Anna, Samuel und Max Szylit

Ein Sohn des Hutmachers überlebte

Hospitalstraße 37

Die vier Familienmitglieder verschwanden – weil sie Juden waren. Nur einer sollte den Nazi-Terror durch Glück überleben.

Der Vater Samuel Szylit wurde am 13. Oktober 1888 in Brzeznical/Nowo Radomsk in Polen geboren als Sohn von Isaak Maier Szylit und Rebekka geb. Koul.

Anna wurde am 26. April 1899 in Podgorze geboren und war Tochter des Markus Säbel und der Marie geb. Rosenzweig. Sie wohnte bereits ab 1915 mit ihren Eltern und ihren Brüdern Heinz, Jakob und Arnold in Ludwigsburg in der Kirchstraße 23. In das dahinter liegende Gartenhaus zog das junge jüdische Paar, das seine polnische Staatsbürgerschaft behielt, nachdem es am 19. Oktober 1923 geheiratet hatte.

Anna Szylit war in Kornwestheim in einem Büro angestellt. Der überlebende Sohn Alfred Szylit schrieb 2008 über diese Zeit: «Ich weiß, dass mein Vater Probleme hatte, eine Beschäftigung im Hutmacher-Gewerbe zu finden, welches zu dieser Zeit nicht sehr gut lief. Er lernte die Familie Säbel im Jahr 1923 kennen. Meine Eltern heirateten kurze Zeit später. Mein Vater war gezwungen, sich eine andere Arbeit zu suchen. Ich glaube, mein Großvater Markus Säbel schlug vor, dass er ein eigenes Geschäft aufmachen und ein ‹Wägerle› kaufen sollte, um alle Schneider in Ludwigsburg und den umliegenden Städten aufzusuchen, um ihnen übrig gebliebenes Material und Restposten an Kleidung und ähnlichem abzukaufen. So hatte er wenigstens ein Einkommen. Die Schneider freuten sich darüber, da sie in der Vergangenheit alle Reste weggeworfen hatten.»

Schon am 1. April 1933 wurde in einer halbseitigen Anzeige in der Ludwigsburger Zeitung zum Boykott gegen ihn und andere jüdische Geschäftsleute, Pferdehändler, Ärzte und Anwälte aufgerufen. Doch dieser und auch nachfolgende Boykottaufrufe hatten in Ludwigsburg nicht den von den Nationalsozialisten gewünschten Erfolg.

Am 24. Mai 1925 kam der erste Sohn der Familie in Stuttgart zur Welt: Alfred Szylit. Um 1927 fand die Familie eine bezahlbare Wohnung in der Hospitalstraße 37, in der später auch die Großmutter Marie und der Onkel Jakob mütterlicherseits wohnten. Im gleichen Haus wohnte der drei Jahre jüngere Rolf Rein, mit dem sich Alfred anfreundete und der später trotz Ausgrenzung zu ihm hielt.

1931 meldete Anna ihren Sohn Alfred in der Volksschule an der Asperger Straße an. «Bis 1933 war ich dort sehr glücklich», erinnert er sich heute. Die Stimmung änderte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten:

Lehrer wurden ausgetauscht, Schulkameraden wandten sich wegen ihrer Mitgliedschaft bei den Pimpfen oder der Hitler-Jugend (HJ) von ihm ab. In der Schule wurde er als Jude von immer mehr Veranstaltungen ausgeschlossen, ebenso von Schullandheimen und vom Unterricht zur Weltanschauung und Staatsgesinnung.

Im Jahr 1935 wurde im Gemeinderat angeregt, eine eigene Judenschule einzurichten, jedoch gab es an der Volksschule nur zwölf «nichtarische» Kinder. Der Plan, die Kinder an einer jüdischen Schule in Stuttgart unterzubringen, wurde per Bescheid vom 9. September 1937 in die Tat umgesetzt.

Die Ludwigsburger Zeitung schrieb am 11. September 1935 darüber: «Es steht zu hoffen, […], dass zu Ostern 1936 auf dem Gebiet des öffentlichen Volksschulwesens eine möglichst vollständige Trennung zwischen deutschen und jüdischen Kindern durchgeführt ist.»

Im gleichen Jahr wurde Jakob, der Bruder der Mutter, als «Rassenschänder» verhaftet, weil er mit einem deutschen Mädchen verlobt war. Er wurde zu zwei Jahren Zwangsarbeit im Konzentrationslager Dachau verurteilt. Dort musste er jeden Tag im Steinbruch arbeiten. Nach seiner Entlassung gelang es ihm, nach Dänemark zu flüchten und von dort 1937 in die USA auszuwandern.

Der Sohn der Szylits besuchte noch bis 1936 die Volksschule in Ludwigsburg, dann blieben die Plätze von ihm und seinen wenigen jüdischen Mitschülern von einem Tag auf den anderen leer. Die Schule äußerte sich in keinem Wort darüber, Fragen wurden nicht geduldet.

Alfred feierte am 11. Juni 1938 noch seine Bar-Mizwah in der Ludwigsburger Synagoge. Im gleichen Sommer wurde am 31. Juli Max geboren, der zweite Sohn der Familie Szylit.
Verhaftet und ausgewiesen

Als Auftakt für die nachfolgenden Pogrome wurde der Befehl gegeben, die Juden polnischer Staatsangehörigkeit Ende Oktober 1938 auszuweisen. Dies traf auch die Familie Szylit.

Am Abend des 28. Oktober wurde Vater Samuel von der Gestapo verhaftet und nach Stuttgart gebracht. Am nächsten Tag musste der Rest der Familie sich auch auf der Polizeiwache in der Stuttgarter Königstraße melden. Dort sah Alfred seinen Vater zum letzten Mal – in einer Zelle. Samuel Szylit wurde von Stuttgart nach Polen geschafft, wo er schließlich von seiner Schwester abgeholt und nach Tschenstochau gebracht wurde.

Die Mutter Anna und ihre Söhne bekamen eine sechsmonatige Frist bis zu ihrer Ausweisung. Anna hatte große Mühe, sich und den Säugling Max mit dem Nötigsten zu versorgen und das kleine Haus zu verkaufen. Daraufhin wurden die beiden mit einem Transport in ein Auffanglager in Bonzine in Polen gebracht und folgten zur Familie nach Tschenstochau.

