Jenny Henle

Über Ludwigsburg in den Tod

Myliusstraße 6/1

Jenny Henle kommt am 19. April 1894 als Jenny Weil in Laupheim zur Welt. Die jüdische Gemeinde der Stadt ist groß, ihr Vater Hermann Weil ist Kaufmann und handelt mit Branntwein und Zigarren. Das Grab ihrer Mutter Fanny Weil ist noch heute auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim zu finden.
Sie heiratet Leopold Henle, Jahrgang 1877. Der kämpft im Ersten Weltkrieg für das deutsche Vaterland. Das gemeinsame Leben findet in der Heimat von Leopold Henle, in dem kleinen Ort Lehrensteinsfeld bei Heilbronn statt. Auch dort gibt es eine große und wohlhabende jüdische Gemeinde. Leopold hat in Lehrensteinsfeld eine eigene Gaststätte, er ist Viehhändler und besitzt ein großes Stück Land. Er stellt sogar eigenen Wein her. In der jüdischen Gemeinde ist er ein angesehener Mann. Das jüdische Frauenbad von Lehrensteinsfeld befindet sich auf einem Grundstück der Henles. Ihr Wohnhaus ist zweistöckig und hat sieben Zimmer. Das Leben des Ehepaars dürfte also ganz gut gewesen sein – bis zur Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933.
Spätestens ab 1936 gehen auch im kleinen Lehrensteinsfeld die Geschäfte für die Menschen jüdischen Glaubens schlechter. 1937 müssen die Henles ihren Viehhandel einstellen. 1938 die Gaststätte. Im gleichen Jahr wird Leopold Henle ins „Braune Haus“ nach Heilbronn geladen und dort von den Nazis schwer misshandelt. Die Grundstücke der Henles werden weit unter Wert verkauft und „arisiert“. Als „Judenvermögensabgabe“ muss Leopold Henle 4.000 Reichsmark bezahlen. 1939 wird die jüdische Gemeinde Lehrensteinsfeld aufgelöst.
Die Henles versuchen offenbar noch, nach Palästina auszuwandern, dort lebt seit 1938 der Sohn Leopolds aus erster Ehe, die Versuche scheitern aber. Ihre gemeinsame Tochter Flora (Jahrgang 1920) wandert 1939 nach England und von dort 1940 nach Palästina aus. In der Reichspogromnacht verwüsten SA-Mitglieder das Wohnhaus der Henles in Lehrensteinsfeld. Nur ein Zimmer bleibt unbeschadet, ausgerechnet das der christlichen Haushaltsgehilfin Maria Marian. Deren Mann kauft im Jahr 1940 das Haus der Henles in Lehrensteinsfeld. Es existiert bis heute und ist noch immer im Besitz der Familie Marian. Kurz nach der Reichspogromnacht ziehen die Henles in zwei Zimmer in einer Wohnung im ersten Stock der Myliusstraße 6/1 in Ludwigsburg. Sie haben alle wirtschaftlichen Grundlagen, fast ihren kompletten Besitz verloren. Jenny Henle lässt ein paar Überbleibsel ihrer Einrichtung aus Lehrensteinsfeld nach Ludwigsburg bringen.
Am 18. August 1940 stirbt Leopold Henle in Ludwigsburg. Sein Grab ist bis heute auf dem israelitischen Friedhof in Ludwigsburg erhalten. Am 26. November 1941 wird Jenny Henle von Ludwigsburg zunächst nach Stuttgart gebracht und vom dortigen Nordbahnhof am 1. Dezember nach Riga deportiert.
Das letzte Zeichen ihrer Existenz findet sich in den Akten des Transports. Bei der Fahrt soll sie eine von zwölf „Hilfskräften“ in der Gemeinschaftsküche des Zuges gewesen sein. Am 4. Dezember erreicht der Zug sein Ziel, vermutlich ist Jenny Henle direkt nach der Ankunft wie viele andere ermordet worden. Laut Beschluss vom 17. Dezember 1951 wird ihr Todesdatum für die Wiedergutmachungsakten auf den 31. Dezember 1945 gelegt. Ihre Tochter Flora lebt bis heute in Israel. Zur Verlegung des Stolpersteins, der an Jenny Henle erinnert, kamen ihre Enkelin Yael Rotshildramot ihre Urenkel Revival Harush und Amilhood Rotshildramot sowie Ururenkel Ori Rotshildramot nach Deutschland.

Benjamin und Christian Walf

Portraitfoto: Yael Rothshildramot

Anita Henk

Das kurze Leben eines fröhlichen Kindes

Wernerstraße 62

Anita Rosemarie Henks kurzes Leben beginnt am 1. September 1938 in Ludwigsburg. Sie ist von Geburt an behindert und wird ihren fünften Geburtstag nicht mehr erleben. Sie stirbt am 22. Juni 1943 in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren als Opfer der Krankenmordaktion der nationalsozialistischen Gewaltherrscher.
Anita ist ein hübsches, lebhaftes, anhängliches Kind, das auch herzhaft lachen kann. Sie ist fast blind; sie lernt erst spät gehen und macht dann gern tanzende Bewegungen und summt dazu. Sie sagt nur „Mama“, „Papa“ und „ja“ und sie muss gefüttert werden. Nach damaligem Sprachgebrauch wird ihr Verhalten als idiotisch bezeichnet.
Der „Reichsausschuss“ in Berlin ordnet an, dass Anita am 30. März 1943 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren aufgenommen wird. Sie wird in die „Kinderfachabteilung“ eingewiesen, was ihr Todesurteil ist.
Anitas Eltern fühlen sich ihrer Tochter im fernen Kaufbeuren verbunden. Auf ihre Anfragen, wie es Anita gehe, erhalten sie beruhigende Antworten. Dann am 21. Juni 1943 erhält Frau Henk für sie völlig überraschend folgendes Telegramm: „Anita Lungenentzündung schwer erkrankt.” Am Vormittag des nächsten Tages stirbt Anita.
Anitas Tod wurde, wie der vieler anderer Behinderter auch, absichtlich herbeigeführt. Die Verabreichung einer sehr hohen Dosis von Medikamenten, die lethargisch machen, führte dazu, dass ihre Lunge verschleimte und sie in der Folge an einer nicht behandelten Lungenentzündung starb.

Andreas Nothardt

Zum Schicksal von Anita Henk sind ergänzende biografische Angaben erschienen in der Veröffentlichung von

Christian Hofmann

Kinder – „Euthanasie“ und das Gesundheitsamt Ludwigsburg

Opferschicksale aus Ludwigsburg geben Einblicke in die Bürokratie der Vernichtung im Nationalsozialismus

