

Hermann Wißmann wurde am 24. Januar 1902 im damals noch selbständigen Hoheneck geboren. Seine Familie lebte in der Oberen Gasse: Vater, Mutter, zwei Brüder und eine Schwester.

Hermann war von Jugend an aktiver Sportler im Hohenecker Turnverein und dort Vorsitzender von 1930 bis zu seiner Verhaftung 1933. Bei der Neugründung des Athletiksportvereins «Täle», dem gemeinsamen Kraftsportverein der Neckarweihinger und Hohenecker Männer, wirkte Wißmann mit. Er betätigte sich in der Schwerathletik, damals ein beliebter Männersport. Die ältesten Mitbürger wissen noch von Wißmanns sportlichen Erfolgen.

Beide Vereine traten in den zwanziger Jahren dem Arbeiter-Sportbund beziehungsweise Arbeiter-Athletenbund bei. Die NSDAP löste 1933 alle sportlichen, geselligen und religiösen Vereinigungen auf und zog deren Vermögen ein. So verloren beide Vereine, in denen Wißmann wirkte, ihre Sportplätze, die Übungsräume und alle Geräte.

Als junge Arbeiter kamen Hermann Wißmann und sein jüngerer Bruder Robert zur KPD und waren dort politisch tätig. Das Parteibüro der KPD befand sich in der Seestraße. Hier wurde auch die «Ludwigsburger Arbeiterzeitung» der KPD hergestellt und von den KPD-Mitgliedern verkauft. Wißmann war ebenfalls Mitglied der Gewerkschaft und der «Roten Hilfe», die politische Gefangene unterstützte. Als Beruf finden wir in seinen Akten die Bezeichnung Maschinenarbeiter.

Nach ihrer Verhaftung am 6. März 1933 waren die Männer nur kurze Zeit im Arresthaus. Danach ging der Transport von Ludwigsburg mit Autobussen auf die Schwäbische Alb ins Konzentrationslager, dem so genannten «Schutzhaftlager Heuberg» bei Stetten am kalten Markt.

In der Bevölkerung war das KZ bekannt. Schon 1933 gab es die Redewendung: «Halt bloß deinen Mund, sonst kommst auf den Heuberg.»

Schnell verhaftet

Wie schnell das gehen kann, erzählte Karl Kunde, KPD-Genosse und Mitgefangener dieses Transportes: «Auf der Fahrt zum Heuberg kam es zu einem Zwischenfall. Wir fuhren an einer Gruppe Straßenarbeiter vorbei, die wohl mitbekommen hatten, welche Insassen in den Bussen saßen. Sie grüßten uns mit erhobener Faust. Unser Transportführer, der stadtbekannte Nazi Motsch, er war SA-Standartenführer, ließ anhalten. Mit seinen SA-Mannen verhaftete er die ganze Gruppe und nahm sie gleich mit auf den Heuberg. Wir konnten sie noch lange auf dem Heuberg sehen und von den Mitgefangenen leicht unterscheiden, da sie in ihrer Arbeitskleidung verhaftet worden waren und keine Gefängniskleider trugen.»

Im Lager Heuberg waren während des Ersten Weltkrieges russische Kriegsgefangene untergebracht. Der Friedhof nebenan ist trauriger Zeuge vom großen Elend dieser Zeit. 1933 wurde das Lager zum ersten Schutzhaftlager Württembergs für Männer, es war ein Arbeitslager.

Die Anlage galt als Vorzeigelager, Journalisten wurden dort herumgeführt. Es gab sogar einen «Tag der offenen Tür». Alles schien in bester Ordnung zu sein. Doch der Schein täuschte, weil niemand hinter die Kulissen sehen konnte.

Im Konzentrationslager Heuberg befanden sich bald 3.000 Inhaftierte, obwohl es nur für ein paar hundert Insassen eingerichtet war.

In der Anfangszeit wurden die Häftlinge mit sinnlosen Arbeiten beschäftigt, etwa Steine von einer Ecke des Platzes zur anderen schleppen. Ständig wurden die Männer schikaniert. Prügel, Quälereien und schwere Körperverletzungen waren bei der SA-Wachmannschaft an der Tagesordnung; es gab Scheinerschießungen. Manche Gefangenen zerbrachen an den seelischen Grausamkeiten – vielleicht auch Hermann Wißmann.

Sport gegen die Haftbedingungen

Wißmann hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Häftlinge nach der schweren Arbeit zu sportlicher Ertüchtigung zu animieren. Auch pflegte er mit ihnen das sportliche Spiel als Ausgleich zur harten Arbeit und zum Zusammenhalt der Gefangenen.

In so einer Arbeitspause starb Hermann Wißmann am 8. April 1933 an Herzversagen. «Er fiel plötzlich um – der Arzt konnte nur noch seinen Tod feststellen», schrieb der Augenzeuge Karl Kunde in seinem Buch. Ob dem Zusammenbruch ein Ereignis vorangegangen war, das ihn direkt bedingte, konnte Karl Kunde nicht berichten.

Hermann Wißmann wurde nur 31 Jahre alt – er hinterließ eine junge Frau und die dreijährige Tochter Sonja. Ihm bleibt der traurige Ruhm, der erste Tote im Konzentrationslager Heuberg zu sein.

Im Ludwigsburger Krematorium fand am 11. April 1933 die Trauerfeier und Einäscherung statt. Seine letzte Ruhestätte fand Hermann Wißmann auf dem Hohenecker Friedhof. Obwohl die Trauerfeier von den Nazis überwacht wurde, nahmen viele Mitglieder der KPD an der Feier im Krematorium teil und erwiesen ihrem Genossen und Freund die letzte Ehre. Kein Wort über die Verhaftung, das Lager und die Umstände des Todes durften die Familie oder seine Freunde erzählen. Hohe Strafen wurden bei Nichtbeachtung angedroht.