Mit dem Datum 22. April 1940 ist Samuel dort noch unter der Adresse Wielunska 4 aktenkundig. Alle drei starben im September 1942 entweder im Ghetto oder in den Konzentrationslagern Auschwitz oder Treblinka.

Alfred Szylit hatte großes Glück: Er konnte am 5. Januar 1939 mit dem Kindertransport über Holland nach England ausreisen, weil sich dort eine jüdische Familie gefunden hatte, die bereit war, einen polnischen Juden aus dem faschistischen Deutschland aufzunehmen. Es war einer der letzten Kindertransporte überhaupt, denn am 1. September begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg, und alle Kindertransporte wurden eingestellt.

Alfred, der in der Nähe von London angekommen war, verlor kurz darauf auch seine Pflegefamilie: Die britische Führung ließ die jüdische Familie wegen Spionageverdacht im Lager festhalten. Nach Aufenthalten in verschiedenen Waisenhäusern nahm schließlich doch noch eine Familie aus Redhill, Grafschaft Surrey, Alfred auf, obwohl sie sich das finanziell überhaupt nicht leisten konnte. Sie waren so arm, dass sie selbst für eine weitere Wolldecke für Alfred einen Antrag stellen mussten. Trotzdem konnte er die Redhill Junior Technic School von Januar 1940 bis Dezember 1941 besuchen. Danach ging er zur britischen Armee und diente dort dreieinhalb Jahre bis zum Kriegsende. Er war bei der Kriegsflotte und trainierte auch für die Invasion mit den Amerikanern.

Alfred Szylit kam erst zur Lebensmittelversorgung und später nach Afrika, wo die Soldaten deutsche Kriegsgefangene abtransportierten und Munition aus der Wüste einsammelten. Dort wurde Alfred als Übersetzer gebraucht, da er der einzige war, der die Deutschen verstand.

Er erfuhr erst kurz nach Kriegsende vom Schicksal seiner Familie. Am Suezkanal überbrachte ihm sein Cousin, ein Überlebender aus Buchenwald, die Nachricht vom Tod seiner Eltern und seines kleinen Bruders.

Alfred wanderte dann 1949 nach Amerika aus und heiratete ein Jahr später seine Frau Alice. Er wohnt heute in Delray Beach/Florida und hat zwei Kinder und drei Enkelkinder.

Im Mai 2001 besuchten Alfred Szylit mit seiner Frau und vielen anderen jüdischen Überlebenden aus der ganzen Welt Ludwigsburg.

Er sagte, er empfinde keinen Hass auf Deutschland.

Moritz Mugler
Fotozusammenstellung oben: Anna und Samuel Szylit mit ihrem Sohn Alfred, Bild aus Privatbestand. Gebäude Hospitalstraße 37 im Jahr 2010.

Dr. Walter Pintus

Keine Hilfe für den beliebten Arzt

Mathildenstraße 6

In der Mathildenstraße 6 in Ludwigsburg lebte und wirkte bis 1938 Dr. med. Walter Pintus. Er war über Jahrzehnte ein angesehener Bürger der Stadt und für viele Patienten ein sorgender, hilfreicher und beliebter Arzt.

Er wurde am 27. September 1880 in Berlin geboren. Die Eltern, Emil Pintus, Bankier in Berlin und Marie, geb. Blumgard, ermöglichten ihm das Medizinstudium, das er 1904 mit der Promotion zum Doktor der Medizin in Straßburg abschloss.

1905 übernahm er in Ludwigsburg die Praxis des bereits früh verstorbenen Dr. Jakob Plaut in der Mathildenstraße 6, die er als praktischer Arzt und Geburtshelfer weiterführte.

1906 heiratete er die drei Jahre jüngere Helene geb. Jacobi, Tochter eines Stuttgarter Likör-Fabrikanten. 1907 wurde Tochter Lotte geboren, die 1931 anlässlich ihrer Verheiratung mit dem Juristen Dr. Hugo Weiß zur evangelischen Kirche übertrat.

Dr. Pintus war ein sehr gefragter Hausarzt mit einer sehr ausgedehnten Praxis, deren Anwachsen dann zeitweilig sogar die Anstellung eines Assistenzarztes erforderte. Seine Tätigkeit erstreckte sich bis in die weitere Umgebung von Ludwigsburg.

Zu den Hausbesuchen wurde wohl anfangs mit Pferd und Wagen, im Winter auch mit dem Pferdeschlitten gefahren. Später wird von eigenem PKW mit ständiger Beschäftigung eines Fahrers berichtet.

Im Hinterhaus, das inzwischen neu errichtet wurde und heute als medizinischer Behandlungsraum dient, befand sich, wie mir berichtet wurde, entsprechend die Stallung beziehungsweise später die Garage und die Wohnung für den Fahrer.

Im Erdgeschoss des Vorderhauses befand sich die Praxis, darüber die Wohnung. Zum Besitz gehörte außerdem ein großes Gartengrundstück.

Dr. Pintus war geschätzt für sein großes Verständnis für Jung und Alt. Auch um die sozialen Nöte seiner Patienten habe er sich sehr gekümmert und oft spontane Hilfsbereitschaft in Notsituationen bewiesen, weit über seine ärztlichen Verpflichtungen hinaus. Er zeigte unermüdlichen Einsatz auch trotz einer gewissen körperlichen Behinderung beim Gehen. Zeitzeugen konnten anlässlich der Stolperstein-Verlegung hierzu noch aus eigener Anschauung berichten.

Joachim Hahn hat in seinem Buch «Jüdisches Leben in Ludwigsburg» ausführlich dazu berichtet. Außerdem ergibt ein sehr eindrucksvoller Bericht über die Freundschaft zwischen den Familien Dr. Pintus und Dr. Adolf Richter durch dessen Sohn Gerhard für Dr. Pintus das Bild eines humanistisch gesinnten, weltoffenen, gebildeten und natürlich politisch schon früh weitsichtigen Mannes.

Allerdings hatte der Arzt wohl lange geglaubt, dass ihm als Teilnehmer im Ersten Weltkrieg nichts passieren könnte von Seiten der «Nazis» – er war ja in Ludwigsburg Leiter des Kriegsgefangenenlazaretts im Offiziersrang gewesen.