Ludwigsburger Geschichtsblätter Band 75/2021

Seite 140-173

Darin enthalten:  Einzelschicksale aus Ludwigsburg

Erna Wolf – Hans Mayer – Anita Henk –

Margarete Michelfelder – Charlotte Schörg

Johanna Grünewald

Eine Ludwigsburgerin wurde
im Alter von 50 Jahren ermordet

Goetheplatz 2


Nach dem Krieg von 1914, als man die Weltkriege noch nicht nummerierte, beschrieb Theodor Immanuel Linder, geboren 1891 in Ludwigsburg, seine ältere Schwester wie folgt:
„Meine Schwester Johanna hat als ältestes Kind und dazu noch als Mädchen immer tüchtig mithelfen müssen. Was hat sie schon in jungen Jahren geleistet! Sie besuchte die Töchtermittelschule und war eine sehr gute Schülerin. 1910 war sie in der Schweiz als Zimmermädchen bei Familie Pestalozzi-Brunner in Zürich.
Im Weltkrieg heiratete sie einen Freund von Ernst (Ernst ist der mittlere der drei Brüder), den Wiernsheimer Hauptlehrer Rometsch. (…) Leonhard fiel als Leutnant. Ein feiner Mensch, ein tapferer Soldat, ein beliebter Kompaniechef. Er ruht in Frankreich an der Marne. Johanna hat schwer an diesem Schicksal getragen. Man wird wohl annehmen dürfen, dass sie damals innerlich zusammengebrochen ist. (… )
Jahre nach dem Krieg heiratete sie den Oberpostinspektor Grünewald, Max. Der neue Schwager war ein alter Bekannter aus dem ‹Täle›. Sein Vater, der Schreiner im Walker’schen Orgelbau war, hatte neben uns im Täle Gut mit Haus. Die Grünewaldfamilie, besonders Mutter Grünewald – der Vater war längst gestorben – arbeitete an dieser Heirat. Max war ein einsamer Mensch, der jahrelang nicht mehr bei der Post beamtet war, da er gerne getrunken hatte. Weil er sich sonst nie das Geringste hatte zuschulden kommen lassen, wurde er 1919 in der Revolution wieder von der Post in Dienst genommen. Er hatte im Krieg seine Grabenpflicht getan (…).
Johanna bekam ein Kind – das Hannele.  In Ludwigsburg hat Johanna mit ihrem Mann 1927 ein wundernettes Haus gebaut“ – gemeint ist das Haus am Goetheplatz 2.
Später vertraute Theodor Lindner seinem Tagebuch an, dass Johanna krank und in der psychiatrischen Klinik in Weinsberg sei. „Sie leidet unendlich unter dem Eingesperrtsein. Möge Gott ihr wieder die Gesundheit schenken!“
Doch nach gerade drei Monaten zuhause wurde Johanna Grünewald im September 1935 erneut eingewiesen. Im März 1941 wurde sie „ungeheilt entlassen“ und in die frühere hessische Landesheilanstalt Hadamar gebracht. Die dortige Gedenkstätte berichtet: „Von Weinsberg gelangte Frau Grünewald in einem Transport mit 80 weiteren Patienten am 10. März 1941 nach Hadamar. Da die Patienten eines solchen Transportes in der Regel noch am Tag der Ankunft in die im Keller der Anstalt befindliche Gaskammer geschickt und ermordet wurden, ist der 10. März 1941 als Todestag von Johanna Grünewald zu betrachten.“

Bildmontage unter Verwendung eines Fotos von Johanna Grünewald aus Familienbestand

Hans Alfred Groß

Mit Lebensfreude und Mitgefühl

Wilhelm-Blos-Straße 25

Aus dem Buch «Jüdisches Leben in Ludwigsburg» von Joachim Hahn, aus den Erzählungen der Halbgeschwister, aus vorhandenen Schriftstücken über und von Hans Alfred Groß selbst entsteht das Bild eines humorvollen, lebensdurstigen und aufgeschlossenen jungen Mannes, dessen Lebensraum planvoll eingeengt und schließlich zerstört wurde.

Am 22. Dezember 1921 wurde Hans Alfred in Mannheim geboren. Seine Eltern stammten beide aus jüdischen Familien. Als der Vater starb, war Hans etwa vier Jahre alt. Die Mutter wurde vom Vormundschaftsgericht als Vormund eingesetzt. Sie verheiratete sich nach sechs Jahren wieder. Der im Bankfach tätige Stiefvater von Hans Alfred, Franz Philipp Brucker, war katholisch. In Mannheim wurden die Halbgeschwister Dieter 1932 und Lore 1933 geboren. 1935 erfolgte dann der Umzug der Familie nach Ludwigsburg in die Franz-Seldte-Straße 25 1Franz Seldte, Begründer und Bundesführer des Wehrverbands Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, von 1933 – 45 Reichsarbeitsminister. Nach dem Krieg wurde die Straße in Wilhelm-Blos-Str. umbenannt. Wilhelm Blos war ein Journalist, Historiker und Schriftsteller. Er war Mitglied des Reichstags für die SPD und von 1918  bis 1920 erster Staatspräsident des Volksstaats Württemberg.. Zwei weitere hier geborene Halbgeschwister sind bereits im Säuglings- beziehungsweise im jugendlichen Alter gestorben.

Im Frühjahr 1936  begann Hans in Ludwigsburg eine Flaschner- («Drahtler-»)lehre bei der Firma Carl Weiss und Cie., Draht- und Metallwarenfabrik in der Alleenstr. 46, die in Adolf-Hitler-Straße umbenannt worden war. Im November 1938 musste er seine Lehre trotz guter Leistungen in Schule und Betrieb abbrechen, da er als Jude keine Lehre mehr machen durfte. Fortan durfte er nur noch als Hilfsarbeiter beschäftigt werden.1940 entschloss er sich, den Haushalt seiner jüdischen Mutter und des nicht-jüdischen Stiefvaters (in der Sprechweise der Nationalsozialisten entsprach dies einer «privilegierten Mischehe»2Die jüdischen Ehepartner aus privilegierten Ehen waren von der Pflicht zum Tragen des gelben Judenstern ausgenommen. Sie wurden auch vorerst von den Deportationen zurückgestellt) zu verlassen, um seine Familie als «Voll-Jude» nicht zu gefährden. Er ging nach Cannstatt und bekam Arbeit als Hilfsarbeiter bei einer Gärtnerei und einer Metallfabrik. In Stuttgart – Bad Cannstatt wohnte er zuletzt in der Zieglergasse 1 bei den Geschwistern Buxbaum, die eine koschere Metzgerei betrieben. Über den Zwang zum Tragen des «Judensternes» ab Juli 1941 und die ersten Erfahrungen mit dieser einschneidenden Diskriminierungsmaßnahme berichtet er aus der Sicht eines aufgeweckten jungen Mannes sehr anschaulich und durchaus auch humorvoll in einem Brief an die Eltern vom 19. Juli 1941:

«Liebe Eltern! Soeben bin ich vom Geschäft heimgekommen und will Euch gleich meinen ersten Tag mit dem Orden schildern. (…) Ich habe Glück gehabt, da gleich eine Tram kam. (…) Mit dem Besteigen meiner Wenigkeit in den Wagen wurden sämtliche Gespräche wie auf Kommando abgebrochen und alle Blicke fielen auf meine Heldenbrust. Ich garantiere, dass Elefantenzwillinge (falls es welche gibt) nicht ärger bestaunt worden sind als ich. (…) Von der Haltestelle zum Geschäft traf ich ein paar Schulkinder. Wie die an mir vorbei waren, hörte ich sie sagen: ‹etzet muescht mir doch die 10 Pfennig gäbe, des ischt doch en Jud gwä!›

Besuche zu Haus konnten nur noch selten unternommen werden – weil die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel für Juden immer stärker erschwert wurde, war zumeist ein langer Fußmarsch notwendig.

Im November 1941 wurde Hans im Zuge der großen Juden-Verhaftungsaktion in Württemberg auf dem Killesberg in Stuttgart mit dem Ziel der Deportation nach Osten inhaftiert. Am 1. Dezember 1941 erfolgte die Deportation über Glogau, Posen nach Riga. Von dort aus kam er zur Zwangsarbeit auf ein SS-Gut, später dann ins Ghetto in Riga zu einem Arbeitskommando; schließlich erfolgte Inhaftierung im Konzentrationslager Stutthof, dann Buchenwald.

Von dort aus wurde er auch eingesetzt in einem Arbeitskommando im Braunkohlen-Benzinwerk BRABAG in Tröglitz. Vom KZ Buchenwald aus erfolgte im April 1945 die Evakuierung der Häftlinge in Richtung Tschechoslowakei (Theresienstadt). An der tschechischen Grenze in der Nähe des Bahnhofs Reitzenhain wurde die Lokomotive  des Zugs den Berichten zufolge durch amerikanische Tiefflieger unter Beschuss genommen. Als Hans mit den anderen Häftlingen aus dem Waggon sprang, sei er von einem SS-Mann erschossen worden. Der Todeszeitpunkt wurde später amtlich auf den 15. April 1945 festgelegt.