Die Witwe Wißmanns starb schon 1941. Mit elf Jahren war das Mädchen Sonja Vollwaise. Sie wohnte bei den Großeltern in Ludwigsburg, und zu allem Unglück verstarb 1943 der Großvater. Später sagte Sonja über diese Zeit: «Wir lebten stets unter Bewachung der Gestapo. Unser Leben war sehr dürftig, da uns die nationalsozialistische Regierung jegliche Hilfe verweigerte.»

Eine Mitschülerin von Sonja erzählte dieser Tage: «Ich bin mit Sonja in die Schule gegangen. Sie war ein liebes Mädchen und eine gute Sportlerin. Über ihren Vater hat sie gesagt: Mein Papa ist tot. – Wir wussten nichts von den traurigen Vorfällen, auch in unserem Elternhaus haben wir nichts davon gehört.»

Sonja Wißmann besuchte nach der Volksschule die Höhere Handelsschule bis 1946. Sie arbeitete danach als kaufmännische Angestellte. 1949 heiratete Sonja einen US-Soldaten und ging mit ihm nach Amerika. Einwandern in die USA ist nicht leicht, erst recht für einen alten Menschen. Aber die junge Frau hat es geschafft, vier Jahre nach ihrer Hochzeit die Großmutter in die Staaten zu holen. Eine wahrhaft edle Tat!

Wißmanns Grab existiert heute nicht mehr. Aber in Neckarweihingen gibt es die Hermann-Wißmann-Straße und auf dem dortigen Au-Friedhof steht sein Name auf dem Mahnmal. Der Stolperstein in der Oberen Gasse in Hoheneck erinnert an das Schicksal des Antifaschisten, damit Hermann Wißmann in unserem Gedächtnis bleibt. Inzwischen wurden wir informiert, dass auch in der Südstadt Hannovers vor etlichen Jahren eine Straße ausdrücklich nach dem jung verstorbenen KPD Mitglied und Sportler in Wißmannstraße umbenannt wurde.

Karin Kohler
Fotomontage oben: Gebäude Obere Gasse 16 im Jahr 2008,
Portrait von Hermann Wißmann aus «Streiflichter»

Anna, Samuel und Max Szylit

Ein Sohn des Hutmachers überlebte

Hospitalstraße 37

Die vier Familienmitglieder verschwanden – weil sie Juden waren. Nur einer sollte den Nazi-Terror durch Glück überleben.

Der Vater Samuel Szylit wurde am 13. Oktober 1888 in Brzeznical/Nowo Radomsk in Polen geboren als Sohn von Isaak Maier Szylit und Rebekka geb. Koul.

Anna wurde am 26. April 1899 in Podgorze geboren und war Tochter des Markus Säbel und der Marie geb. Rosenzweig. Sie wohnte bereits ab 1915 mit ihren Eltern und ihren Brüdern Heinz, Jakob und Arnold in Ludwigsburg in der Kirchstraße 23. In das dahinter liegende Gartenhaus zog das junge jüdische Paar, das seine polnische Staatsbürgerschaft behielt, nachdem es am 19. Oktober 1923 geheiratet hatte.

Anna Szylit war in Kornwestheim in einem Büro angestellt. Der überlebende Sohn Alfred Szylit schrieb 2008 über diese Zeit: «Ich weiß, dass mein Vater Probleme hatte, eine Beschäftigung im Hutmacher-Gewerbe zu finden, welches zu dieser Zeit nicht sehr gut lief. Er lernte die Familie Säbel im Jahr 1923 kennen. Meine Eltern heirateten kurze Zeit später. Mein Vater war gezwungen, sich eine andere Arbeit zu suchen. Ich glaube, mein Großvater Markus Säbel schlug vor, dass er ein eigenes Geschäft aufmachen und ein ‹Wägerle› kaufen sollte, um alle Schneider in Ludwigsburg und den umliegenden Städten aufzusuchen, um ihnen übrig gebliebenes Material und Restposten an Kleidung und ähnlichem abzukaufen. So hatte er wenigstens ein Einkommen. Die Schneider freuten sich darüber, da sie in der Vergangenheit alle Reste weggeworfen hatten.»

Schon am 1. April 1933 wurde in einer halbseitigen Anzeige in der Ludwigsburger Zeitung zum Boykott gegen ihn und andere jüdische Geschäftsleute, Pferdehändler, Ärzte und Anwälte aufgerufen. Doch dieser und auch nachfolgende Boykottaufrufe hatten in Ludwigsburg nicht den von den Nationalsozialisten gewünschten Erfolg.

Am 24. Mai 1925 kam der erste Sohn der Familie in Stuttgart zur Welt: Alfred Szylit. Um 1927 fand die Familie eine bezahlbare Wohnung in der Hospitalstraße 37, in der später auch die Großmutter Marie und der Onkel Jakob mütterlicherseits wohnten. Im gleichen Haus wohnte der drei Jahre jüngere Rolf Rein, mit dem sich Alfred anfreundete und der später trotz Ausgrenzung zu ihm hielt.

1931 meldete Anna ihren Sohn Alfred in der Volksschule an der Asperger Straße an. «Bis 1933 war ich dort sehr glücklich», erinnert er sich heute. Die Stimmung änderte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten:

Lehrer wurden ausgetauscht, Schulkameraden wandten sich wegen ihrer Mitgliedschaft bei den Pimpfen oder der Hitler-Jugend (HJ) von ihm ab. In der Schule wurde er als Jude von immer mehr Veranstaltungen ausgeschlossen, ebenso von Schullandheimen und vom Unterricht zur Weltanschauung und Staatsgesinnung.

Im Jahr 1935 wurde im Gemeinderat angeregt, eine eigene Judenschule einzurichten, jedoch gab es an der Volksschule nur zwölf «nichtarische» Kinder. Der Plan, die Kinder an einer jüdischen Schule in Stuttgart unterzubringen, wurde per Bescheid vom 9. September 1937 in die Tat umgesetzt.