Ab 1. Januar 1938 wurde im Zuge der zunehmenden Repressalien gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger jedoch seine kassenärztliche Tätigkeit bereits deutlich eingeschränkt, am 1. Oktober 1938 wurde er aus dem kassenärztlichen Register gestrichen, die Approbation als Arzt wurde gelöscht.

Schon zuvor gab es seit 1933 die Aufforderungen zum Boykott der Praxis des jüdischen Arztes und öffentliche Verunglimpfung und Verhöhnung seiner Patienten – so 1936 in der NS-Lokalzeitung.

Nach der Reichs-Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 (in Ludwigsburg wurde der eigentliche Aufruf zum «spontanen Volkszorn» verschlafen und erst ab dem Vormittag des 10. November umgesetzt) wurde die Praxis zwangsweise aufgelöst und Dr. Pintus mit zahlreichen weiteren jüdischen Bürgern aus Ludwigsburg verhaftet. Mit anderen wurde Dr. Pintus ins KZ Dachau gebracht. Über die Ursache seines Todes am 13. November 1938 gibt es wohl keine Sicherheit, als möglich ist anzusehen ein Selbstmord mit dem wohl seit längerem hierfür stets vorhandenen Giftvorrat, worüber mir auch noch Zeitzeugen Bericht geben konnten.

Seiner Ehefrau Helene Pintus und auch der Tochter Lotte und deren Ehemann mit ihrer 1936 in Stuttgart geborenen Tochter Margrit Brigitte gelang noch 1941 die Auswanderung nach Argentinien. Frau Helene Pintus starb dann dort in Buenos Aires im Jahre 1979 mit 96 Jahren. Ihre Tochter Lotte lebte zuletzt in Zürich und starb, neun Jahre nach ihrem Mann, dort im Jahre 1998 im Alter von 90 Jahren.

Dr. med. Friedhelm Buschbeck

Wer veranlasste, dass Walter Pintus nach Dachau deportiert wurde?

Wir dokumentieren im Fogenden die Aussage des Arztes Dr. Ludwig Elsas, Sohn des Fabrikanten Max Elsas, zu Protokoll gegeben am 30. November 1946.
Das Dokument befindet sich in der Spruchkammerakte von Ferdinand Ostertag, einem Kopf der NSDAP in Ludwigsburg. Er hatte 1933 einen der Führungsposten bei der Bausparkasse GdF Wüstenrot bekommen und war als starker Mann seiner Partei Stellvertreter von Bürgermeister Karl Frank im Rathaus. Für seine Beteiligung an der Brandstiftung der Ludwigsburger Synagoge wurde er nach dem Ende des Faschismus rechtskräftig verurteilt.
Ostertag war zu Beginn der 1930er-Jahre Ortsgruppenleiter der NSDAP gewesen; in vielen Zitaten aus späterer Zeit wird er von unterschiedlichsten Leuten noch als Ortsgruppenleiter bezeichnet.
Da ein begleitender Polizist aussagte, Ostertag habe bei diesem Anlass, anders als von Elsas angegeben, nichts gesagt, wurde Elsas‘ Aussage nicht weiter berücksichtigt.
Jochen Faber Quelle: JS/72/1853 in der Akte des Staatsarchivs Ludwigsburg, EL 903/1 Bü 513
«Ich selbst wurde erst am Samstag, den 11. 11. [1938] nachmittags von dem Kriminalbeamten Götz dorthin eingeliefert [gemeint ist das «Blockhaus» genannte frühere Amtsgefängnis in der Schorndorfer Straße 58, seit 1966 Sitz der «Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen»].
Am Abend des Tages wurden wir in das frühere Polizeigefängnis Stuttgart von der SS abgeführt (…) Vor diesem Abtransport wurden wir mit den Gesichtern zur Wand im Blockhaus hingestellt, wobei die SS mit gezogenen Revolvern hinter uns stand. Plötzlich ging die Türe auf, die Bewachungsmannschaft rief Heil Hitler.
Unter diesen Begrüßungsrufen konnten wir annehmen, dass Ortsgruppenleiter Ostertag den Raum betreten hatten. Er kam dann an mir vorbei und ich erkannte ihn, da er 1933 mich meiner Stellung als Vertrauensarzt der Angestelltenversicherung enthoben hatte.
Plötzlich rief er ‹Ah, da steht ja auch der Pintus, den nehmt allein, den lege ich euch besonders ans Herz!› Der Kommandoführer machte eine Notiz und wir wurden abgeführt.
Während die Ludwigsburger Juden in das Konzentrationslager Welzheim gebracht wurden, kam Dr. Pintus durch diesen Einzelbefehl in das Konzentrationslager nach Dachau und wurde dort zum Selbstmord gezwungen.
Den Vorgang kenne ich aus späteren Äußerungen des jüdischen Religionslehrers Metzger von Ludwigsburg, welcher vom Konzentrationslager Welzheim später nach Dachau überführt wurde. Herr Dr. Pintus litt an einem Hüftschaden und hinkte Zeit seines Lebens. Die SS in Dachau hat mit ihm gleich nach seiner Ankunft das Kommando ‹Aufstehen, Hinliegen› geübt, worauf Dr. Pintus es vorzog, (…) freiwillig aus dem Leben zu gehen. (…).
[ Ich bin überzeugt, ] dass Dr. Pintus ohne den Einzelbefehl des Ortsgruppenleiters Ostertag mit uns in das Konzentrationslager Welzheim gekommen wäre, aus dem damals alle Ludwigsburger Juden lebend zurückkamen.»

Fotomontage oben: Gebäude Mathildenstraße 6 im Jahr 2004; Portrait Dr. Walter Pintus (Stadtarchiv Ludwigsburg)

Ida, Josef und Hannelore Wertheimer

Verzicht auf die Rettung – aus Liebe

Friedrichstraße 22

Hannelore Wertheimer, geboren am 12. September 1926 in Stuttgart, lebte mit ihrer Mutter Ida (genannt Irma), dem Vater Josef und dem älteren Bruder Hans in Ludwigsburg.