Über diese letzte Lebensphase legt ein eindrücklicher Bericht von Mithäftling Harry Kahn Zeugnis ab. Weitere kleine schriftliche Lebenszeichen von Hans existieren noch: Karten oder Kurzmitteilungen, geschrieben vor dem Abtransport aus Stuttgart, aus Glogau, aus Buchenwald, in denen er versucht, seinen Eltern die Sorgen um ihn zu mindern Die Familie überlebte in Ludwigsburg unter entsprechenden Erschwernissen. Der Stiefvater starb 1959, die Mutter  1964. Die Halbgeschwister Lore und Dieter sind noch am Leben. Auch ihnen verdanke ich diese Informationen.

Nachtrag: Dieter starb 2021

Recherche und Bericht von Friedhelm Buschbeck, 2009, ergänzt von Regina Boger 2023

 

Gedenkfeier 2022 mit den heutigen Besitzern des Hauses und Nachbarn

Fotomontage oben: Gebäude Wilhelm-Blos-Straße 25 im Jahr 2009, Portrait Hans Alfred Groß aus Familienbesitz

Jakob und Klara Greilsamer

Die Nazis zerrissen ihre Familie

Mathildenstraße 8

Siebzig Jahre sind vergangen, seit die beiden Geschwister Heinz und Hannah Greilsamer mit einem Kindertransport von Ludwigsburg zum Schulbesuch nach England gebracht wurden. Ihre Eltern, Jakob und Klara Greilsamer, hatten sich zu diesem Schritt entschlossen, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.
Es wurde für die Kinder und ihre Eltern ein Abschied für immer. Jakob und Klara Greilsamer und die Großmutter Sara Ottenheimer wurden deportiert. Sie sind im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden.
Am 7. Oktober 2009 war Heinz Greilsamer, seit seiner Emigration Harry Grenville, in Begleitung seiner Familie nach Ludwigsburg gekommen, um bei der Verlegung der Stolpersteine zur Erinnerung an seine ermordeten Eltern und Großmutter anwesend zu sein. Bevor die Stolpersteine in den Gehweg bei der Mathildenstraße 8, dem letzten Wohnort der Familie, eingelassen wurden, gedachte Harry Grenville mit dem Kaddisch seiner toten Eltern und Großmutter. Es war nach vielen Jahren noch einmal ein Abschiednehmen, das uns Anwesende sehr bewegte.

Von Gemmingen bei Eppingen nach Ludwigsburg

Vier Brüder aus der Familie des Josef Wolf Ottenheimer und seiner Frau Sara geb. Rothschild, gründeten um 1870 den Viehhandel «Gebrüder Ottenheimer» in der Vorderen Schloßstraße 25 (heute: Schloßstraße) in Ludwigsburg. Die jüdische Familie Ottenheimer stammte aus Gemmingen bei Eppingen. Zu dieser Zeit hatte die jüdische Gemeinde dort ihren höchsten Mitgliederstand. Als endlich auch in Württemberg die bürgerliche Gleichstellung der Juden Gesetz war, zogen viele jüdische Bürger aus den Dörfern in die Städte, so auch Moses, Abraham, Simon und Isaak Ottenheimer. Sie lebten von da an mit ihren Familien in Ludwigsburg. Bis zur Jahrhundertwende betrieb die «Gründergeneration» den Viehhandel, danach wurde er von deren Söhnen übernommen.
Josef S. Ottenheimer wurde als Sohn von Simon Ottenheimer und dessen Frau Nanette geb. Wolf 1861 in Gemmingen geboren. Seine Frau Sara war 1870, ebenfalls in Gemmingen, geboren. Sie war seine Cousine, die Tochter seines Onkels Isaak und dessen Frau Babette geb. Löwenthal. Josef und Sara hatten zahlreiche Geschwister.

Kolonialwaren und Zigarrenhandel en gros

Josef hatte sich nach dem Schulbesuch zum Kaufmann ausbilden lassen. Seinen Militärdienst absolvierte er zwischen 1879 und 1880 im Train-Batallion 13 in Ludwigsburg. Er gründete gemeinsam mit Emil Ottenheimer ein «Kolonialwaren- und Zigarrengeschäft en gros», das er an verschiedenen Standorten in Ludwigsburg betrieb. Ab 1910 war der «Zigarrenhandel en gros» in der Bahnhofstraße 9 untergebracht. Josef Ottenheimers Familie und weitere Familien der Ottenheimerschen Verwandtschaft wohnten bis 1938 im Hinterhaus der Bahnhofstraße 9.
Wilhelm, Klara und Hilde, die Kinder Josef und Sara Ottenheimers, haben ihre Kinderzeit wohl hauptsächlich am Reithausplatz 3 erlebt, dem vorherigen Wohnort der Familie, denn Wilhelm wurde 1892, Klara 1895 und Hilde 1896 geboren.
Die beiden Töchter besuchten in Ludwigsburg die Mädchenrealschule, das heutige Goethe-Gymnasium. Klara arbeitete dann in der Firma ihres Vaters als Kontoristin, später war sie Prokuristin der Württembergischen Papierzentrale.
Hilde besuchte die Handelsschule und arbeitete als Bürogehilfin bevor sie mit dem Studium begann. Über ihr Leben wird im Anschluss noch berichtet.
Wilhelm starb als Kriegsteilnehmer, 26jährig, im Oktober 1918 im Feldlazarett von Aincreville. Er wurde in Aincreville beerdigt.
Josef Ottenheimer war ein angesehener Bürger der Stadt und aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde. Er war in mehreren Ehrenämtern tätig, so als Vorsteher des israelitischen Wohltätigkeitsvereins und als erster Vorsitzender des Gemeindevorsteheramts. Dem Ludwigsburger Kriegerverein gehörte er ebenfalls viele Jahre an.

Die Württembergische Papierzentrale

Den «Zigarrenhandel en gros» musste Josef Ottenheimer 1923 wegen der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse aufgeben. Es gelang ihm, zusammen mit Jakob Greilsamer, 1925 eine neue Firma zu gründen, die Württembergische Papierzentrale, Großhandel mit Packpapier und Papierwaren zu Verpackungszwecken.
In Jakob Greilsamer hatte Josef Ottenheimer einen erfahrenen Geschäftspartner gefunden. Er hatte als junger Mann mehrere Jahre für eine Karlsruher Importfirma in Algier gearbeitet. Geboren war er 1877 in Breisach. Seine Eltern waren David Greilsamer und Auguste geb. Bär. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde er von den Franzosen interniert und bis zum Ende des Kriegs im Lager festgehalten. Wo Jakob Greilsamer danach gelebt und gearbeitet hat, ist nicht bekannt. Sicher ist der Wohnort Mainz, von wo er nach Ludwigsburg anlässlich der Hochzeit mit Klara Greilsamer im März 1925 zuzog.
Ein Jahr später, am 26. Februar 1926, wurde Heinz Willy Greilsamer geboren, seit der Emigration umbenannt in Harry Grenville. Zwei Jahre darauf kam am 28. Juni 1928 Hannah zur Welt. Die Kinder besuchten die evangelische Volksschule in Ludwigsburg, mussten dann aber ab 1938 täglich nach Stuttgart zur jüdischen Schule fahren, weil ihnen, als jüdischen Kindern, der Besuch öffentlicher Schulen nicht mehr gestattet war.
Harry Grenville berichtet rückblickend, dass die Württembergische Papierzentrale bis zur Boykottierung der jüdischen Geschäfte im Jahr 1933 sehr gut lief. Sein Großvater und seine Mutter arbeiteten mit einem Gehilfen im Büro. Sein Vater bereiste ganz Württemberg und Baden, um Aufträge zu sammeln. Ab und zu durfte Heinz den Gehilfen August Veigel mit dem beladenen Schubkarren zum Güterbahnhof begleiten. «Das war jedes Mal ein Fest.»
Zuhause versorgte Großmutter Sara die Kinder und den Haushalt. Sie war eine ausgezeichnete Köchin. Besonders an seine Lieblingsspeisen Kartoffelsalat und Nudelsuppe erinnert sich ihr Enkel. Auch eine alte Ludwigsburgerin, die fast täglich bei Familie Greilsamer nach der Schule vorbei schaute und Spielkameradin von Hannah Greilsamer war, schwärmt noch heute vom guten Apfelkuchen der Großmutter. Zum großen, parkähnlichen «Bronners Garten» hatten die Kinder freien Zutritt zum Spielen. Er befand sich im Dreieck Bahnhof,- Mylius,- Schillerstraße.
1934 zog die Firma in das Hinterhaus der Myliusstraße 15 um. Noch vier Jahre konnte die Württembergische Papierzentrale von Josef Ottenheimer und Jakob Greilsamer betrieben werden, bevor die Naziherrschaft im Jahr 1938 allen noch in Ludwigsburg lebenden jüdischen Bürgern die berufliche Existenz zerstörte.