Die Ludwigsburger Zeitung schrieb am 11. September 1935 darüber: «Es steht zu hoffen, […], dass zu Ostern 1936 auf dem Gebiet des öffentlichen Volksschulwesens eine möglichst vollständige Trennung zwischen deutschen und jüdischen Kindern durchgeführt ist.»

Im gleichen Jahr wurde Jakob, der Bruder der Mutter, als «Rassenschänder» verhaftet, weil er mit einem deutschen Mädchen verlobt war. Er wurde zu zwei Jahren Zwangsarbeit im Konzentrationslager Dachau verurteilt. Dort musste er jeden Tag im Steinbruch arbeiten. Nach seiner Entlassung gelang es ihm, nach Dänemark zu flüchten und von dort 1937 in die USA auszuwandern.

Der Sohn der Szylits besuchte noch bis 1936 die Volksschule in Ludwigsburg, dann blieben die Plätze von ihm und seinen wenigen jüdischen Mitschülern von einem Tag auf den anderen leer. Die Schule äußerte sich in keinem Wort darüber, Fragen wurden nicht geduldet.

Alfred feierte am 11. Juni 1938 noch seine Bar-Mizwah in der Ludwigsburger Synagoge. Im gleichen Sommer wurde am 31. Juli Max geboren, der zweite Sohn der Familie Szylit.
Verhaftet und ausgewiesen

Als Auftakt für die nachfolgenden Pogrome wurde der Befehl gegeben, die Juden polnischer Staatsangehörigkeit Ende Oktober 1938 auszuweisen. Dies traf auch die Familie Szylit.

Am Abend des 28. Oktober wurde Vater Samuel von der Gestapo verhaftet und nach Stuttgart gebracht. Am nächsten Tag musste der Rest der Familie sich auch auf der Polizeiwache in der Stuttgarter Königstraße melden. Dort sah Alfred seinen Vater zum letzten Mal – in einer Zelle. Samuel Szylit wurde von Stuttgart nach Polen geschafft, wo er schließlich von seiner Schwester abgeholt und nach Tschenstochau gebracht wurde.

Die Mutter Anna und ihre Söhne bekamen eine sechsmonatige Frist bis zu ihrer Ausweisung. Anna hatte große Mühe, sich und den Säugling Max mit dem Nötigsten zu versorgen und das kleine Haus zu verkaufen. Daraufhin wurden die beiden mit einem Transport in ein Auffanglager in Bonzine in Polen gebracht und folgten zur Familie nach Tschenstochau.

Mit dem Datum 22. April 1940 ist Samuel dort noch unter der Adresse Wielunska 4 aktenkundig. Alle drei starben im September 1942 entweder im Ghetto oder in den Konzentrationslagern Auschwitz oder Treblinka.

Alfred Szylit hatte großes Glück: Er konnte am 5. Januar 1939 mit dem Kindertransport über Holland nach England ausreisen, weil sich dort eine jüdische Familie gefunden hatte, die bereit war, einen polnischen Juden aus dem faschistischen Deutschland aufzunehmen. Es war einer der letzten Kindertransporte überhaupt, denn am 1. September begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg, und alle Kindertransporte wurden eingestellt.

Alfred, der in der Nähe von London angekommen war, verlor kurz darauf auch seine Pflegefamilie: Die britische Führung ließ die jüdische Familie wegen Spionageverdacht im Lager festhalten. Nach Aufenthalten in verschiedenen Waisenhäusern nahm schließlich doch noch eine Familie aus Redhill, Grafschaft Surrey, Alfred auf, obwohl sie sich das finanziell überhaupt nicht leisten konnte. Sie waren so arm, dass sie selbst für eine weitere Wolldecke für Alfred einen Antrag stellen mussten. Trotzdem konnte er die Redhill Junior Technic School von Januar 1940 bis Dezember 1941 besuchen. Danach ging er zur britischen Armee und diente dort dreieinhalb Jahre bis zum Kriegsende. Er war bei der Kriegsflotte und trainierte auch für die Invasion mit den Amerikanern.

Alfred Szylit kam erst zur Lebensmittelversorgung und später nach Afrika, wo die Soldaten deutsche Kriegsgefangene abtransportierten und Munition aus der Wüste einsammelten. Dort wurde Alfred als Übersetzer gebraucht, da er der einzige war, der die Deutschen verstand.

Er erfuhr erst kurz nach Kriegsende vom Schicksal seiner Familie. Am Suezkanal überbrachte ihm sein Cousin, ein Überlebender aus Buchenwald, die Nachricht vom Tod seiner Eltern und seines kleinen Bruders.

Alfred wanderte dann 1949 nach Amerika aus und heiratete ein Jahr später seine Frau Alice. Er wohnt heute in Delray Beach/Florida und hat zwei Kinder und drei Enkelkinder.

Im Mai 2001 besuchten Alfred Szylit mit seiner Frau und vielen anderen jüdischen Überlebenden aus der ganzen Welt Ludwigsburg.

Er sagte, er empfinde keinen Hass auf Deutschland.

Moritz Mugler
Fotozusammenstellung oben: Anna und Samuel Szylit mit ihrem Sohn Alfred, Bild aus Privatbestand. Gebäude Hospitalstraße 37 im Jahr 2010.

Dr. Walter Pintus

Keine Hilfe für den beliebten Arzt

Mathildenstraße 6

In der Mathildenstraße 6 in Ludwigsburg lebte und wirkte bis 1938 Dr. med. Walter Pintus. Er war über Jahrzehnte ein angesehener Bürger der Stadt und für viele Patienten ein sorgender, hilfreicher und beliebter Arzt.