Die Eltern hatten 1919 geheiratet und waren seit 1920 in Ludwigsburg ansässig. Der Vater war Handelsmann und betrieb – zeitweise mit seinem Schwager Josef Neuburger zusammen – in der Friedrichstraße 22 eine Viehhandlung. Dort wohnte die Familie im ersten Stock, nachdem sie 1922 in der Seestraße 22 gemeldet war und von 1928 bis 1930 am Hohenzollernplatz 5 gewohnt hatte. Die letzte Ludwigsburger Adresse der Familie Wertheimer war 1939/1940 in der Leonberger Straße 18, jedoch war sie hier schon zwangsweise eingewiesen worden.

«Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen. Soweit es noch nicht geschehen sein sollte, sind alle zur Zeit eine deutsche Schule besuchenden jüdischen Schüler und Schüler/innen sofort zu entfernen.» (Erlass zum Schulunterricht an Juden vom 15. November 1938)

Hannelore Wertheimer und ihr Bruder Hans gingen in Ludwigsburg zur Schule. Einige Ludwigsburgerinnen (darunter meine Mutter Ruth Macco) erinnern sich noch gut an Hannelore als Klassenkameradin in der Klasse 3b der evangelischen Grundschule in der Schulstraße beim Arsenalplatz. Und sie erinnern sich an Besuche bei der Familie, so beispielsweise zu einem Laubhüttenfest im Garten der Friedrichstraße, zu dem auch nicht-jüdische Kinder eingeladen waren.

Doch ab 1936 durfte die Jüdin Hannelore nicht mehr mit diesen Mädchen in die Schule gehen. Am 21. November 1935 hatte der Ludwigsburger Gemeinderat beschlossen:«Es soll der Versuch gemacht werden, die die Ludwigsburger Volksschulen besuchenden nicht-arischen Schüler einer Stuttgarter Judenschule zu überweisen…»

Wie andere Ludwigsburger Schüler und Schüler/innen, beispielsweise die noch jüngere Marie Theres Elsas, musste Hannelore nun täglich nach Stuttgart in die jüdische Volksschule fahren.

Die gnadenlose Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger aus der Gesellschaft aber ging immer weiter. «Juden werden von den Ludwigsburger Vieh- und Pferdemärkten ausgeschlossen.» (Verfügung des Ludwigsburger Oberbürgermeisters vom Februar 1937)

Das war nur der Anfang der Boykottmaßnahmen gegen jüdische Betriebe gewesen, bald wurden die noch verbliebenen jüdischen und nicht enteigneten, im Nazijargon nicht «arisierten» Geschäfte und Betriebe endgültig zur Schließung gezwungen: am 13. Dezember 1938 musste auch der Viehhändler Josef Wertheimer seine «Geschäftsaufgabe» melden.

Hannelores Bruder Hans, der, nachdem er von 1936 bis 1937 die Ludwigsburger Handelsschule besucht hatte, inzwischen in Mühlacker eine Schlosserlehre machte, war wie fast alle jüdischen Männer in Ludwigsburg nach dem Pogrom vom 9./10. November 1938 verhaftet worden und blieb zwei Monate im KZ Dachau inhaftiert. 1940 konnte er jedoch in die USA emigrieren.

Bald darauf, im Dezember 1942, wurden Hannelore und ihre Eltern von Ludwigsburg nach Baisingen zwangsumgesiedelt. Nachdem die Stadt Ludwigsburg darauf verzichtet hatte, nach Überlegungen der NSDAP-Kreisleitung, ein leerstehendes Eglosheimer Barackenlager in ein «Judendorf» umzuwandeln und die Ludwigsburger Juden dort zu konzentrieren, wurden nun die noch verbliebenen jüdischen Bürgerinnen und Bürger nach Baisingen und in andere Orte – ältere Menschen in sogenannte «Jüdische Altersheime» in ganz Süddeutschland – zwangsweise umgesiedelt, um ganze Städte wie Ludwigsburg «judenfrei» zu machen. Und sie letztendlich dort für den Abtransport in die Vernichtungslager zu sammeln.

Von Baisingen aus ging am 16. März 1942 über das Deutsche Rote Kreuz ein Brief nach New York an Siegfried Geismar, bei dem der Sohn Hans inzwischen lebte: «Wir sind alle gesund, hoffe Ihr alle auch. Warum schreibt Hans nichts? Gruß Josef, Irma.»

Die drei hatten noch versucht, wie der Sohn und Bruder auch nach den USA auszuwandern. 1941 bekamen Ida und Josef Wertheimer schließlich auch Affidavit (eine Art Bürgschaft eines amerikanischen Bürgers) und Visum, tragischerweise aber nicht ihre Tochter Hannelore. Daraufhin verzichteten die Eltern auf die ihnen mögliche Flucht und blieben bei ihrer Tochter in Deutschland.

Hannelore arbeitete und wohnte vom 12. Januar bis 31. März 1942 als Haushaltspraktikantin im «Jüdischen Altersheim» Herrlingen, danach wohnte sie wieder in Baisingen bei den Eltern. «Geliebter Hansel! Wir gesund. Reisen nächster Tage in Margots Nähe. Sei unbesorgt. Bleib gesund, auf ein Wiedersehen hoffend, grüßen und küssen Dich Eltern und Deine Lore.»

Der kurze Brief vom 4. April 1942 an den Bruder im New Yorker Exil, indem sie die bevorstehende Deportation in Richtung Osten andeuteten – die erwähnte Tante Margot war nach Riga deportiert worden –, war für Hans Wertheimer das letzte Lebenszeichen seiner Familie.

Alle drei wurden am 26. April 1942 mit dem zweiten großen Transport Richtung Osten, über das Sammellager Killesberg in Stuttgart, nach Izbica bei Lublin deportiert und dort ermordet. Izbica war eines der größten Durchgangslager im Osten Polens, ein völlig überbevölkertes jüdisches Ghetto, gleichsam ‹Vorhölle› für den Weitertransport zigtausender deutscher und europäischer Juden in Vernichtungslager wie Sobibor oder Treblinka.

Kein einziger der 278 mit diesem Transport Deportierten aus Württemberg, unter denen sich auch viele Kinder und Jugendliche wie die damals gerade 16jährige Hannelore befanden, hat überlebt. Die allerletzten Lebenszeichen der Familie sind zwei kurze, offensichtlich zensierte Briefe vom 7. und 17. Juli 1942 an Bekannte in Ludwigsburg und Stuttgart, dann verliert sich die Spur.