Emigration und Deportation

Die Württembergische Papierzentrale wurde im November 1938 «arisiert», also in deutschen Besitz gezwungen. Im Verlauf des Jahres 1938 waren die Großeltern Ottenheimer mit der Familie Greilsamer und der Familie des jüngsten Bruders der Großmutter, Albert Ottenheimer, in die Mathildenstraße 8, 1. Stock, umgezogen.

Albert Ottenheimers Söhne Hans (seit der Emigration Johnny) und Fritz (seit der Emigration Fred) waren für Heinz Greilsamer wie Brüder. Heinz Greilsamer/Harry Grenville erinnert sich an die Wohnverhältnisse: «Die Wohnung im 1. Stock war groß genug um alle 10 Personen unterzubringen, obwohl die einzelnen Zimmer etwas überfüllt waren.»

Hans Ottenheimer, geboren 1921, emigrierte nach der Gefangenschaft im KZ Dachau 1939 allein in die USA. Den Eltern und dem Bruder gelang die Emigration in die USA noch im August 1941. Hans/Johnny lebt heute hochbetagt in New York.

Als am 10. November 1938 die Synagoge in Ludwigsburg von Brandstiftern angezündet wurde, war der Rauch von der Wohnung in der Mathildenstraße aus zu sehen. Die bereits zitierte Ludwigsburgerin berichtete, dass sie von der Schule kommend weinend an der brennenden Synagoge gestanden habe. Dort traf sie auf Jakob Greilsamer. Er habe sie mit den Worten, es sei nicht gut, wenn man sie mit ihm sehen würde, weggeschickt.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln wurde für die jüdischen Familien durch Rationierungen und das Verbot in deutschen Geschäften einzukaufen, immer schwieriger. Auf eigene Gefahr war das Ehepaar Saenftl, das an der Ecke Mathilden-/Solitudestraße eine Kolonialwarenhandlung hatte, bereit, die Familien Greilsamer und Ottenheimer mit Lebensmitteln zu versorgen.

Im März 1939 fand die Bar-Mizwah-Feier von Heinz Greilsamer statt. Der israelitische Religionsoberlehrer Samuel Metzger brachte ihm den Torah-Auszug bei. Die Feier musste im Wohnzimmer der Familie Scheuer in der Seestraße stattfinden, da die Synagoge ja zerstört worden war. Zwei Monate nach Heinz Greilsamers Bar-Mizwah-Feier wanderte Samuel Metzger mit seiner Familie nach Kolumbien aus. Er war seit 1925 Vorsänger und Gemeindepfleger der jüdischen Gemeinde in Ludwigsburg gewesen.

Im Juni beziehungsweise Juli 1939 mussten Heinz und Hannah ihre Heimatstadt, ihre Eltern, Großeltern, Verwandte und Freunde verlassen. Heinz war 13 Jahre alt, Hannah stand kurz vor ihrem elften Geburtstag, als die Geschwister in getrennten Transporten zum Schulbesuch nach England gebracht wurden.

Heinz und Hannah wurden von einer englischen Familie in Cornwall aufgenommen. Aus Heinz wurde zuerst Henry, später Harry. Harry Grenville erinnert sich an die Zeit bei der Pflegefamilie als eine glückliche Zeit. Obwohl die Geschwister sehr unter der Trennung von den Eltern litten, war ihnen bewusst, dass es ihnen besser ging als anderen Flüchtlingskindern.

Die Juden wurden durch die Nationalsozialisten immer mehr schikaniert und durch Entziehung ihres Wohnraums, Einweisung in die Judenhäuser oder Altenheime «zusammengetrieben». Großvater Josef Ottenheimer entging der Deportation durch seinen Tod am 19. Februar 1940. Ein jahrelanges Nierenleiden hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Er wurde auf dem neuen israelitischen Friedhof in Ludwigsburg bestattet.

Im Zuge der Einweisung älterer jüdischer Menschen in Altenheime musste Sara Ottenheimer 1941 nach Dellmensingen übersiedeln.

Jakob und Klara Greilsamer zogen im Juni 1941 von der Mathildenstraße 8 in die Marstallstraße 4 in das Haus von Max Elsas um. Vermutlich mussten sie die Wohnung in der Mathildenstraße zwangsweise verlassen. Im Dezember 1941 erfolgte die Einweisung in das Stuttgarter «Judenhaus» in der Blumenstraße 2.

Am 22. August 1942 wurden Jakob und Klara Greilsamer vom Stuttgarter Nordbahnhof aus nach Theresienstadt deportiert. Auch Sara Ottenheimer wurde gezwungen, an diesem Transport teilzunehmen.

Sara Ottenheimer ist am 19. Oktober 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet worden.

Jakob und Klara Greilsamer sind am 28. Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht worden und sind ebenfalls dort umgekommen.

Auf der großen Gedenktafel der Gedenkstätte am Stuttgarter Nordbahnhof sind auf der langen Liste der Deportierten auch die Namen von Sara Ottenheimer, Heinz und Klara Greilsamer eingraviert.

Zur Stolperstein-Verlegung am 7. Oktober 2009 wurde Harry Grenville von seiner Tochter Jane, der Schwiegertochter Maureen, der Enkelin Anna und den Söhnen Andrew und John begleitet.

Die Begegnung mit Familie Grenville hat bei uns, den Mitgliedern der Stolperstein-Initiative Ludwigsburg, einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Harry Grenville und seine Familie haben uns die Hand zur Aussöhnung gereicht.

Harry Grenville unterrichtet Schülerinnen und Schüler in England über die politischen Zusammenhänge des Nationalsozialismus und über die Geschichte seiner Familie. Einen Text hierzu hat er uns zur Verfügung gestellt; Sie finden ihn hier.