Er wurde am 27. September 1880 in Berlin geboren. Die Eltern, Emil Pintus, Bankier in Berlin und Marie, geb. Blumgard, ermöglichten ihm das Medizinstudium, das er 1904 mit der Promotion zum Doktor der Medizin in Straßburg abschloss.

1905 übernahm er in Ludwigsburg die Praxis des bereits früh verstorbenen Dr. Jakob Plaut in der Mathildenstraße 6, die er als praktischer Arzt und Geburtshelfer weiterführte.

1906 heiratete er die drei Jahre jüngere Helene geb. Jacobi, Tochter eines Stuttgarter Likör-Fabrikanten. 1907 wurde Tochter Lotte geboren, die 1931 anlässlich ihrer Verheiratung mit dem Juristen Dr. Hugo Weiß zur evangelischen Kirche übertrat.

Dr. Pintus war ein sehr gefragter Hausarzt mit einer sehr ausgedehnten Praxis, deren Anwachsen dann zeitweilig sogar die Anstellung eines Assistenzarztes erforderte. Seine Tätigkeit erstreckte sich bis in die weitere Umgebung von Ludwigsburg.

Zu den Hausbesuchen wurde wohl anfangs mit Pferd und Wagen, im Winter auch mit dem Pferdeschlitten gefahren. Später wird von eigenem PKW mit ständiger Beschäftigung eines Fahrers berichtet.

Im Hinterhaus, das inzwischen neu errichtet wurde und heute als medizinischer Behandlungsraum dient, befand sich, wie mir berichtet wurde, entsprechend die Stallung beziehungsweise später die Garage und die Wohnung für den Fahrer.

Im Erdgeschoss des Vorderhauses befand sich die Praxis, darüber die Wohnung. Zum Besitz gehörte außerdem ein großes Gartengrundstück.

Dr. Pintus war geschätzt für sein großes Verständnis für Jung und Alt. Auch um die sozialen Nöte seiner Patienten habe er sich sehr gekümmert und oft spontane Hilfsbereitschaft in Notsituationen bewiesen, weit über seine ärztlichen Verpflichtungen hinaus. Er zeigte unermüdlichen Einsatz auch trotz einer gewissen körperlichen Behinderung beim Gehen. Zeitzeugen konnten anlässlich der Stolperstein-Verlegung hierzu noch aus eigener Anschauung berichten.

Joachim Hahn hat in seinem Buch «Jüdisches Leben in Ludwigsburg» ausführlich dazu berichtet. Außerdem ergibt ein sehr eindrucksvoller Bericht über die Freundschaft zwischen den Familien Dr. Pintus und Dr. Adolf Richter durch dessen Sohn Gerhard für Dr. Pintus das Bild eines humanistisch gesinnten, weltoffenen, gebildeten und natürlich politisch schon früh weitsichtigen Mannes.

Allerdings hatte der Arzt wohl lange geglaubt, dass ihm als Teilnehmer im Ersten Weltkrieg nichts passieren könnte von Seiten der «Nazis» – er war ja in Ludwigsburg Leiter des Kriegsgefangenenlazaretts im Offiziersrang gewesen.

Ab 1. Januar 1938 wurde im Zuge der zunehmenden Repressalien gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger jedoch seine kassenärztliche Tätigkeit bereits deutlich eingeschränkt, am 1. Oktober 1938 wurde er aus dem kassenärztlichen Register gestrichen, die Approbation als Arzt wurde gelöscht.

Schon zuvor gab es seit 1933 die Aufforderungen zum Boykott der Praxis des jüdischen Arztes und öffentliche Verunglimpfung und Verhöhnung seiner Patienten – so 1936 in der NS-Lokalzeitung.

Nach der Reichs-Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 (in Ludwigsburg wurde der eigentliche Aufruf zum «spontanen Volkszorn» verschlafen und erst ab dem Vormittag des 10. November umgesetzt) wurde die Praxis zwangsweise aufgelöst und Dr. Pintus mit zahlreichen weiteren jüdischen Bürgern aus Ludwigsburg verhaftet. Mit anderen wurde Dr. Pintus ins KZ Dachau gebracht. Über die Ursache seines Todes am 13. November 1938 gibt es wohl keine Sicherheit, als möglich ist anzusehen ein Selbstmord mit dem wohl seit längerem hierfür stets vorhandenen Giftvorrat, worüber mir auch noch Zeitzeugen Bericht geben konnten.

Seiner Ehefrau Helene Pintus und auch der Tochter Lotte und deren Ehemann mit ihrer 1936 in Stuttgart geborenen Tochter Margrit Brigitte gelang noch 1941 die Auswanderung nach Argentinien. Frau Helene Pintus starb dann dort in Buenos Aires im Jahre 1979 mit 96 Jahren. Ihre Tochter Lotte lebte zuletzt in Zürich und starb, neun Jahre nach ihrem Mann, dort im Jahre 1998 im Alter von 90 Jahren.

Dr. med. Friedhelm Buschbeck

Wer veranlasste, dass Walter Pintus nach Dachau deportiert wurde?