Die genauen Umstände der Ermordung und die Todesdaten von Hannelore, Ida und Joseph Wertheimer sind unbekannt.

Christine Macco

Hans Wertheimer
geb. 21. Dezember1921 in Stuttgart, 1940 in die USA emigriert, dort verheiratet, eine Tochter, Inhaber einer Werkzeughandlung in Riverdale, N.Y., war mehrfach in Ludwigsburg zu Gedenkfeiern, zuletzt wohnte er in Fort Lee, New Jersey. Am 23. Dezember 2007 dort laut Todesanzeige in der New York Times verstorben.
Fotos oben: Montage von Portraits von Hanna, Ida und Joseph Wertheimer aus dem Bestand des Stadtarchivs Ludwigsburg
Stolperstein-Verlegung für Familie Wertheimer im September 2008

Emma Unterkofler

Die Mutter von zwei Kindern stirbt in Grafeneck

Wilhelm-Bader-Straße 13

Emma Hieber wird am 19. Juli 1907 in Bopfingen geboren. Sie heiratet den Bierfahrer Hugo Unterkofler, der am 30. November 1901 in Ludwigsburg geboren wurde; als Beruf ist in den Akten Hausfrau angegeben. Sie hat mit Hugo eine Tochter.
Als sie im Juni 1935 in die Heilanstalt Weinsberg eingewiesen wird, protokolliert ein Arzt: Sie sei bis zu ihrem elften Lebensjahr in Bopfingen zur Schule gegangen (…), als die Mutter starb, kam sie zu Pflegeeltern nach Ludwigsburg. Nach der Schule sei sie in ein Geschäft gegangen und zwar „zu Siegle“ in Kornwestheim. Dort habe sie bis zur Geburt ihrer Tochter gearbeitet. Die Ehe sei glücklich gewesen.
Den Bericht für die Übernahme in die Heilanstalt Weinsberg schrieb Dr. Schumm aus Ludwigsburg. Ihre Gemütslage bezeichnet er als „eigenartig, reserviert“. Er stellt fest: „Beginn einer Schizophrenie. Die vom Hausarzt gestellte Diagnose Schizophrenie wurde vom Facharzt Dr. Beetz Stuttgart bestätigt.“
Im Krankenbericht heißt es weiter: „Nach Angaben des Ehemanns ist die Kranke schon etwa neun Jahre verändert, war dann ein halbes Jahr in nervenärztlicher Behandlung in Stuttgart (…). Konnte aber offenbar ihrem Hauswesen nicht mehr nachkommen (…).“
Als Emma Unterkofler etwa ein halbes Jahr in Weinsberg ist, wird eine Schwangerschaft festgestellt, am 4. April 1936 bekommt Emma einen gesunden Sohn. Mehrfach hält der Krankenbericht fest, dass sie mit dem Kind recht zärtlich ist, sie stille es regelmäßig, „freut sich an ihm und geht sorgfältig mit ihm um“.
Am 6. Mai wird der Junge in Pflege gegeben. „Patientin … erfasst die Tatsache nicht sogleich, weinte dann heftig und beruhigte sich nur langsam, wollte auch fort.“
Die weiteren Einträge in der Krankenakte sind alle ähnlich: Emma schimpft, singt, führt Selbstgespräche, schimpft wieder ausfallend, singt und weint.
Am 19. August 1940 lautet der letzte Eintrag: „Unverändert. Verlegt in eine neue Anstalt.“ Die Wahrheit ist: Am gleichen Tag wird sie in Grafeneck ermordet.

Christian Rehmenklau

Meta Stiefel

Die ungeschriebene Geschichte einer Nachbarin

Marstallstraße 4

Über Meta Stiefel wissen wir nur wenig. Unsere ersten Quellen sind die Dokumentation der Schicksale von Menschen jüdischer Herkunft aus Württemberg im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart und das Gedenkbuch Baden-Württemberg – beides möglichst sorgfältig zusammengetragene Informationssammlungen, entstanden Jahrzehnte nach dem Ende des Nazi-Regimes.
Zu Meta Stiefel finden wir: „Geboren am 26. April 1887 in Menzingen, lebte um 1933 in Ludwigsburg, wurde am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert und ist dort umgekommen.“ Diese Information findet man auch in Joachim Hahns vortrefflichem Buch „Jüdisches Leben in Ludwigsburg“ – auch Hahn stützte sich in seinem 1998 erschienenen Band unter anderem auf die oben genannten Quellen.
Die Durchsicht der Adressverzeichnisse von Ludwigsburg ergibt keinen Hinweis auf Meta Stiefel. Aus anderen Recherchen wissen wir, dass dies die Vermutung nahe legt, Meta Stiefel habe als Hausangestellte gearbeitet und sei daher nicht als „selbstständig wohnend“ gemeldet gewesen.
Dann ergibt eine Akte im Staatsarchiv Ludwigsburg weitere Erkenntnisse – dort sind die Unterlagen aufgehoben, in denen Überlebende selbst oder Angehörige von NS-Opfern nach dem Ende der Terrorherrschaft versuchten, wenigstens finanziellen Ausgleich für das erlittene Unrecht zu bekommen: Es geht in unserem Fall um einen Streit über eine Schreibmaschine, die Meta Stiefel offensichtlich besessen hat und die sie 1941 einer Berta Traub in Verwahrung gegeben hatte. Nach dem Krieg verlangten die Verwandten von Meta Stiefel diese Schreibmaschine zurück; letzten Endes wurde das Gerät dann zurückgegeben.
Viel wichtiger ist aber, dass diese Akte die bisher einzige konkrete Informationsquelle zu Meta Stiefel ist. Nun wissen wir: Sie hat bis 1941 als Hausangestellte bei der Fabrikantenfamilie Elsass in der Marstallstraße 4 gewohnt. Als die Polizei das Haus ihres ebenfalls jüdischen Arbeitgebers durchsucht, es war im Jahre 1941, der „genaue Tag sei nicht erinnerlich“, habe Meta Stiefel die Zeugin Berta Traub gebeten, die neuwertige Schreibmaschine in Verwahrung zu nehmen, „bis sie wiederkomme und (diese) an niemanden herauszugeben als an sie persönlich.“
Meta Stiefel konnte die Reiseschreibmaschine Marke „Hermes Baby“ nicht mehr zurückfordern, sie wurde selbst abgeholt, nach Riga transportiert und dort ermordet. Ein Datum ihres Todes ist nicht bekannt. Man kann an Hand der Schlichtungsakte den Weg der Schreibmaschine recht genau zurückverfolgen, über ihre Besitzerin erfahren wir aber nichts Näheres.
Wir können nur darüber spekulieren, für welchen Zweck sich Meta Stiefel diese recht teure Maschine (ähnlich der hier abgebildeten) gekauft hat, was für ein Leben zu diesem Zweck gepasst haben könnte. Doch konkret bleibt uns nur das Wissen um eine Ludwigsburgerin, die im Alter von 54 Jahren gezwungen wurde, mit einem der berüchtigten Züge vom Stuttgarter Nordbahnhof aus fast zweitausend Kilometer weit nach Osten transportiert zu werden, und die dort ermordet wurde – und die eine Schreibmaschine besessen hatte.