Gudrun Karstedt

Fotomontage oben: Gebäude Mathildenstraße 8 im Jahr 2004, Foto Jakob und Klara Greilsamer mit Sohn Heinz aus Familienbesitz Harry Grenville

Ein Foto aus Auschwitz – Hier finden Sie die Geschichte, wie Harry Grenville Gewissheit über den Todesort seiner Familie bekam…

Karl Essig

Ermordet wegen einer Erkrankung

Friedrichstraße 35

Karl Essig wurde am 16. September 1887 in Ludwigsburg geboren. Sein Vater (geboren 1855) hieß ebenfalls Karl Essig und war Notariatsdiener mit Geburtsort Benningen, die Mutter Margarete Essig, geborene Scharpf, war 1860 in Eybach im Oberamt Geislingen zur Welt gekommen. Das evangelische Ehepaar hatte noch einen weiteren Sohn, den vier Jahre jüngeren Friedrich Wilhelm.
Seit 1909 wohnte die im Jahr zuvor verwitwete Mutter als Eigentümerin in der Friedrichstr. 35 – dies war somit auch der Wohnsitz des Sohnes Karl, bevor er in die Anstalt kam.
Karl erkrankte mit sechs Jahren an Scharlach, mit 14 Jahren sei er „schnell hochgeschossen“, später wird in der Anstalt seine Größe mit 187 Zentimeter und das Gewicht mit 65 Kilogramm angegeben.
Er besucht die Realschule, wo er „immer still für sich“ war. Mit 22 Jahren besteht er die Prüfung zum Notariatsassistenten. Das ärztliche Zeugnis vermerkt, dass er sich viel mit Hypnose beschäftigt und wenig Umgang gehabt habe.
Im November 1911 erkrankt er, man stellt bei dem 24jährigen Erregungszustände, Verfolgungsideen und Sinnestäuschungen fest. Er versucht zweimal, aus dem Fenster zu springen. Vom Dezember 1911 bis Juli 1912 ist er zweimal für einige Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt Weinsberg. Die Diagnose aus dieser Zeit lautet „Demenzparanoiker“.
Am 18. August 1913 kommt er von der Krankenanstalt Ludwigsburg in die Heilanstalt Christophbad bei Göppingen, von da wird er am 16. August 1920 auf Wunsch der Angehörigen nach Winnental verlegt.
Vier Tage nach seiner Einweisung schreibt er an die Mutter: „Bin von Christophbad Göppingen hieher gekommen (…) Ich habe immer den schrecklichen Gesundheitszustand zu Beginn meiner Krankheit Oktober 1911. Gesund werden ist ausgeschlossen.“
Der Austritt erfolgt am 30. Juni 1921 als „gebessert“. Zur vorherigen Diagnose kommt Katatonie hinzu (also Schizophrenie mit Krampfzuständen).
Zehn Jahre später, am 9. Oktober 1931 wird Karl Essig auf Ansuchen der Angehörigen erneut in Weinsberg aufgenommen. Fast neun Jahre lang bleibt er dort. Am 21. Juni 1940 wird er mit dem Eintrag „ungeheilt“ und dem Vermerk „verlegt“ aus der Patientenliste gestrichen. Am gleichen Tag werden 65 Menschen ohne Angabe des Zielortes „verlegt“.
Die Einwohnerkarte in Ludwigsburg endet mit dem Eintrag: Gestorben am 18. Juli 1940 in „Sonnenstein“ – in Schloss Sonnenstein in Pirna nahe Dresden war eine der Ermordungsanstalten der Nazis. Doch dieses bis heute offiziell vermerkte Datum ist mit großer Sicherheit ebenso wie der angegebene Ort falsch. Fachleute für Krankenmorde aus der Stuttgarter Stolperstein-Initiative wiesen uns darauf hin, dass der Transport, der am 21. Juni Weinsberg verließ, nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb führte und dass die dorthin gezwungenen Menschen noch am selben Tag dort ermordet wurden.
Um ihre Morde zu verschleiern, verschickten die NS-Täter und ihre Handlanger/innen die gefälschten Sterbedaten und -orte sowie falsche Todesursachen. Dass in den Akten der Einwohnermeldeämter beziehungsweise der örtlichen Archive die von Kriminellen manipulierten Daten immer noch offiziell zu sehen sind, könnte nur auf zwei Weisen behoben werden: Für jede Person müsste ein einzelner richterlicher Beschluss vorliegen – oder der Bundestag müsste die Korrektur durch ein Gesetz veranlassen. Da die Opfer von Krankenmorden nach wie vor keine große politische Lobby haben, ist dies bisher nicht geschehen. Und so passieren Fehler wie auf dem Stolperstein für Karl Essig: Hier stehen falsche Daten zu seinem Tod aus einer offiziellen Quelle. Zumindest an dieser Stelle berichtigen wir sie mit diesem Bericht.

Zahlungspflichtig für die Unterbringung von Karl Essig in Weinsberg war übrigens seine Mutter. Margarete Essig wurden beispielsweise für die letzten 81 Tage des Lebens ihres Sohnes in der Anstalt Weinsberg 234,09 Reichsmark berechnet. Im März 1943 starb sie in Ludwigsburg.

Christian Rehmenklau, Jochen Faber

Max Elsas

Ein Ehrenmann wird ausgestoßen

Marstallstraße 4

Die Biografie von Max Elsas steht als Beispiel dafür, dass es im 20. Jahrhundert möglich war, einen Menschen von höchstem Ansehen durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik bis zur physischen Vernichtung zu bringen.

Max Elsas wurde am 10. März 1858 als dritter Sohn des Benedikt und der Rebekka Elsas in Ludwigsburg geboren. Er wuchs mit seinen Brüdern Oskar, Adolf, Louis und der Schwester Sidonie im Haus Marstallstraße 4 auf. Max besuchte nach der Elementarschule das Realgymnasium in Ludwigsburg und verließ diese Schule mit dem so genannten «Einjährigen», was der Mittleren Reife entsprach. Der Vater hat dem Sohn anschließend eine Ausbildung zum Textilfachmann am Technikum für Textilindustrie in Reutlingen ermöglicht. Eine kaufmännische Ausbildung schloss sich dem allem an, und Max Elsas leitete viele Jahre lang die Bunttuchweberei Elsas & Söhne GmbH, bis zur «Arisierung» der Firma 1938.

Der zierliche Mann mit seinem schwarzen, später silbergrauen Bart wirkte vertrauenserweckend. Jeder in der Stadt wusste, dass Max Elsas es ehrlich meint und niemanden übervorteilen würde. Max Elsas praktizierte das Ethos eines emanzipierten Juden, der edel und tadelsfrei leben will.

Der engagierte Lokalpolitiker und Unternehmer hat sich für das Gemeinwesen der Stadt Ludwigsburg eingesetzt. 1882 trat er der Feuerwehr bei. Von 1905 bis 1908 war er Mitglied des Bürgerausschusses, wurde als Mitglied der Demokratischen Partei in den Stadtrat übernommen und wenige Jahre später zum Stellvertreter des Oberbürgermeisters ernannt.

Er war Handelsschulrat, also Mitglied des leitenden Gremiums dieser Institution, auch Ausschussmitglied des Verbandes Württembergischer Industrieller und Schatzmeister des Industrieverbands Ludwigsburg. Er wurde in die Handelskammer gewählt und war Ausschussmitglied des württembergischen Industrie- und Handelstags. Er wurde in den Ausschuss der Versicherungsanstalt Württemberg und in den der Allgemeinen Ortskrankenkasse Ludwigsburg gewählt und war Vorstandsmitglied des Versicherungsamts in Ludwigsburg. Auch hatte er das Amt eines Schatzmeisters des Vereins «Neckar-Donau-Kanal», des so genannten «Kanal-Vereins» inne. Viele Jahre arbeitete er in den Steuerausschüssen des Finanzamtes mit.

Um ihrer Verdienste im Rahmen des Bürgervereins Untere Stadt willen wurden die Brüder Oskar, Adolf, Max und Louis Elsas 1929 zu Ehrenmitgliedern dieses Vereins ernannt. Zum 70. Geburtstag im Jahr 1928 wurde Max Elsas ehrend in der Zeitung erwähnt. Dagegen findet man am 10. März 1933, dem 75. Geburtstag, 40 Tage nach der so genannten «Machtergreifung» der Nationalsozialisten, kein Wort mehr über Max Elsas in der Presse.

Am 3. April desselben Jahres aber war in der Ludwigsburger Zeitung zu lesen: Rücktritt des Fabrikanten Max Elsas aus allen öffentlichen Ämtern. Er wurde wie alle jüdische Bürger systematisch isoliert. Der frühere sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Wilhelm Keil berichtete: «Ich war Augenzeuge, wie der Greis gebeugt ein Lebensmittelgeschäft mit höflichem Gruß betrat. Man nahm keine Notiz von ihm, erwiderte seinen Gruß nicht und bediente ihn nicht. Zerknirscht schlich er davon.»