Wir dokumentieren im Fogenden die Aussage des Arztes Dr. Ludwig Elsas, Sohn des Fabrikanten Max Elsas, zu Protokoll gegeben am 30. November 1946.
Das Dokument befindet sich in der Spruchkammerakte von Ferdinand Ostertag, einem Kopf der NSDAP in Ludwigsburg. Er hatte 1933 einen der Führungsposten bei der Bausparkasse GdF Wüstenrot bekommen und war als starker Mann seiner Partei Stellvertreter von Bürgermeister Karl Frank im Rathaus. Für seine Beteiligung an der Brandstiftung der Ludwigsburger Synagoge wurde er nach dem Ende des Faschismus rechtskräftig verurteilt.
Ostertag war zu Beginn der 1930er-Jahre Ortsgruppenleiter der NSDAP gewesen; in vielen Zitaten aus späterer Zeit wird er von unterschiedlichsten Leuten noch als Ortsgruppenleiter bezeichnet.
Da ein begleitender Polizist aussagte, Ostertag habe bei diesem Anlass, anders als von Elsas angegeben, nichts gesagt, wurde Elsas‘ Aussage nicht weiter berücksichtigt.
Jochen Faber Quelle: JS/72/1853 in der Akte des Staatsarchivs Ludwigsburg, EL 903/1 Bü 513
«Ich selbst wurde erst am Samstag, den 11. 11. [1938] nachmittags von dem Kriminalbeamten Götz dorthin eingeliefert [gemeint ist das «Blockhaus» genannte frühere Amtsgefängnis in der Schorndorfer Straße 58, seit 1966 Sitz der «Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen»].
Am Abend des Tages wurden wir in das frühere Polizeigefängnis Stuttgart von der SS abgeführt (…) Vor diesem Abtransport wurden wir mit den Gesichtern zur Wand im Blockhaus hingestellt, wobei die SS mit gezogenen Revolvern hinter uns stand. Plötzlich ging die Türe auf, die Bewachungsmannschaft rief Heil Hitler.
Unter diesen Begrüßungsrufen konnten wir annehmen, dass Ortsgruppenleiter Ostertag den Raum betreten hatten. Er kam dann an mir vorbei und ich erkannte ihn, da er 1933 mich meiner Stellung als Vertrauensarzt der Angestelltenversicherung enthoben hatte.
Plötzlich rief er ‹Ah, da steht ja auch der Pintus, den nehmt allein, den lege ich euch besonders ans Herz!› Der Kommandoführer machte eine Notiz und wir wurden abgeführt.
Während die Ludwigsburger Juden in das Konzentrationslager Welzheim gebracht wurden, kam Dr. Pintus durch diesen Einzelbefehl in das Konzentrationslager nach Dachau und wurde dort zum Selbstmord gezwungen.
Den Vorgang kenne ich aus späteren Äußerungen des jüdischen Religionslehrers Metzger von Ludwigsburg, welcher vom Konzentrationslager Welzheim später nach Dachau überführt wurde. Herr Dr. Pintus litt an einem Hüftschaden und hinkte Zeit seines Lebens. Die SS in Dachau hat mit ihm gleich nach seiner Ankunft das Kommando ‹Aufstehen, Hinliegen› geübt, worauf Dr. Pintus es vorzog, (…) freiwillig aus dem Leben zu gehen. (…).
[ Ich bin überzeugt, ] dass Dr. Pintus ohne den Einzelbefehl des Ortsgruppenleiters Ostertag mit uns in das Konzentrationslager Welzheim gekommen wäre, aus dem damals alle Ludwigsburger Juden lebend zurückkamen.»

Fotomontage oben: Gebäude Mathildenstraße 6 im Jahr 2004; Portrait Dr. Walter Pintus (Stadtarchiv Ludwigsburg)

Ida, Josef und Hannelore Wertheimer

Verzicht auf die Rettung – aus Liebe

Friedrichstraße 22

Hannelore Wertheimer, geboren am 12. September 1926 in Stuttgart, lebte mit ihrer Mutter Ida (genannt Irma), dem Vater Josef und dem älteren Bruder Hans in Ludwigsburg.

Die Eltern hatten 1919 geheiratet und waren seit 1920 in Ludwigsburg ansässig. Der Vater war Handelsmann und betrieb – zeitweise mit seinem Schwager Josef Neuburger zusammen – in der Friedrichstraße 22 eine Viehhandlung. Dort wohnte die Familie im ersten Stock, nachdem sie 1922 in der Seestraße 22 gemeldet war und von 1928 bis 1930 am Hohenzollernplatz 5 gewohnt hatte. Die letzte Ludwigsburger Adresse der Familie Wertheimer war 1939/1940 in der Leonberger Straße 18, jedoch war sie hier schon zwangsweise eingewiesen worden.

«Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen. Soweit es noch nicht geschehen sein sollte, sind alle zur Zeit eine deutsche Schule besuchenden jüdischen Schüler und Schüler/innen sofort zu entfernen.» (Erlass zum Schulunterricht an Juden vom 15. November 1938)

Hannelore Wertheimer und ihr Bruder Hans gingen in Ludwigsburg zur Schule. Einige Ludwigsburgerinnen (darunter meine Mutter Ruth Macco) erinnern sich noch gut an Hannelore als Klassenkameradin in der Klasse 3b der evangelischen Grundschule in der Schulstraße beim Arsenalplatz. Und sie erinnern sich an Besuche bei der Familie, so beispielsweise zu einem Laubhüttenfest im Garten der Friedrichstraße, zu dem auch nicht-jüdische Kinder eingeladen waren.

Doch ab 1936 durfte die Jüdin Hannelore nicht mehr mit diesen Mädchen in die Schule gehen. Am 21. November 1935 hatte der Ludwigsburger Gemeinderat beschlossen:«Es soll der Versuch gemacht werden, die die Ludwigsburger Volksschulen besuchenden nicht-arischen Schüler einer Stuttgarter Judenschule zu überweisen…»

Wie andere Ludwigsburger Schüler und Schüler/innen, beispielsweise die noch jüngere Marie Theres Elsas, musste Hannelore nun täglich nach Stuttgart in die jüdische Volksschule fahren.

Die gnadenlose Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger aus der Gesellschaft aber ging immer weiter. «Juden werden von den Ludwigsburger Vieh- und Pferdemärkten ausgeschlossen.» (Verfügung des Ludwigsburger Oberbürgermeisters vom Februar 1937)

Das war nur der Anfang der Boykottmaßnahmen gegen jüdische Betriebe gewesen, bald wurden die noch verbliebenen jüdischen und nicht enteigneten, im Nazijargon nicht «arisierten» Geschäfte und Betriebe endgültig zur Schließung gezwungen: am 13. Dezember 1938 musste auch der Viehhändler Josef Wertheimer seine «Geschäftsaufgabe» melden.