Christian Rehmenklau

Charlotte Schörg

Die 20jährige braucht Hilfe und wird ermordet

Mörikestraße 70

Charlotte Schörg kommt am 30. August 1920 in Ludwigsburg zur Welt. Sie ist das vierte Kind von Gustav und Wilhelmine Schörg. Komplikationen bei der Geburt verursachen eine schwere Behinderung. Charlotte ist gelähmt und auf vollständige Pflege und Versorgung angewiesen.
Im Alter von sechs Jahren ist sie für kurze Zeit in der Heil-und Pflegeanstalt in Stetten untergebracht. Sie wird von dort wieder zur Familie nach Ludwigsburg entlassen, weil sie nicht „bildungsfähig“ sei.
Die familiäre Situation ist durch die kriegsbedingte Erkrankung des Vaters schwierig. Ein Jahr nach dem Umzug der Familie von der Lindenstrasse in das eigene Haus in der Mörikestraße 70 stirbt Gustav Schörg 1931.
Für die gesundheitlich angegriffene Mutter von Charlotte ist die Pflege ihrer kranken Tochter kaum noch zu bewältigen. Aus diesem Grund beantragt der Ludwigsburger Hausarzt im November 1940 erneut die Aufnahme Charlottes in die Heil-und Pflegeanstalt in Stetten.
Die Anstaltsleitung lehnt den Antrag „wegen Überfüllung“ ab. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits in fünf Transporten Bewohner/innen der Anstalt im Rahmen der Aktion T4, nach Grafeneck gebracht und dort ermordet worden.
Anfang März 1941 wird Charlotte Schörg in die Heilanstalt in Weinsberg aufgenommen. Wenige Wochen später, am 31. März 1941 wird Charlotte Schörg mit anderen Patienten gemeinsam in die Tötungsanstalt nach Hadamar gebracht. Unmittelbar nach ihrer Ankunft werden die Menschen durch Gas ermordet.

Gudrun Karstedt

Zum Schicksal von Charlotte Schörg sind ergänzende biografische Angaben erschienen in der Veröffentlichung von

Christian Hofmann

Kinder – „Euthanasie“ und das Gesundheitsamt Ludwigsburg

Opferschicksale aus Ludwigsburg geben Einblicke in die Bürokratie der Vernichtung im Nationalsozialismus

Ludwigsburger Geschichtsblätter Band 75/2021

Seite 140-173

Darin enthalten:  Einzelschicksale aus Ludwigsburg

Erna Wolf – Hans Mayer – Anita Henk –

Margarete Michelfelder – Charlotte Schörg

Dr. David und Selma Schmal

Angesehene Bürger wurden ausgegrenzt

Myliusstraße 6

Als am 16. Mai 1944 der Transport Ea 567 von Theresienstadt nach Auschwitz rollte, befanden sich auch Dr. David Schmal (*1870) und seine Ehefrau Selma (*1882) aus Ludwigsburg in einem der verriegelten Transportwaggons. Von da an verlieren sich die Spuren. Es war ein Todestransport, und die Menschen wurden in den Tagen darauf ermordet. Häftlings- und Transportlisten der NS-Schergen sind die letzten Dokumente, auf die sich auch das Gedenkbuch des Bundesarchivs in Koblenz und die Dokumentation der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem berufen. Dr. David Schmal starb im Alter von fast 74 Jahren zusammen mit seiner Frau in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau.

Angesehene Ludwigsburger Familie

David Schmal war der Sohn des angesehenen Lehrers und Vorsängers Abraham Schmal und seiner Frau Hanna. Sie zogen 1878 von Nordstetten bei Horb nach Ludwigsburg. Abraham Schmal wurde 1907 vom württembergischen König die Verdienstmedaille des Kronordens verliehen. Er starb im August 1920, nachdem seine Frau bereits 1919 auf dem israelitischen Friedhof in Ludwigsburg beigesetzt worden war.
David Schmal wurde nach seinem Studium 1894 zum Dr. med. promoviert und betrieb danach eine Praxis als Spezialarzt für Frauenkrankheiten, zuletzt in der Myliusstraße 6, wo sich auch die letzte frei gewählte Wohnung der Familie befand.
Im Jahr 1904 heiratete er Selma Emanuel aus Obrigheim. Das Ehepaar bekam zwei Söhne: Kurt starb 1906 bei der Geburt, Heinrich kam 1907 zur Welt. Er überlebte das Menschheitsverbrechen, das man Holocaust nennt.