Am 10. November 1938, als die Synagoge auch in Ludwigsburg niedergebrannt worden war, wurde der 80jährige Max Elsas in seiner Wohnung verhaftet und ins Gefängnis «Blockhaus» an der Schorndorfer Straße gebracht. Als der Sohn Dr. Ludwig Elsas von dem Vorgang erfuhr, stellte er sich für den Vater, der daraufhin auf freien Fuß gesetzt wurde. Aber der Sohn blieb in Haft und wurde ins KZ Welzheim gebracht.

Bis zum Jahresende 1938 wurde die Firma «arisiert». Die Familie Elsas hatte von nun an kein Einkommen mehr und wusste, wann sie vor dem Nichts stehen würde. Besonders stark belastete die Situation seinen Sohn Bernhard Elsas, der sich von nun an in ärztlicher Behandlung befand. Als Bernhard Elsas, seiner Frau und ihren Kindern in letzter Sekunde im Jahr 1941 die Auswanderung nach Amerika gelang, schaute Max Elsas hinter den Gardinen hervor, dem von der Marstallstraße abfahrenden Taxi nach. Da seine Frau Ida Elsas, geb. Fellheimer, am 7. April 1939 verstorben war, fristete Max Elsas von nun an ein Dasein in völliger Isolation.

Als sich die Nationalsozialisten dazu entschlossen, die Städte und Dörfer «judenfrei» zu machen, wurde auch Max Elsas am 2. Dezember 1941 in das Zwangsaltenheim für Juden in Eschenau, in der Nähe von Heilbronn, eingewiesen und von dort aus am 22. August 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert. Dort ist Max Elsas am 30. September 1942 an Entkräftung und Krankheit gestorben.

 

Dr. Albert Sting / Martina Kütterer

Fotomontage oben: Gebäude Marstallstraße 4 im Jahr 2009, Portrait Max Elsas (Stadtarchiv Ludwigsburg)

Julius, Paula und Werner Dreyfus

Ermordet in Riga

Friedrichstraße 94

Familie

Der Kaufmann Julius Dreyfus (geboren wurde er als Isidor, die Änderung des Vornamens ist 1927 beurkundet) lebte mit seiner Familie unter verschiedenen Adressen in der Stadt. Bereits 1894 war er nach dem Tod des Vaters zusammen mit seiner Mutter und Geschwistern nach Ludwigsburg gekommen. 1920 heiratete er seine Frau Paula, der ältere Sohn Herbert wurde 1922 geboren. Unter anderem besuchte dieser die Oberrealschule, die Vorläuferschule des heutigen Mörike-Gymnasiums. 1935 kam Werner zur Welt. Beurkundete Wohnadressen sind die Mathildenstraße, die Kurfürstenstraße, das Trompetergässle und seit 1937 die damalige Hermann-Göring-Straße (heute: Friedrichstraße). Von dort, Hausnummer 54, zog die Familie im November 1939 nach Stuttgart-West in die Hermannstraße 11. Julius Dreyfus verlor 1938 im Zuge der Arisierung seine Arbeitsstelle, die Bedrohung nahm zu.

Wachsender Druck

Die Familie bemühte sich um Auswanderung, auch der Wegzug aus Ludwigsburg scheint dem stetig wachsenden Druck der Nazis geschuldet. Stuttgart wurde offensichtlich als bessere Ausgangsbasis eingeschätzt. Aus Akten des Landesamts für Wiedergutmachung Stuttgart geht hervor, dass der letzte Wohnsitz dann ab Ende Mai 1940 in der Reinsburgstr. 107 war, von wo auch später die Deportation erfolgte.
Bei dieser Adresse handelte es sich um ein sog. „Judenhaus“, der Vorstufe der Gettoisierung. Nach der Einweisung war der anfangs noch vierköpfigen Familie nur noch ein Zimmer verblieben, so wie es bei diesen Zwangseinweisungen gang und gäbe war. Frau Marie Falkson beschreibt als Zeugin im späteren Verfahren die extrem beengten und bedrückenden Verhältnisse.

Letzter Ausweg – Emigration

Familie Dreyfus hatte schon nach der Pogromnacht im November 1938 die Absicht bekundet auf jeden Fall auszuwandern. Noch zu Ludwigsburger Zeiten belegt der Schriftverkehr mit der Spedition Barr, Moehring & Co in Stuttgart, dass Julius Dreyfus mehrere Anträge parallel laufen hatte. Die Ausreise nach Bolivien scheiterte am Bescheid vom Mai 1939, dass „ganz Südamerika gesperrt sei“ und sich die Auswanderung „nunmehr nach Palästina vollziehen“ würde. Am 22. August 1939 schreibt Julius Dreyfus aber an die Spedition, dass seine „Auswanderer-Angelegenheit vollständig geklärt“ sei und er die Einreisegenehmigung für Chile habe. Allerdings seien seine „Mittel eingeschränkt“ und der Umzug „so billig wie nur möglich“ zu kalkulieren. Die Tatsache, dass Umzugsgut bereits 1939 über Genua nach Valparaiso verschifft und die Kosten für die „Auswanderung“ gezahlt worden waren zeigt die Ernsthaftigkeit und empfundene Dringlichkeit dieser Pläne. Möbel und andere Gebrauchsgegenstände sind für die Passage sorgfältig aufgelistet, in Kisten (Lifts) sortiert und die Kosten berechnet. Der amtliche, öffentliche und psychische Druck wuchs stetig an, aber offenkundig gelang es nicht, die bürokratischen Hürden der Naziverwaltung, die Restriktionen der möglichen Aufnahmeländer und weitere Hemmnisse zu überwinden. Die Eltern und der kleine Werner mussten bleiben und warten. Die genauen Hintergründe liegen im Dunkeln.

Lediglich der 19-jährige Herbert schaffte im April 1941 die Auswanderung, zu der er sich bereits nach seiner Inhaftierung in Welzheim 1939 verpflichten musste.

1. Dezember 1941: Auftakt der Deportationen aus Württemberg und Hohenzollern

Am 1. Dezember 1941, verließ der erste Deportationszug den Stuttgarter Nordbahnhof. An jenem Tag begann für die Juden in Württemberg und Hohenzollern der Holocaust. Zielort des ersten Transports war Riga in Lettland. Dem Transport folgten elf weitere. Im Februar 1945 fuhr der letzte Deportationszug vom Stuttgarter Hauptbahnhof ab. Insgesamt wurden etwa 2500 Männer, Frauen und Kinder aus Württemberg und Hohenzollern verschleppt. Nur die wenigsten von ihnen überlebten die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. 180 Personen kehrten zurück.
Aus über fünfzig Orten in Württemberg und Hohenzollern wurden die jüdischen Bürger deportiert – und dafür zunächst zum Sammelplatz auf dem Stuttgarter Killesberg verbracht. Die ersten „Zuführungen“ aus diesen Orten begannen bereits in den letzten Novembertagen 1941. Die Deportationen der badischen Juden in das Internierungslager Gurs in den Pyrenäen hatten bereits im Jahr zuvor, im Oktober 1940 begonnen.
Auf den Transportlisten finden sich auch die Namen von Julius, Paula und Werner Dreyfus.
»Killesberg! Diese Nacht des Wahnsinns und des Grauens bleibt mir unvergessen.« So beschreibt eine Frau aus Ulm den Aufenthalt im Durchgangslager auf dem Stuttgarter Killesberg. Dorthin werden am 27. November 1941 ungefähr eintausend Menschen jüdischer Abstammung aus ganz Württemberg und Hohenzollern gebracht. In der so genannten »Ehrenhalle des Reichsnährstandes«, die für die Reichsgartenschau 1939 errichtet worden ist, werden sie untergebracht. Sie werden die ersten Opfer von insgesamt mehr als 2500 jüdischen Mitbürgern, die über das Durchgangslager auf dem Killesberg in die Sammel- und Konzentrationslager Riga, Iżbica, Auschwitz, Buchenwald, ins Ghetto Theresienstadt und in ein Lager bei Wolfenbüttel deportiert werden. Die meisten von ihnen kehren nie zurück.
Grundlage der ersten Deportation aus Stuttgart am 1. Dezember 1941 nach Riga ist der Erlass der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Stuttgart an die Landräte und Polizeiinspektoren vom 18. November 1941. »Im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung«, die mit ähnlichen Erfassungen in Mähren, Böhmen, der Ostmark und anderen Gebieten des Altreichs bereits eingesetzt hatte, werden rund tausend jüdische Mitbürger aus Württemberg für einen Deportationszug ausgewählt und auf dem Killesberg »konzentriert«.