Hannelores Bruder Hans, der, nachdem er von 1936 bis 1937 die Ludwigsburger Handelsschule besucht hatte, inzwischen in Mühlacker eine Schlosserlehre machte, war wie fast alle jüdischen Männer in Ludwigsburg nach dem Pogrom vom 9./10. November 1938 verhaftet worden und blieb zwei Monate im KZ Dachau inhaftiert. 1940 konnte er jedoch in die USA emigrieren.

Bald darauf, im Dezember 1942, wurden Hannelore und ihre Eltern von Ludwigsburg nach Baisingen zwangsumgesiedelt. Nachdem die Stadt Ludwigsburg darauf verzichtet hatte, nach Überlegungen der NSDAP-Kreisleitung, ein leerstehendes Eglosheimer Barackenlager in ein «Judendorf» umzuwandeln und die Ludwigsburger Juden dort zu konzentrieren, wurden nun die noch verbliebenen jüdischen Bürgerinnen und Bürger nach Baisingen und in andere Orte – ältere Menschen in sogenannte «Jüdische Altersheime» in ganz Süddeutschland – zwangsweise umgesiedelt, um ganze Städte wie Ludwigsburg «judenfrei» zu machen. Und sie letztendlich dort für den Abtransport in die Vernichtungslager zu sammeln.

Von Baisingen aus ging am 16. März 1942 über das Deutsche Rote Kreuz ein Brief nach New York an Siegfried Geismar, bei dem der Sohn Hans inzwischen lebte: «Wir sind alle gesund, hoffe Ihr alle auch. Warum schreibt Hans nichts? Gruß Josef, Irma.»

Die drei hatten noch versucht, wie der Sohn und Bruder auch nach den USA auszuwandern. 1941 bekamen Ida und Josef Wertheimer schließlich auch Affidavit (eine Art Bürgschaft eines amerikanischen Bürgers) und Visum, tragischerweise aber nicht ihre Tochter Hannelore. Daraufhin verzichteten die Eltern auf die ihnen mögliche Flucht und blieben bei ihrer Tochter in Deutschland.

Hannelore arbeitete und wohnte vom 12. Januar bis 31. März 1942 als Haushaltspraktikantin im «Jüdischen Altersheim» Herrlingen, danach wohnte sie wieder in Baisingen bei den Eltern. «Geliebter Hansel! Wir gesund. Reisen nächster Tage in Margots Nähe. Sei unbesorgt. Bleib gesund, auf ein Wiedersehen hoffend, grüßen und küssen Dich Eltern und Deine Lore.»

Der kurze Brief vom 4. April 1942 an den Bruder im New Yorker Exil, indem sie die bevorstehende Deportation in Richtung Osten andeuteten – die erwähnte Tante Margot war nach Riga deportiert worden –, war für Hans Wertheimer das letzte Lebenszeichen seiner Familie.

Alle drei wurden am 26. April 1942 mit dem zweiten großen Transport Richtung Osten, über das Sammellager Killesberg in Stuttgart, nach Izbica bei Lublin deportiert und dort ermordet. Izbica war eines der größten Durchgangslager im Osten Polens, ein völlig überbevölkertes jüdisches Ghetto, gleichsam ‹Vorhölle› für den Weitertransport zigtausender deutscher und europäischer Juden in Vernichtungslager wie Sobibor oder Treblinka.

Kein einziger der 278 mit diesem Transport Deportierten aus Württemberg, unter denen sich auch viele Kinder und Jugendliche wie die damals gerade 16jährige Hannelore befanden, hat überlebt. Die allerletzten Lebenszeichen der Familie sind zwei kurze, offensichtlich zensierte Briefe vom 7. und 17. Juli 1942 an Bekannte in Ludwigsburg und Stuttgart, dann verliert sich die Spur.

Die genauen Umstände der Ermordung und die Todesdaten von Hannelore, Ida und Joseph Wertheimer sind unbekannt.

Christine Macco

Hans Wertheimer
geb. 21. Dezember1921 in Stuttgart, 1940 in die USA emigriert, dort verheiratet, eine Tochter, Inhaber einer Werkzeughandlung in Riverdale, N.Y., war mehrfach in Ludwigsburg zu Gedenkfeiern, zuletzt wohnte er in Fort Lee, New Jersey. Am 23. Dezember 2007 dort laut Todesanzeige in der New York Times verstorben.
Fotos oben: Montage von Portraits von Hanna, Ida und Joseph Wertheimer aus dem Bestand des Stadtarchivs Ludwigsburg
Stolperstein-Verlegung für Familie Wertheimer im September 2008