Diskriminierung, Boykott, Deportation

Die Diskriminierung und soziale Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger nahm nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze immer mehr zu, der allgemeine Boykott gegen jüdische Ärzte erschwerte die Berufsausübung. Das endgültige Berufsverbot durch die Nazis im Juli 1938 machte ärztliches Wirken schließlich unmöglich.
Nach der Pogromnacht, in deren Folge auch die Synagoge in der Alleenstraße in Brand gesteckt und verwüstet worden war, verschärfte sich die Lage. Heinrich Schmal wurde im KZ Dachau interniert, kam allerdings gegen Ende des Jahres wieder frei. Er schaffte es, im Februar 1939 nach New York zu emigrieren, die betagten Eltern blieben zurück. Im Sommer 1939 erzwangen die Machthaber den Umzug des Haushalts in die Seestr. 75, einem „Judenhaus“. In der exponierten Wohnlage Myliusstraße waren Juden nicht mehr erwünscht.
Am 22.12. 1941 wurde das Ehepaar Dr. Schmal endgültig aus der Stadt vertrieben und wie andere jüdische Familien nach Baisingen bei Horb zwangsweise umgesiedelt. In beengten Wohnverhältnissen hausend, existenziell vernichtet und psychisch im Ausnahmezustand waren die Familien den Schikanen ausgesetzt. Ende 1941 begannen die Deportationen.
Dr. David und Selma Schmal wurden am 22. August 1942 mit dem Transport XIII/1 von Stuttgart aus nach Theresienstadt verbracht. Es folgten fast zwei Jahre im Getto.
Dann, am 16. Mai 1944, rollte Transport Ea 567 von Theresienstadt nach Auschwitz. Die Häftlinge wurden unmittelbar nach Ankunft in die Gaskammern geschickt.

Otto Lechner

Bildmontage unter Verwendung von Portraitfotos von Dr. David und Selma Schmal aus dem Bestand des Stadtarchivs Ludwigsburg

Rosa Rommel

Eine Frau wird im Alter von 25 Jahren ermordet

Hermann-Löns-Straße 3

Rosa, das einzige Kind des Ehepaars Friedrich und Rosine Rommel, kommt am 11. Februar 1915 in Oßweil zur Welt. Zu früh geboren, ein Siebenmonatskind, bleibt sie in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zurück.
Im Alter von zehn Jahren wird Rosa in die Heil-und Pflegeanstalt in Stetten aufgenommen. Sie besucht dort einige Jahre die Anstaltsschule und lernt rechnen, lesen und schreiben. Sie geht gern zur Schule. Rosa hat aber auch viel Heimweh und zieht sich dann zurück, um für sich allein zu spielen. Kleine Aufträge erledigt sie gern. Sie freut sich sehr über die regelmäßigen Besuche ihrer Eltern. Die Ferien verbringt sie daheim.
Im Lauf der Jahre wird es schwieriger, sich mit Rosa zu verständigen. Sie hört sehr schlecht. Ihre Sprechweise ist nur schwer verständlich. Sie zieht sich immer mehr in ihre eigene Welt zurück.
Die Heil-und Pflegeanstalt in Stetten erhält im August 1940 Listen mit zu „Verlegenden Kranken“ vom Württembergischen Innenministerium. Der Anstaltsleitung ist bekannt, was mit der „Verlegung“ auf ihre Heimbewohner zukommt. Ihr Protest bei den zuständigen Stellen ist vergeblich.
Im Rahmen der später so genannten Aktion T4 werden in sechs Transporten Bewohner der Anstalt Stetten zur Tötung nach Grafeneck gebracht. Am 5. November 1940 verlässt ein „Grauer Bus“ mit 67 Menschen Stetten in Richtung Grafeneck. Darunter befindet sich auch Rosa Rommel.
Noch am gleichen Tag werden die Patienten in der Gaskammer ermordet.

Gudrun Karstedt

Lina Helene Richter

Rückkehr ins Unglück

Leonberger Straße 18

Lina Helene Richter war eine Schwester von Emma, Frieda und Regina Laupheimer.
Daher wird ihre Geschichte mit der ihrer Schwestern zusammen erzählt.

Zur Geschichte von Emma, Frieda und Regine Laupheimer…

Bildmontage unter Verwendung eines Portraitfotos von Lina Helene Richter aus dem Stadtarchiv Ludwigsburg

Anton Reinhardt

Ein unbescholtener Bürger unserer Stadt

Leonberger Straße 32

Der Stolperstein, der vor dem Gebäude in der Leonberger Str. 32 am 27. September 2008 verlegt wurde, erinnert an das kurze Leben und den Tod des Sinto Anton Reinhardt.

Anton Reinhardt wurde 1921 in Sulzbach im damaligen Kreis Backnang geboren. Seine Mutter Franziska heiratete bald nach Antons Geburt den in Augsburg lebenden Sinto Jakob Lehmann mit dem sie elf weitere Kinder hatte. In dieser Familie in Augsburg lebte Anton bis 1940, als er von seinen Angehörigen über Nacht getrennt wurde.

Die Eltern und die elf Geschwister wurden Ende April 1940 verhaftet und zusammen mit Hunderten gleichzeitig verhafteter Sinti auf den Hohen Asperg verschleppt, wo sie jedoch nur kurze Zeit blieben. Bereits am 22. Mai 1940 marschierten um die 500 Sinti durch die König- und Bahnhofstraße zum Asperger Bahnhof, von wo sie nach Polen zur Zwangsarbeit transportiert wurden. Die Ludwigsburger Kreiszeitung (LKZ) berichtete über diesen Vorgang am 27. Januar 2007 ausführlich einschließlich eines dokumentarischen Fotos, das den Zug der Verhafteten zum Bahnhof und zuschauende Asperger Bürger zeigt. Zu den wohl wenigen, die von den Deportierten überlebten, gehört die Mutter Anton Reinhardts. Aus den Akten ihres Wiedergutmachungsprozesses haben wir die Kenntnis über das Schicksal ihres Sohnes Anton.

Anton Reinhardt verdankt die Tatsache, dass er 1940 nicht auch über den Hohenasperg mit nach Polen deportiert wurde wohl dem Umstand, dass er als einziges Mitglied der Großfamilie Lehmann den Geburtsnamen seiner Mutter (Reinhardt) trug. Dies haben die verhaftenden Gestapo-Leute ganz offensichtlich nicht erkannt. Das änderte aber nichts daran, dass auch er letzten Endes den braunen Häschern nicht entgehen konnte.

Einen Monat nach der Verhaftung seiner Familie verschlug es Anton – sein Beruf wird als Musiker/Fabrikarbeiter angegeben – in die Ludwigsburger Gegend, wo er mit seinen Großeltern mütterlicherseits (Ferdinand Reinhardt («Balzer»), Arbeiter, geboren am 26. Oktober 1878, und Ehefrau Katharina Reinhardt, geb. Reinhardt, geb. 25. Februar 1883) zusammentraf.