Vorbereitung, Auswahl und Zusammenstellung des Transports werden der »Jüdischen Kultusvereinigung Württemberg« aufgeladen. Die Kultusvereinigung hat die Teilnehmer des Transports zu benachrichtigen und einzuberufen. Der Erlass bestimmt detailliert, wie viel und welches Gepäck mitgenommen werden darf: Es ist nicht viel mehr als das Nötigste an Decken und Kleidern sowie ein »Mundvorrat« und fünfzig Reichsmark. Die Mitnahme von Schmuck und Wertgegenständen ist verboten, lediglich Eheringe sind ausgenommen. Die Betroffenen müssen die Kosten für den Transport selbst tragen und zu diesem Zweck insgesamt 57,65 Reichsmark pro Person bezahlen. Am 26. November wird mit der Sammlung der Angeschriebenen auf dem Killesberg begonnen, wo sie unter völlig unzulänglichen Bedingungen einige Tage verbringen müssen. »Von überallher kamen württembergische Juden in dieses Sammellager, und es herrschte ein unbeschreibliches Elend« (Victor Marx).Die Stuttgarter Stadtverwaltung lässt einen Film über das Sammellager drehen, in dem die drangvolle Enge in der Halle auf dem Killesberg unübersehbar ist. Doch um den Eindruck einer wohlgeordneten Auswanderung zu erwecken, werden Verpflegungspakete ins Bild gerückt und Gepäckstücke gezeigt, die ihre Besitzer jedoch nie wieder sehen sollten. Diese erste Deportation ist noch als »Umsiedlung« getarnt, daher sind Bau- und Küchengeräte sowie Sanitätszeug zur Mitnahme vorgesehen. Auch sind in deutsch-jüdischen Mischehen lebende, über Fünfundsechzigjährige und Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit vom Transport ausgenommen.

KZ Jungfernhof

Das Konzentrationslager Jungfernhof war ein temporäres, behelfsmäßiges Konzentrationslager im Dorf Jumpravmuiža, etwa drei bis vier Kilometer von Riga entfernt, nahe der Bahnstation Šķirotava. Das Lager bestand vom 3. Dezember 1941 bis März 1942 und diente zur vorübergehenden Unterbringung von Juden aus Deutschland und Österreich, deren Transportzüge ursprünglich Minsk zum Ziel hatten. Es wird teilweise auch Vernichtungsstätte oder Vernichtungslager Jungfernhof genannt.
Ein Überlebender schrieb über die Unterkunft: „Es gab keine Türen und keinen Ofen, die Fenster waren offen, das Dach war auch nicht in Ordnung. Es waren 45 Grad Kälte und der Schnee fegte durch die Scheune.“
Rund 800 der Gefangenen starben im Winter 1941/42 an Hunger, Kälte, Typhus und anderen Krankheiten. Die täglich anfallenden 20 bis 30 Leichen konnten wegen des gefrorenen Bodens nicht beerdigt werden. Dies war nach einiger Zeit erst möglich, als ein SS-Mann zwei Löcher in den Boden auf dem Feld sprengte. Die Behauptung einer Zeitzeugin, dort seien auch Gaswagen zum Einsatz gekommen, ist nicht weiter belegt und gilt als unwahrscheinlich.
Im März 1942 wurde das Lager aufgelöst. Unter einem Vorwand, sie kämen in ein – tatsächlich nicht existierendes – Lager in Dünamünde, wo es bessere Unterkünfte und eine Arbeitsmöglichkeit in einer Konservenfabrik gebe, wurden zwischen 1600 und 1700 Insassen während der Aktion Dünamünde mit Lastwagen in den nahe gelegenen Wald von Biķernieki gebracht. Dort wurden sie (wie zuvor schon Juden aus dem Ghetto von Riga) am 26. März 1942 erschossen und in Massengräbern verscharrt. Viktor Marx aus Württemberg, dessen Frau Marga und Tochter Ruth erschossen wurden, berichtete: „Im Lager wurde uns gesagt, dass alle Frauen und Kinder vom Jungfernhof wegkämen, und zwar nach Dünamünde. Dort seien Krankenhäuser, Schulen und massiv gebaute Steinhäuser, wo sie wohnen könnten. Ich bat den Kommandanten, auch mich nach Dünamünde zu verschicken, was er jedoch ablehnte, weil ich ein zu guter Arbeiter sei.“
450 Insassen wurden zurückbehalten und einem Arbeitskommando zugeteilt. Sie sollten die Spuren des Lagers verwischen und es wieder als Bauernhof tarnen. Dieses Arbeitskommando bestand noch ein Jahr. Wer überlebte, wurde dem Rigaer Ghetto zugeführt, das bis November 1943 bestand.

Herbert Dreyfus – ein Überlebender

Herbert erreicht im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern die Auswanderung. Er gelangt ab April 1941 über Spanien und Kuba in die USA und lebt später seit Beginn der 50-er-Jahre mit Frau und zwei Kindern als US-Bürger in Mexiko. 1968 gelingt es Beate Maria Schüßler im Rahmen ihrer Recherchen zu „Das Schicksal der jüdischen Bürger von Ludwigsburg…“ mit ihm in Briefkontakt zu treten. Einzelheiten zum Familienschicksal möchte Herbert Dreyfus aber offenkundig nicht preisgeben, „…denn sonst müsste ich ein Buch schreiben.“ In seinem Brief spricht er von Auschwitz als Todesort von Eltern und Bruder, obwohl die Deportation nach Riga bereits aktenkundig war. Herbert Dreyfus verdrängte wohl. Er kam nie wieder nach Deutschland zurück. Seine Interessen in den folgenden Verfahren werden ausschließlich von einer Anwaltskanzlei vertreten.

Wiedergutmachung/Entschädigung:

Herbert Dreyfus hatte Ende 1948 Rückerstattungsansprüche angemeldet.
1950 – 1956 erste Akten wegen Rückerstattung.
Im Mai 1962 ergeht ein Bescheid der OFD Stuttgart wegen Entziehung von Bankguthaben, Wertpapieren und Hausrat bzw. Wertsachen.
Im weiteren Verlauf des Jahres 1962 werden Bescheide erlassen für Entschädigungen zu Abgaben, Vermögenswerte, Transportkosten u.ä., das gesamte Verfahren wird erst 1972 abgeschlossen.
Otto Lechner

Quellen:
Joachim Hahn, Jüdisches Leben in Ludwigsburg, Karlsruhe 1998
Stadtarchiv Ludwigsburg
Staatsarchiv Ludwigsburg
Dokumentation „Zeichen der Erinnerung“ der Stiftung „GEISSTRASSESIEBEN“ Stuttgart
Portrait-Fotos: Stadtarchiv Ludwigsburg