Emma Unterkofler

Die Mutter von zwei Kindern stirbt in Grafeneck

Wilhelm-Bader-Straße 13

Emma Hieber wird am 19. Juli 1907 in Bopfingen geboren. Sie heiratet den Bierfahrer Hugo Unterkofler, der am 30. November 1901 in Ludwigsburg geboren wurde; als Beruf ist in den Akten Hausfrau angegeben. Sie hat mit Hugo eine Tochter.
Als sie im Juni 1935 in die Heilanstalt Weinsberg eingewiesen wird, protokolliert ein Arzt: Sie sei bis zu ihrem elften Lebensjahr in Bopfingen zur Schule gegangen (…), als die Mutter starb, kam sie zu Pflegeeltern nach Ludwigsburg. Nach der Schule sei sie in ein Geschäft gegangen und zwar „zu Siegle“ in Kornwestheim. Dort habe sie bis zur Geburt ihrer Tochter gearbeitet. Die Ehe sei glücklich gewesen.
Den Bericht für die Übernahme in die Heilanstalt Weinsberg schrieb Dr. Schumm aus Ludwigsburg. Ihre Gemütslage bezeichnet er als „eigenartig, reserviert“. Er stellt fest: „Beginn einer Schizophrenie. Die vom Hausarzt gestellte Diagnose Schizophrenie wurde vom Facharzt Dr. Beetz Stuttgart bestätigt.“
Im Krankenbericht heißt es weiter: „Nach Angaben des Ehemanns ist die Kranke schon etwa neun Jahre verändert, war dann ein halbes Jahr in nervenärztlicher Behandlung in Stuttgart (…). Konnte aber offenbar ihrem Hauswesen nicht mehr nachkommen (…).“
Als Emma Unterkofler etwa ein halbes Jahr in Weinsberg ist, wird eine Schwangerschaft festgestellt, am 4. April 1936 bekommt Emma einen gesunden Sohn. Mehrfach hält der Krankenbericht fest, dass sie mit dem Kind recht zärtlich ist, sie stille es regelmäßig, „freut sich an ihm und geht sorgfältig mit ihm um“.
Am 6. Mai wird der Junge in Pflege gegeben. „Patientin … erfasst die Tatsache nicht sogleich, weinte dann heftig und beruhigte sich nur langsam, wollte auch fort.“
Die weiteren Einträge in der Krankenakte sind alle ähnlich: Emma schimpft, singt, führt Selbstgespräche, schimpft wieder ausfallend, singt und weint.
Am 19. August 1940 lautet der letzte Eintrag: „Unverändert. Verlegt in eine neue Anstalt.“ Die Wahrheit ist: Am gleichen Tag wird sie in Grafeneck ermordet.

Christian Rehmenklau

Meta Stiefel

Die ungeschriebene Geschichte einer Nachbarin

Marstallstraße 4

Über Meta Stiefel wissen wir nur wenig. Unsere ersten Quellen sind die Dokumentation der Schicksale von Menschen jüdischer Herkunft aus Württemberg im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart und das Gedenkbuch Baden-Württemberg – beides möglichst sorgfältig zusammengetragene Informationssammlungen, entstanden Jahrzehnte nach dem Ende des Nazi-Regimes.
Zu Meta Stiefel finden wir: „Geboren am 26. April 1887 in Menzingen, lebte um 1933 in Ludwigsburg, wurde am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert und ist dort umgekommen.“ Diese Information findet man auch in Joachim Hahns vortrefflichem Buch „Jüdisches Leben in Ludwigsburg“ – auch Hahn stützte sich in seinem 1998 erschienenen Band unter anderem auf die oben genannten Quellen.
Die Durchsicht der Adressverzeichnisse von Ludwigsburg ergibt keinen Hinweis auf Meta Stiefel. Aus anderen Recherchen wissen wir, dass dies die Vermutung nahe legt, Meta Stiefel habe als Hausangestellte gearbeitet und sei daher nicht als „selbstständig wohnend“ gemeldet gewesen.
Dann ergibt eine Akte im Staatsarchiv Ludwigsburg weitere Erkenntnisse – dort sind die Unterlagen aufgehoben, in denen Überlebende selbst oder Angehörige von NS-Opfern nach dem Ende der Terrorherrschaft versuchten, wenigstens finanziellen Ausgleich für das erlittene Unrecht zu bekommen: Es geht in unserem Fall um einen Streit über eine Schreibmaschine, die Meta Stiefel offensichtlich besessen hat und die sie 1941 einer Berta Traub in Verwahrung gegeben hatte. Nach dem Krieg verlangten die Verwandten von Meta Stiefel diese Schreibmaschine zurück; letzten Endes wurde das Gerät dann zurückgegeben.
Viel wichtiger ist aber, dass diese Akte die bisher einzige konkrete Informationsquelle zu Meta Stiefel ist. Nun wissen wir: Sie hat bis 1941 als Hausangestellte bei der Fabrikantenfamilie Elsass in der Marstallstraße 4 gewohnt. Als die Polizei das Haus ihres ebenfalls jüdischen Arbeitgebers durchsucht, es war im Jahre 1941, der „genaue Tag sei nicht erinnerlich“, habe Meta Stiefel die Zeugin Berta Traub gebeten, die neuwertige Schreibmaschine in Verwahrung zu nehmen, „bis sie wiederkomme und (diese) an niemanden herauszugeben als an sie persönlich.“
Meta Stiefel konnte die Reiseschreibmaschine Marke „Hermes Baby“ nicht mehr zurückfordern, sie wurde selbst abgeholt, nach Riga transportiert und dort ermordet. Ein Datum ihres Todes ist nicht bekannt. Man kann an Hand der Schlichtungsakte den Weg der Schreibmaschine recht genau zurückverfolgen, über ihre Besitzerin erfahren wir aber nichts Näheres.
Wir können nur darüber spekulieren, für welchen Zweck sich Meta Stiefel diese recht teure Maschine (ähnlich der hier abgebildeten) gekauft hat, was für ein Leben zu diesem Zweck gepasst haben könnte. Doch konkret bleibt uns nur das Wissen um eine Ludwigsburgerin, die im Alter von 54 Jahren gezwungen wurde, mit einem der berüchtigten Züge vom Stuttgarter Nordbahnhof aus fast zweitausend Kilometer weit nach Osten transportiert zu werden, und die dort ermordet wurde – und die eine Schreibmaschine besessen hatte.