Laut Einwohnermeldekartei wohnten sowohl er (Hanseli) als auch seine Großeltern «von Winzerhausen kommend» in Ludwigsburg vom 26. Juni 1940 bis 29. März bzw. bis 1. April 1941 in der Leonberger Straße 32. In der Einwohnermeldekartei von Winzerhausen bei Großbottwar, Kreis Ludwigsburg waren vorher jedoch weder Anton Reinhardt noch seine Großeltern gemeldet. Möglicherweise haben sich Enkel und Großeltern in Winzerhausen lediglich getroffen und dort nur kurz aufgehalten, ehe sie nach Ludwigsburg weiterzogen, so dass eine polizeiliche Meldung entbehrlich war.

Anton war dann noch kurz vom 18. April 1941 bis 1. Juni 1941 unter der Adresse Ludwigsburg, Bietigheimer Straße 17 bei K. Morcher gemeldet, während die Großeltern ab dem 29. März 1941 unter der Anschrift Siegesstraße 19, Hinterhaus, ausgewiesen werden. Es handelt sich dabei um die Anschrift der ehemaligen Ziegelwerke Ludwigsburg AG.

Ab 21. Juni 1941 lautet auch die Anschrift von Anton Reinhardt Siegesstraße 19, Hinterhaus, Ziegelwerke AG. Sowohl Anton als auch sein Großvater Ferdinand werden im Ludwigsburger Einwohnermeldebuch von 1943 unter dieser Adresse als «Arbeiter» genannt. Es muss davon ausgegangen werden, dass sie dort neben weiteren Trägern des Namens Reinhardt als Zwangsarbeiter tätig waren.

Anton Reinhardt war als Ziegeleiarbeiter bis zum 15. März 1943 in der Siegesstraße 19, Hinterhaus, gemeldet. Die Einwohnermeldekartei enthält unter «neuer Wohnort» den lakonischen Vermerk «Konzentrationslager Auschwitz». Durch jahrelange Forschungsarbeit wurde nachgewiesen, dass am 15. März 1943 von den Gleisen des Stuttgarter Nordbahnhofs, die heute zur Gedenkstätte «Zeichen der Erinnerung» geworden sind, 234 Sinti und Roma, zusammengepfercht in Viehwaggons, nach Auschwitz-Birkenau in den neuen Lagerabschnitt B II e deportiert wurden, der Zigeunerlager genannt wurde. Nur 27 von ihnen überlebten.

Einer der 234 Sinti war Anton Reinhardt, der am 15. März 1943 mit diesem Zug nach Einbruch der Dunkelheit den Nordbahnhof verließ. Am 17. März endete die Fahrt an der berüchtigten Rampe in Auschwitz-Birkenau. Das historische Ereignis der Märzdeportation ist in den Sinti- und Roma-Familien unvergessen. Am 15. März 2008, also 65 Jahre nach der Deportation, fand an der Gedenkstätte im Nordbahnhof eine beeindruckende Gedenkfeier unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt.

Die erwähnten Gleise des Nordbahnhofs waren im übrigen auch Ausgangspunkt der Deportationen jüdischer und anderer Mitbürger, die Opfer der Nazidiktatur wurden. Zu ihrer Erinnerung sind dort in einer langen Wand ihre Namen eingetragen, wo auch der von Anton Reinhardt zu finden ist.

Sein Tod ist in der erwähnten Einwohnermeldekartei der Stadt Ludwigsburg wie folgt vermerkt: «verst. 27. 12. 43 in Auschwitz, Kasernenstraße (Mitt. v. 8. 4. Jahreszahl unleserlich)».

Im Evidenzbuch des Männerlagers Auschwitz-Birkenau (Quelle A) sind folgende Angaben zu finden: Reinhardt, Anton, geb. 1921-06-02 (Sulzbach), Lagernummer Z-4157, Kategorie Z.D.R. Bemerkungen: AU. (1943-04-12); gest. 1943-00-00).

Diese Angaben werden auch durch die eidestattlichen Versicherung des Josef Reinhardt (nicht verwandt mit Anton) vom 3. April (1961?) bestätigt, wonach Anton Reinhardt vor seiner Haft in Auschwitz im Ziegelwerk Ludwigsburg gearbeitet hat und dort mit seinen Großeltern Reinhardt in einer Steinbaracke, die zum Ziegelwerk gehörte, lebte.

Weiter führt Josef Reinhardt aus, dass er Anton seit seiner Kindheit kannte, mit Anton nach Auschwitz deportiert wurde und mit ihm in den ersten sechs Wochen nach der Deportation im Zigeunerlager und nach Verlegung im Hauptlager zusammen war. Vermutlich Ende 1943 sei Anton in das Krankenrevier verlegt worden, von dem er nicht zurückkam. Er selbst (Josef Reinhardt) sei am 14. April 1944 in das KZ Buchenwald verlegt worden.

Anton Reinhardts Tod mit amtlicher Todeserklärung vom 28. September 1961 wurde, weil dem Standesamt die erwähnte Angabe in der Einwohnermeldekartei offensichtlich nicht bekannt war, wie üblich zum 31. Dezember 1945 festgestellt. Das in der Ludwigsburger Einwohnermeldekartei genannte, auf einer Angabe des KZ Auschwitz beruhende Datum «27. 12. 1943», erscheint jedoch auch nach der von Josef Reinhardt abgegebenen eidesstattlichen Erklärung als verbindlich.

Der Journalist Christian Walf hat in der Ludwigsburger Kreiszeitung, Ausgabe vom 13. September 2008, einfühlsam über den Tod Anton Reinhardts gefragt: «Was waren wohl seine letzten Gedanken? Hatte er Angst? Hat er an seine Mutter gedacht? Seine Familie? Sein kurzes Leben? Und wie ist er gestorben? War er krank? Wurde er totgespritzt? Vergast?» Wir wissen es nicht.

Aber wir wissen, dass Anton Reinhardt ein Mensch ohne jede Schuld war. Er musste sterben, weil das verbrecherische, menschenverachtende Naziregime in seinem Rassenwahn ihn als nicht lebenswürdig ansah.

Gottfried Pampel
Fotomontage oben: Gebäude Leonberger Straße 32 im Jahr 2008. Ein Foto von Anton Reinhardt ist bisher nicht bekannt.