Ruth Dieterich

Mit neun Jahren ermordet in Grafeneck

Kammererstraße 15

Aus den Akten der Anstalt Weinsberg und der Einwohnerakte der Stadt Ludwigsburg lässt sich Ruth Dieterichs Leben in groben Zügen nachvollziehen:
Am 6. Oktober 1931 wurde sie in Stuttgart geboren und dann evangelisch getauft. Ihre Eltern waren der Gipser Ernst Dieterich aus Oßweil (geboren 1899) und die Hausfrau Helene Dieterich, geborene Schmied (ebenfalls 1899 geboren). 1928 hatten die Eltern geheiratet. Die Einwohnerakten verzeichnen nur ein Kind: Annerose, geboren am 24. Juli 1939 in Stuttgart. Ihre ältere Schwester Ruth ist in den Meldeakten nicht aufgeführt.
Die Akten halten fest, dass Ruth mit sechs Jahren vom Gesundheitsamt Ludwigsburg der Diakonissenanstalt Schwäbisch Hall zugewiesen wurde. Die Diagnose lautete „Idiotie“, es ist vermerkt, dass in der Familie sonst keine Erkrankungen aufgetreten waren.
Ruth hatte mit einem Jahr gehen gelernt, mit 13 Monaten konnte sie einzelne Worte sprechen. Sie erkrankte an Masern und 1932 verbrühte sie sich mit kochendem Wasser am Kopf und zog sich dabei schwere Verletzungen zu. 1938 erkrankte sie an Scharlach. Die Akte vermerkt wörtlich: „Das Kind ist im ganzen gutmütig, muss völlig verpflegt werden.“
Am 20. November 1940 kam Ruth von Schwäbisch Hall in die Heil- und Pflegeanstalt Weinsberg. Dort ist als Datum für den „Austritt“ der 4. Dezember 1940 angegeben – mit dem Vermerk „ungeheilt“. Wohin sie kam, ist den dortigen Akten nicht zu entnehmen, es gibt nur den Eintrag „verlegt“ (zusammen mit 72 anderen Personen).
Der Name von Ruth Helene Berta Dieterich befindet sich im Namensbuch der Gedenkstätte Grafeneck. „Wir gehen davon aus, dass sie in Grafeneck am 4. Dezember 1940 ermordet wurde“, so die aus trauriger Erfahrung resultierende Auskunft der Gedenkstätte an diesem Ort von über 10.000 Krankenmorden.

Christian Rehmenklau

Ruth und ihr Bruder Rolf in der Kammererstraße

Wilhelm Breier

Der verlassene Bruder Breier

Auf der Karlshöhe 3

das zweite von sieben Kindern einer evangelischen Familie aus Geislingen an der Steige. Der Vater war Kontorist in der Metallwarenfabrik – und Wilhelm hoffte, das Richtige zu tun, wenn auch er in der vertrauten WMF anfängt: Er lernte Maschinenschlosser und hoffte auf gute Arbeit bei einer Firma in Ludwigsburg – doch die ging 1922 pleite, Arbeitslosigkeit und Schlosserarbeit wechselten sich eine Zeitlang ab.

Ein preiswertes Quartier fand Wilhelm Breier auf der Karlshöhe in Ludwigsburg. Der Christliche Verein Junger Männer (CVJM) gab ihm neue Hoffnung – mit 24 Jahren schrieb er an den Direktor der Karlshöhe: „Meinem langjährigen Wunsche entsprechend für die viele Liebe und gütige Führung an Hand unseres Herrn und Heilands wäre ich nach reiflicher Überlegung bereit, meine folgenden Jahre ganz in den Dienst der inneren Mission zu stellen.“ Und sein Vertrauen wurde belohnt: Im April 1927 begann er seine Ausbildung als Diakon, arbeitete als „Aufseher“ und „Krankenpfleger“ in verschiedenen Einrichtungen und wurde 1932 zum Diakon eingesegnet.

Voller Hoffnung freute Wilhelm Breier sich auf die nächste große Veränderung in seinem Leben: Er verlobte sich mit der Pfarrhaushaltshilfe Ida Keller. Doch die Jahre waren schon überschattet: Es gab Konflikte in seinen befristeten Arbeitsstellen (beliebt bei den „schwerbeschädigten Gästen“, gegenüber einer Krankenschwester und gegenüber Vorgesetzten „ein eigensinniger Dickkopf“, der sich Weisungen widersetzte und immer wirrer wirkende Briefe an den Direktor schrieb). Einen feste Anstelllung gab es nicht für Wilhelm Breier, und so sah er sich auch nicht in der Lage zu heiraten.

Im Dezember 1935 erlitt der 33-jährige einen Nervenzusammenbruch, bekam Depression und Psychose diagnostiziert und geriet in das immer stärker von Nazi-Ideologie durchzogene deutsche Psychiatrie-System. Im März 1936 bat das Amtsgericht Geislingen („Streng geheim!“) den Karlshöhe-Direktor Fritz Mößner „in der Erbgesundheitssache des Wilhelm Breier […] um Mitteilung der dortigen Unterlagen bzw. Beobachtungen. Der Antrag auf Unfruchtbarmachung beruht auf der Diagnose Schizophrenie.“ Der Karlshöhe-Direktor antwortete, er habe „große Sorge, ob nicht der geistige Zustand dauernd geschädigt bleiben wird. Ich habe ihn ermahnt, sich dem Gesetz zu beugen unter Hinweis darauf, dass er es doch etwaigen Nachkommen ersparen möge, dass sie dieselben Krankheitszustände durchmachen müssen wie er selbst.“

Wilhelm Breier, der verzweifelt gegen die drohende Sterilisierung anschrieb, kam in die Tübinger Psychiatrie. Vom Juni 1936 an waren all seine Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit und Würde enttäuscht. Fünf Jahre verschwand der junge Diakon in der „Heilanstalt Weißenau“ in der Nähe von Ravensburg. Im Frühjahr 1941 dann zeigte sich, dass er allen Schutz längst verloren hatte: Als die Nazis sich daran machten, Menschen massenweise zu ermorden, die sie für seelisch oder geistig krank hielten, wurde Wilhelm Breier in die „Heilanstalt Hadamar“ bei Limburg in Hessen transportiert. In dieser Ermordungsanstalt wurde der einst so hoffnungsvolle Mann am 21. April 1941 getötet, kurz nach seinem 39. Geburtstag.

Am 10. Mai 1941 erhielt Direktor Mößner die Nachricht von Wilhelm Breiers Tod durch die Versorgungskasse Berlin. Er notierte in Anführungszeichen, was als Todesursache angegeben worden war: „Septische Angina“. In Verwaltungs- und Brüderrats-Protokollen wurde der Tod des Diakons und „Bruders“ nicht einmal erwähnt.

Wo ein Stolperstein an einen Menschen erinnert, orientiert sich im Normalfall an seinem letzten „freiwillig gewählten Wohnort“. Wilhelm Breiers Meldeadresse änderte sich immer wieder durch die Arbeitsplätze, die er vorübergehend in diakonischen Einrichtungen hatte. Die längste Zeit seines Berufslebens war er auf der Karlshöhe gemeldet; zuletzt zog er von dort auf den Rabenhof bei Ellwangen. In der Abwägung, wo ein Stolperstein am passendsten aufgehoben wäre, gab den Ausschlag, dass Wilhelm Breier sich als Diakon wie beschrieben in den Dienst der „inneren Mission“ gestellt hatte, und dass das Brüderhaus der Karlshöhe das Zentrum dieser Aufgabe war. Darum wurde der Stolperstein „Auf der Karlshöhe 3“ verlegt – zwischen dem Haupthaus der Verwaltung und dem älteren der Hochschulgebäude, mit Blick direkt aufs Brüderhaus.

Bei der Verlegung des Stolpersteins beklagte Dekan Frieder Grau, der heutige Direktor, die wortwörtliche „Unbeholfenheit“ der früheren Diakone im Umgang mit ihrem Bruder Willhelm Breier – was auch immer unterstützend für ihn unternommen worden war, es reichte nicht im Geringsten, ihn zu schützen. Die Klugheit, mit der Direktor Mößner die Bewohner des Männerheims vor der Verfolgung des Nazi-Terrors schützte und lebend durch diese Zeit brachte, hatte für Wilhelm Breier keine Hilfe gebracht.

Jochen Faber