Christian Rehmenklau

Charlotte Schörg

Die 20jährige braucht Hilfe und wird ermordet

Mörikestraße 70

Charlotte Schörg kommt am 30. August 1920 in Ludwigsburg zur Welt. Sie ist das vierte Kind von Gustav und Wilhelmine Schörg. Komplikationen bei der Geburt verursachen eine schwere Behinderung. Charlotte ist gelähmt und auf vollständige Pflege und Versorgung angewiesen.
Im Alter von sechs Jahren ist sie für kurze Zeit in der Heil-und Pflegeanstalt in Stetten untergebracht. Sie wird von dort wieder zur Familie nach Ludwigsburg entlassen, weil sie nicht „bildungsfähig“ sei.
Die familiäre Situation ist durch die kriegsbedingte Erkrankung des Vaters schwierig. Ein Jahr nach dem Umzug der Familie von der Lindenstrasse in das eigene Haus in der Mörikestraße 70 stirbt Gustav Schörg 1931.
Für die gesundheitlich angegriffene Mutter von Charlotte ist die Pflege ihrer kranken Tochter kaum noch zu bewältigen. Aus diesem Grund beantragt der Ludwigsburger Hausarzt im November 1940 erneut die Aufnahme Charlottes in die Heil-und Pflegeanstalt in Stetten.
Die Anstaltsleitung lehnt den Antrag „wegen Überfüllung“ ab. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits in fünf Transporten Bewohner/innen der Anstalt im Rahmen der Aktion T4, nach Grafeneck gebracht und dort ermordet worden.
Anfang März 1941 wird Charlotte Schörg in die Heilanstalt in Weinsberg aufgenommen. Wenige Wochen später, am 31. März 1941 wird Charlotte Schörg mit anderen Patienten gemeinsam in die Tötungsanstalt nach Hadamar gebracht. Unmittelbar nach ihrer Ankunft werden die Menschen durch Gas ermordet.

Gudrun Karstedt

Zum Schicksal von Charlotte Schörg sind ergänzende biografische Angaben erschienen in der Veröffentlichung von

Christian Hofmann

Kinder – „Euthanasie“ und das Gesundheitsamt Ludwigsburg

Opferschicksale aus Ludwigsburg geben Einblicke in die Bürokratie der Vernichtung im Nationalsozialismus

Ludwigsburger Geschichtsblätter Band 75/2021

Seite 140-173

Darin enthalten:  Einzelschicksale aus Ludwigsburg

Erna Wolf – Hans Mayer – Anita Henk –

Margarete Michelfelder – Charlotte Schörg

Dr. David und Selma Schmal

Angesehene Bürger wurden ausgegrenzt

Myliusstraße 6

Als am 16. Mai 1944 der Transport Ea 567 von Theresienstadt nach Auschwitz rollte, befanden sich auch Dr. David Schmal (*1870) und seine Ehefrau Selma (*1882) aus Ludwigsburg in einem der verriegelten Transportwaggons. Von da an verlieren sich die Spuren. Es war ein Todestransport, und die Menschen wurden in den Tagen darauf ermordet. Häftlings- und Transportlisten der NS-Schergen sind die letzten Dokumente, auf die sich auch das Gedenkbuch des Bundesarchivs in Koblenz und die Dokumentation der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem berufen. Dr. David Schmal starb im Alter von fast 74 Jahren zusammen mit seiner Frau in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau.

Angesehene Ludwigsburger Familie

David Schmal war der Sohn des angesehenen Lehrers und Vorsängers Abraham Schmal und seiner Frau Hanna. Sie zogen 1878 von Nordstetten bei Horb nach Ludwigsburg. Abraham Schmal wurde 1907 vom württembergischen König die Verdienstmedaille des Kronordens verliehen. Er starb im August 1920, nachdem seine Frau bereits 1919 auf dem israelitischen Friedhof in Ludwigsburg beigesetzt worden war.
David Schmal wurde nach seinem Studium 1894 zum Dr. med. promoviert und betrieb danach eine Praxis als Spezialarzt für Frauenkrankheiten, zuletzt in der Myliusstraße 6, wo sich auch die letzte frei gewählte Wohnung der Familie befand.
Im Jahr 1904 heiratete er Selma Emanuel aus Obrigheim. Das Ehepaar bekam zwei Söhne: Kurt starb 1906 bei der Geburt, Heinrich kam 1907 zur Welt. Er überlebte das Menschheitsverbrechen, das man Holocaust nennt.

Diskriminierung, Boykott, Deportation

Die Diskriminierung und soziale Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger nahm nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze immer mehr zu, der allgemeine Boykott gegen jüdische Ärzte erschwerte die Berufsausübung. Das endgültige Berufsverbot durch die Nazis im Juli 1938 machte ärztliches Wirken schließlich unmöglich.
Nach der Pogromnacht, in deren Folge auch die Synagoge in der Alleenstraße in Brand gesteckt und verwüstet worden war, verschärfte sich die Lage. Heinrich Schmal wurde im KZ Dachau interniert, kam allerdings gegen Ende des Jahres wieder frei. Er schaffte es, im Februar 1939 nach New York zu emigrieren, die betagten Eltern blieben zurück. Im Sommer 1939 erzwangen die Machthaber den Umzug des Haushalts in die Seestr. 75, einem „Judenhaus“. In der exponierten Wohnlage Myliusstraße waren Juden nicht mehr erwünscht.
Am 22.12. 1941 wurde das Ehepaar Dr. Schmal endgültig aus der Stadt vertrieben und wie andere jüdische Familien nach Baisingen bei Horb zwangsweise umgesiedelt. In beengten Wohnverhältnissen hausend, existenziell vernichtet und psychisch im Ausnahmezustand waren die Familien den Schikanen ausgesetzt. Ende 1941 begannen die Deportationen.
Dr. David und Selma Schmal wurden am 22. August 1942 mit dem Transport XIII/1 von Stuttgart aus nach Theresienstadt verbracht. Es folgten fast zwei Jahre im Getto.
Dann, am 16. Mai 1944, rollte Transport Ea 567 von Theresienstadt nach Auschwitz. Die Häftlinge wurden unmittelbar nach Ankunft in die Gaskammern geschickt.

Otto Lechner

Bildmontage unter Verwendung von Portraitfotos von Dr. David und Selma Schmal aus dem Bestand des Stadtarchivs Ludwigsburg